Michael Lühmann vom Göttinger Institut für Demokratieforschung analysiert die Erfolgsfaktoren der Grünen. Nicht nur die aktuelle Aufmerksamkeit für das Thema Klima und Umwelt verhelfen den Grünen zum Erfolg. Auch das populäre Führungspersonal, der programmatische Kompass mit ideengeschichtlicher Unterfütterung und das Themenbündel aus Klima, Haltung, Sozialpolitik überzeugten viele WählerInnen von den Grünen.
Grüne „Höhenflüge“, das zeigten die vergangenen Jahre, sind mit einiger Vorsicht zu betrachten. Schon einmal, in den Jahren 2010ff., schickte sich jedenfalls die einstige „Anti-Parteien-Partei“ an, „grüne Volkspartei“ werden zu wollen, bevor die Bundestagswahlen 2013 und 2017 die Grünen auf jenes Normalmaß stutzten, dass ihnen das Parteiensystem der vergangenen Dekaden zuwies. Und dennoch dürfte der aktuelle Höhenflug weit mehr sein, als ein Zwischenhoch, wenngleich fraglich bleibt, ob die „Öko-Partei“ es schafft, nicht nur theoretische Führungskraft eines theoretischen linken Lagers zu sein, sondern bei kommenden Wahlen ernsthaft als stärkste Kraft hervorgehen würde, wie es aktuelle Umfragen nahelegen.
Maß und Mitte in grün
Über Gründe des grünen Höhenflugs
Autor
Michael Lühmann, geboren 1980 in Leipzig, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er forscht zu Geschichte und Gegenwart von Parteien und zu politischer Kultur mit Schwerpunkt auf den Grünen und der AfD sowie zu Rechtsextremismus, Antifaschismus und politischer Kultur in Ostdeutschland.
Grüne „Höhenflüge“, das zeigten die vergangenen Jahre, sind mit einiger Vorsicht zu betrachten. Schon einmal, in den Jahren 2010ff.,1 schickte sich jedenfalls die einstige „Anti-Parteien-Partei“ an, „grüne Volkspartei“ werden zu wollen, bevor die Bundestagswahlen 2013 und 2017 die Grünen auf jenes Normalmaß stutzten, dass ihnen das Parteiensystem der vergangenen Dekaden zuwies.2 Und dennoch dürfte der aktuelle Höhenflug weit mehr sein, als ein Zwischenhoch, wenngleich fraglich bleibt, ob die „Öko-Partei“ es schafft, nicht nur theoretische Führungskraft eines theoretischen linken Lagers zu sein, sondern bei kommenden Wahlen ernsthaft als stärkste Kraft hervorgehen würde, wie es aktuelle Umfragen nahelegen. Dabei kann eine Analyse des jüngsten Wahlerfolges bei den Europawahlen 2019, der nachfolgende weitere Aufschwung in Umfragen nur auf ein begrenztes Maß an empirischer Absicherung zurückgreifen. Es ist jedenfalls nur wenig bekannt darüber, welche Wert- und Politikvorstellungen die neue, gegenüber der Bundestagswahl 2017 verdoppelte bis (in Umfragen) verdreifachte Wählerschaft antreiben, wie fragil oder stabil die Zustimmung ist und worauf der neue Zuwachs beruht. Deshalb braucht es, um den neuerlich grünen Höhenflug zu verstehen, weit mehr als einen in den Politikwissenschaften so üblichen Zugriff auf Wählerschaften, der hier gleichwohl nicht fehlen darf.
Bei der Beantwortung der Frage nach Ursache, Substanz und, vorsichtig tastend, möglicher Permanenz neuer grüner Popularität hilft ein nachgerade klassischer Zugriff auf die Grünen, der lange Zeit Selbstbeschreibung war und es wohl auch heute noch sein könnte: Der „Blick zurück nach vorn“.3 Vier solche, Gegenwart und nahe Zukunft womöglich beschreibbarer machende Rückgriffe sollen hier erfolgen: ein längerer Blick zurück in die grüne Ideen- und innergrüne Konfliktgeschichte, ein kürzerer auf den Wechsel der Parteiführungen der vergangenen Jahre, ein zeitnaher Blick in programmatische Re-Formulierungen und ein Blick auf die Zusammensetzung der jüngsten Wahlergebnisse. Alle vier Blicke – Ideen- und Konfliktgeschichte, neue Parteiführung, programmatische (Re-)Fundierung und neue bzw. verbreiterte Wählerschaft – sollen helfen, den derzeitigen Ort der Grünen im Parteiensystem, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und, nicht zuletzt, in der Geschichte der Bundesrepublik beschreibbarer zu machen, um zu verstehen, auf welchem Fundament der derzeitige Erfolg ruhen mag.
