Angesichts des Rückzuges der CDU-Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer wirft Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen einen Blick auf die Praxis der Kanzlerkandidatur. 2021 ist die Kanzlerkandidatur nicht nur das höchste Ehrenamt für die Opposition, sondern auch erstmalig für die derzeitigen Regierungsparteien. Wie gestaltete sich die Praxis der Kanzlerkandidatur in der Vergangenheit und wie gestaltet sich die derzeitige Ausgangslage?
Die Kanzlerkandidatur ist das höchste Ehrenamt, das die parlamentarische Opposition zu vergeben hat. Das galt bislang. Die Bundestagswahlen 2021 avancieren jedoch zum historischen Unikat. Erstmals in der Geschichte der Kanzlerschaften tritt kein Titelverteidiger an. Die amtierende Kanzlerin Merkel hat frühzeitig sowohl auf eine Kandidatur als auch auf ein mögliches Bundestagsmandat verzichtet. So ein Machtverzicht ist einmalig und außergewöhnlich.
Kanzlerkandidaturen in Deutschland
Autor
Prof. Dr. Karl‐Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg‐Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg‐Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‐, Parteien‐ und Wahlforschung.
Die Kanzlerkandidatur ist das höchste Ehrenamt, das die parlamentarische Opposition zu vergeben hat. Das galt bislang. Die Bundestagswahlen 2021 avancieren jedoch zum historischen Unikat. Erstmals in der Geschichte der Kanzlerschaften tritt kein Titelverteidiger an. Die amtierende Kanzlerin Merkel hat frühzeitig sowohl auf eine Kandidatur als auch auf ein mögliches Bundestagsmandat verzichtet. So ein Machtverzicht ist einmalig und außergewöhnlich. Er kam nicht ganz freiwillig nach den desaströsen Wahlergebnissen in Wiesbaden und München zustande. Aus dem Merkel-Malus für die CDU sollte durch den Verzicht ein Merkel-Bonus für die gesamte Union werden. Der Plan war voller Zuversicht: Merkel agiert befreit vom Parteiamt als weltweit anerkannte Kanzlerpräsidentin. Sie hat das selbstbestimmte Potential, würdevoll bedeutungslos zu werden, was bislang keinem ihrer Vorgänger gelungen ist. Sie wurden alle abgewählt oder vorzeitig ausgetauscht. Gleichwohl, die Machtteilung von Kanzleramt und Parteivorsitz war historisch voller Makel. Merkel ahnte es und machte es auch öffentlich zum Thema. Insofern hat sie Recht behalten. Die Machtteilung hat sich erneut nicht bewährt. Die vorzeitige Aufgabe von Kramp-Karrenbauer als Parteivorsitzende hat viele Ursachen, zu denen auch die Aufteilung von Machtämtern gehört, die aus Gründen der Steuerungsdramaturgie zusammengehören. Kramp-Karrenbauer ist somit eine Managerin des Übergangs. Das ist nach sehr langen Regentschaften nicht unüblich. So könnte man die Rolle von Schäuble nach Kohl und jetzt von Kramp-Karrenbauer nach Merkel einordnen.
Die Kanzlerkandidatur ist unter diesen Voraussetzungen für die Bundestagswahl 2021 nicht nur das höchste Ehrenamt für die Opposition, sondern auch erstmalig für die derzeitigen Regierungsparteien. Die Kanzlerkandidatur bedeutet zugespitzte Aufmerksamkeit als Machtprämie für die Zeit des Wahlkampfes – mehr nicht. Die Geschichte des Scheiterns ist viel länger als die des Erfolges. Nur Gerhard Schröder schaffte es 1998 erstmalig als oppositioneller Kanzlerkandidat nach Bundestagswahlen auch Bundeskanzler zu werden. Alle bislang gegen Ende der Wahlperiode amtierenden Bundeskanzler waren gleichzeitig Kanzlerkandidaten ihrer Parteien. Den ersten sogenannten Kanzlerkandidaten schlug 1960 die SPD vor. Die Partei nominierte Willy Brandt. Daran kann man erkennen, dass es nicht zwingend notwendig war, gleichzeitig auch Parteivorsitzender zu sein, denn das war damals Erich Ollenhauer. Mit zunehmender Personalisierung der öffentlichen Arena kommt dem Duell des Herausforderers und des amtierenden Kanzlers eine große Bedeutung zu. Dennoch ist das Amt des Kanzlerkandidaten virtuell. Denn es existiert weder im Grundgesetz noch in den Parteistatuten oder im Wahlrecht. Der Bundespräsident als Kanzlermacher ist bei seinem Vorschlagsrecht nach Art. 63 GG keineswegs an die von den Parteien nominierten Kanzlerkandidaten gebunden. Für 2021 könnten nach jetziger Lage vermutlich Kanzlerkandidaten von Grünen, SPD und Union nominiert werden.
