Prof. Dr. Dr. Manfred Brocker, der Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ist, beschreibt den Band Heuristiken des politischen Entscheidens von Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz als einen facettenreichen Band mit großem Spannungsbogen und originellen Beiträgen zu einem anspruchsvollen Thema.
Entscheiden Sie sich! Eine Aufforderung, die unser aller Leben durchzieht. Als Einzelne wie als Gesellschaft müssen wir täglich Entscheidungen treffen. Aber oft wissen wir nicht, wie wir uns entscheiden sollen oder warum wir uns für eine bestimmte Option entschieden haben. Wissenschaftlich erforscht sind Entscheidungen nur wenig.
Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz (Hrsg.): Heuristiken des politischen Entscheidens
Suhrkamp, Berlin, 2022, 404 Seiten, ISBN: 978-3-518-29954-8, 24,00 Euro
Autor
Prof. Dr. Dr. Manfred Brocker ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die politische Philosophie, politische Theorie, die Geschichte des Politischen Denkens und Politik und Religion.
Entscheiden Sie sich! Eine Aufforderung, die unser aller Leben durchzieht. Als Einzelne wie als Gesellschaft müssen wir täglich Entscheidungen treffen. Aber oft wissen wir nicht, wie wir uns entscheiden sollen oder warum wir uns für eine bestimmte Option entschieden haben.
Wissenschaftlich erforscht sind Entscheidungen nur wenig. Vor allem die Politikwissenschaft, deren Gegenstandsbereich wesentlich durch das Optionshandeln bestimmt ist, hat noch immer kaum etwas dazu zu sagen. Das mag an der weiterhin vorherrschenden Dominanz der Systemtheorien liegen.
Verhaltensökonomik und Theorien begrenzter Rationalität liefern erste Bausteine, wenn sie vom Entscheiden unter Bedingungen des Nicht-Wissens, der Informationslücken oder schlicht der Überforderung handeln. Wir kommen ins „Schwimmen“, entscheiden „aus dem Bauch heraus“, wenn von uns unter Zeitdruck schnelle Entschlüsse erwartet werden. Wir können nie „sicher“ sein: Weder verfügen wir jemals über alle relevanten Informationen, noch können wir von unseren psychologischen und emotionalen Texturen (oder „Temperamenten“), unseren Vor-Urteilen und „Lebenslügen“ oder auch den gegebenen gesellschaftlichen Narrativen und „Selbstverständlichkeiten“ mit ihren Denk- und Diskurstabus abstrahieren oder sie „reflexiv einholen“. Außerdem haben Institutionen, innerhalb derer sich etwa Politiker regelmäßig bewegen, eine Entscheidungen bisweilen erzwingende oder konterkarierende Eigenlogik entwickelt.
Was also genau „tun“ Politiker, wenn sie Entscheidungen treffen? Welche Zielgrößen haben sie vor Augen, welche Mittel wählen sie aus und welchen Zwängen unterliegen sie dabei? Diesen Fragen geht der von Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz herausgegebene Sammelband in 17 Kapiteln nach. In fünf Blöcken diskutiert er den Analysegegenstand, nimmt Diagnosen vor und bietet Deutungen, Auswege und „Feldbetrachtungen“ an. Zwar hat der Band einen politikwissenschaftlichen Schwerpunkt, gleichwohl ist er interdisziplinär angelegt: neben Politikwissenschaftlern (4) kommen Vertreter der Soziologie und Ökonomie (5), der Psychologie (1), aber auch der Literaturwissenschaft (3), der Philosophie (2) und der Theologie (1) zu Wort.
Entsprechend breit ist das Themenspektrum. Den Anfang macht Gerd Gigerenzer, Psychologe von der Universität Potsdam, mit einigen grundsätzlichen Begriffsbestimmungen: So erläutert er den Unterschied von „Risiko“ und „Ungewissheit“, die (umweltabhängige) Vernünftigkeit von Heuristiken und den Begriff der „ökologischen Rationalität“. Klaus Mainzer, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, zeigt die Bedeutung und die Grenzen des Lernens und Entscheidens von Maschinen für unser Leben auf. Und der Philosoph und Wissenschaftsjournalist Gert Scobel wirbt dafür, die „Weisheitsdimension“ in die Politik einzuführen, um zu besseren Entscheidungen kommen zu können.
Nach diesen einführenden Reflexionen entfalten die Einzeldisziplinen ihre Spezialdiskurse. Für die Politikwissenschaft analysiert Paula Diehl Heuristiken der politischen Repräsentation und zeigt, wie symbolische Repräsentation zur demokratischen Entscheidungsfindung beiträgt. Peter Wagner untersucht, warum in Fällen, in denen neuartige Probleme den Rückgriff auf bewährte Handlungsmuster oder die Zuordnung zu bekannten Interessenlagen erschweren bis unmöglich machen, angemessene politische Entscheidungen oft ausbleiben. Und Helmut Willke geht der Frage nach, welche Art von Heuristik zu angemessenen politischen Entscheidungen führt, wenn die Demokratie angesichts der aktuellen Herausforderungen selbst in Stress gerät.
Offenbar, so lässt sich als ein Ergebnis des ertragreichen Bandes herausdestillieren, nutzen Politiker unter anderem (wie wir alle) kluge „Abkürzungen“ (short cuts), „Heuristiken“ im Sinne von „Faustregeln“ und praktische „Selbstverständlichkeiten“, um zu Entscheidungen zu kommen, weil die Komplexität der Verhältnisse, die kognitiven Kapazitäten und die Zeitressourcen es gar nicht anders erlauben. Selbst die ausgefeiltesten der heute verfügbaren Prognoseverfahren und Szenariotechniken reichen nicht aus, um alle Folgen einer Entscheidung durchzuspielen und sie in jede Richtung abzusichern. Wäre es aber gerade deshalb nicht umso wichtiger, einen ethischen Maßstab zu haben, der das Spektrum der nicht streng rational ableitbaren Entscheidungen in kontrollierten Grenzen hält, damit sie nicht zu „Dezisionen“ verkommen? Doch trotz des großen Perspektivenreichtums des Bandes wird die normative Dimension nur am Rande thematisch. Dabei böte die Tradition der antiken phronesis-Lehre mit ihrem Begriff der „praktischen Klugheit“ und der „politischen Urteilskraft“ und ihrem Wissen um das „Gute“ und „Angemessene“ in konkreten Entscheidungssituationen, wie sie von Aristoteles über Kant bis Hannah Arendt gepflegt worden ist, reichlich Anknüpfungspunkte. Gert Scobel immerhin fasst sie in seinem Beitrag kurz ins Auge. Sie könnte die im Vorwort des Bandes angebotenen Begriffe der „Kunstfertigkeit des Entscheidens“ oder der „Regierungskunst“ – von den Herausgebern verstanden als „pragmatisches Jonglieren mit Möglichkeiten“ (S. 19-20) – um die fehlende ethische Dimension erweitern und den Diskurs umso intensiver befruchten.
Insgesamt handelt es sich bei Heuristiken des politischen Entscheidens um einen facettenreichen Band mit großem Spannungsbogen und originellen Beiträgen zu einem anspruchsvollen Thema.
Zitationshinweis
Brocker, Manfred (2022): Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz (Hrsg.): Heuristiken des politischen Entscheidens, Buchbesprechung, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/karl-rudolf-korte-gert-scobel-und-taylan-yildiz-hrsg-heuristiken-des-politischen-entscheidens/
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