Nicht rechts, nicht links, sondern vorn
Nicht rechts, nicht links, sondern vorn, so lautet dereinst die Selbstbeschreibung der jungen Gründungsgrünen.4 Es beschrieb den, in der Realität der Partei eigentlich nie zur Geltung gebrachten, Anspruch der Grünen, sich nicht kategorisieren zu lassen, sich auch selbst nicht zu kategorisieren, sondern „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ quer zu anderen Parteien und Konfliktlinien zu liegen. Doch lagen die Konfliktlinien schon immer und vor allem innerhalb der Partei selbst. Konservative Heimatschützer, Zerfallsprodukte der untergehenden „Neuen Linken“ auf der Suche nach einem Rettungsboot, den Realismus als Politikformel entdeckende ehemalige Spontis, öko-libertäre Ökonomie-Ökologie-Versöhner, Ikonen und Diven, ideologisch Durchreisende. Der Ort der Grünen blieb umstritten, aber er blieb unterschwellig das, was er ideengeschichtlich im Kern schon immer war: Ein Mischprodukt aus eher bürgerlich-konservativer Schöpfungsbewahrung und linker Weltverbesserung.5 Ideologische Landnahme, die Frage der Priorisierung und der Umsetzung, sie anverwandelte und überführte diese breite Melange schließlich in den die Grünen schon immer begleitenden Fundi-Realo-Gegensatz. Einer, der je nach Zustand der Partei, mal als überwunden und hinderlich gilt, mal als prägend und identitätsstiftend. Oder, in Mischform, als prägend und hinderlich. So in etwa dürften sich die Jahre vor den neuen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck zugespitzt beschreiben lassen. Auf offener Bühne bekämpften sich die Flügel, auf Parteitagen, im Vorwahlkampf, ja selbst im Wahlkampf 2013 und danach. Wo der Ort der Grünen sei, im erfolgreichen Baden-Württemberg oder in der (für die Erfolglosigkeit verantwortlichen!?) Berliner Parteizentrale, ob in der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie oder im Kampf gegen die Reichen und Superreichen, vieles blieb im Umfeld eines desaströsen Wahlkampfes ungeklärt. Der mühevolle Kitt zwischen den Flügeln, er wurde konterkariert durch die Dominanz eines Jürgen Trittin, der die Dominanz eines Winfried Kretschmann bestritt. In der krachenden Niederlage, bemessen am grünen Höhenflug 2010ff., bei der Bundestagswahl 2013 zeigte sich dann die Brüchigkeit des ohnehin schwachen Burgfriedens in der Partei, der Kampf um die Erbschaft Joschka Fischers, dessen politisches Testament sehr kurz und knapp auf eine Formel zu bringen ist: Joschka Fischer selbst. Ein Kampf aber auch an anderen Fronten: „Erfolgreiche“ Landespolitik vs. „erfolglose“ Berliner Führung, historisch gewachsener Öko-Liberalismus vs. das letzte Gefecht der altgewordenen Neuen Linken, Ökologiepolitik für Vorstädter vs. Steuerpolitik als Sozialpolitik. Die Niederlage 2013, sie steckte der Partei über Jahre in den Knochen. Hinter vorgehaltener Hand blieb die Frage, wer 2013 die Wahl verloren habe, wichtiger als jede programmatische Neuausrichtung. Der Versuch, die neue Spitze aus Cem Özdemir und Simone Peter flügelarithmetisch zu tarieren, er scheiterte sodann auch krachend. Kein Geheimnis jedenfalls war es in Berlin, dass an der neuen Parteispitze Argwohn und Missgunst das Regiment führte.