In der Bundesrepublik Deutschland ist es Tradition, dass die großen Volksparteien SPD und CDU/CSU zeitnah vor den Bundestagswahlen ihren Kanzlerkandidaten nominieren. In den Statuten der Parteien findet sich dazu allerdings keine fixierte Regelung.
Bei den Schwesterparteien CDU/CSU wird in der Praxis nur ein Kandidat von beiden Parteien nominiert. In den großen Parteien gab es in der Vergangenheit unterschiedliche Verfahren, die zu einer Nominierung des Kanzlerkandidaten führten, da es kein formales Verfahren gibt. In den meisten Fällen wählten die Delegierten der Bundesparteitage den Kanzlerkandidaten ihrer Partei. Ein einziges Mal kam es zu einer direkten Kampfabstimmung über eine Kandidatur. Das war 1979 als sich die Spitzen der Unionsparteien (Kohl und Strauß) nicht verständigen konnten und die Entscheidung zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Strauß (CSU) und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht (CDU) in die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verlagerten. Strauß wurde schließlich nominiert.
Weitere Ausnahmen: Der Nominierung Rudolf Scharpings zum Kanzlerkandidaten im Bundestagswahlkampf 1994 ging eine so genannte Urwahl zum Parteivorsitzenden voraus, zu der alle SPD-Parteimitglieder aufgerufen wurden. Bei der Abstimmung setzte sich Rudolf Scharping gegen die Mitbewerber Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch, was den Weg für die Kanzlerkandidatur frei machte. Gerhard Schröder verknüpfte 1998 den Ausgang der Landtagswahl in Niedersachsen mit der Nominierung zum Kanzlerkandidaten. Da in der Regel nur die großen Parteien reale Chancen darauf haben, den Kanzler zu stellen, war die Ernennung des Kanzlerkandidaten Guido Westerwelle durch die FDP im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 eine Überraschung. Die umstrittene Nominierung folgte eher dem Kalkül, mit einem personalisierten Wahlkampf größere Medienaufmerksamkeit auf seine Person und die FDP zu ziehen.
Für die vorgezogene Bundestagswahl 2005 nominierten die beiden Unionsparteien in einer gemeinsamen Präsidiumssitzung am 30. Mai 2005 die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel einstimmig zur Kanzlerkandidatin. Sie war damit die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die CSU drängt auch jetzt darauf, den Parteivorsitz nicht automatisch mit der Kanzlerkandidatur zu verbinden. So bleibt auch für die CSU potentiell die Chance, nach Strauß und Stoiber zum dritten Mal einen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Söder könnte als willkommener Kandidat begrüßt werden, sollten sich die vielen Kandidaten der Union auf dem Weg zum Parteivorsitz Schach mattsetzen. Je später die Nominierung erfolgt, um so erfolgreicher kann die Kampagne sein. Ein späterer Zeitpunkt im Frühjahr 2021 würde ausreichen, zumal sich dann auch nicht mehr die Konkurrenz zur Kanzlerin Merkel stellen würde. Wer sollte wenige Monate vor dem Wahltag hier noch eine Doppelspitze als Problem sehen. Eher umgekehrt könnte Merkel durchaus nochmals darum werben, ihr Erbe mit dem neuen Kandidaten wirksam zu verteidigen.
Zitationshinweis:
Korte, Karl-Rudolf (2020): Kanzlerkandidaturen in Deutschland, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/kanzlerkandidaturen-in-deutschland/