Wo Baerbock und Habeck sind, ist vorn.6
So sehr der weitgehend positive mediale Furor um das neue grüne Führungsduo7, insbesondere fokussiert auf die Person Robert Habecks, nun vor allem jene irritiert, die jahrelang eben jenen Furor, nur eben negativ konnotiert, über die Grünen anführten, so sehr treffen diese Portraits doch oft einen Kern.8 Sie beschreiben beide Parteivorsitzenden als eine Einheit, mindestens als ein kongeniales Duo. So sehr sich Politikwissenschaft heute für multivariate Analysen interessiert, so sehr übersieht sie bisweilen wesentliche Dinge: Etwa die gemeinsame Führung des Parteibüros von Baerbock und Habeck. Die Schaffung einer Grundsatzabteilung. Die Tatsache, dass beide als Landespolitiker gelten dürfen, die von außen in die Berliner Parteiführung einstiegen. Dass sie, gemessen an der Vita ihrer Vorgänger, gerade nicht Gralshüter der grünen Parteiengeschichte sind. Und, dass sie beide zwar als Realo bzw. Reala gelten, dies aber erstens nicht mit Monstranz vor sich hertragen und zweitens dennoch für die Parteibasis wählbar waren. Ob die Einsicht, dass der Flügelkampf zumindest in der Außenrepräsentation eher die Funktion einer Flügelbremse erfüllte – das entspricht sinnbildlich jener Mechanik, die bei auswärtsöffnenden Fenstern das weite Aufschlagen durch einen Windstoß verhindert – oder ob sich die Flügelarithmetik, in Zeiten ständig wachsender Mitgliederzahlen, ausschleift, ist dabei fast schon egal. Die Jamaika-Sondierungsgespräche waren jedenfalls nicht nur eine letztlich an der FDP gescheiterte Paartherapie des bürgerlichen Lagers, sondern auch eine grüne Gruppentherapie. Dass die Realos die Grünen nicht an die CSU verkaufen würden, dass die linken Grünen eine Einigung nicht sabotierten und dass die Grünen selbst lagerübergreifende Überzeugungen und Ideenhaushalte besitzen, allen voran Ökologie und Klimaschutz, das ist ihnen von Trittin bis Kretschmann wohl auch wieder in den Sinn gekommen.
Klar zeigte sich jedenfalls, dass die stark gewachsene grüne Parteibasis – jenes, generellen Kenntnissen weitgehend entzogene, mäandernde und bisweilen unberechenbare Wesen – sich von den Flügelstreitigkeiten emanzipiert hat: Womit den neuen Vorsitzenden, die Ideen und Inhalte beider Lager einspeisen, Umwelt- und Sozialpolitik wieder stärker zusammendenken versuchen, endlich die Handlungsfreiheit gegeben ist, die Partei wirklich in eine Rolle der Eigenständigkeit zu führen. Dieses oftmals erklärte Ziel, es gewinnt unter den neuen Vorsitzenden, auch im Versuch ein neues Grundsatzprogramm zu schreiben, endlich den Ausdruck, der schon so lange eingefordert wird. Noch 2013 schrieb der grüne Vordenker und damals noch Chef der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks: „In jüngster Zeit ist wieder viel von grüner Eigenständigkeit die Rede. Es ist allerdings noch wenig gewonnen […]. Erfolgreich werden sie nur als politische Alternative sowohl zur Union wie zu SPD und Linkspartei sein. In den Gründerjahren hieß das: Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Für eine Partei, die Ökologie, Freiheit und soziale Teilhabe in einem neuen Politikentwurf kombiniert, stehen viele Türen offen.“9 Und im gleichen Jahr formulierte Habeck, in dem ihm nicht unüblichen Duktus, die gemessen an den Erwartungen des Jahres 2011 bittere Wahlniederlage 2013 auf der Fraktionsklausur der Grünen: „Da, wo gute Ideen sind, da sind sie gut, auch wenn sie von Linken kommen, und wenn es Scheiß-Ideen sind von den Realos, dann sind es halt Scheiß-Ideen.“10
Nur Profiteure der Klimakrise?
Unstrittig dürfte, in Anbetracht der Popularität von Fridays for Future, in Anbetracht einer neuen, nicht so schnell einzufangenden Debatte um die Klimakrise und einer neuen ökologischen Themensensibilität sein, dass die Grünen, als im Kern ökologische Partei mit langer ökologischer Ideengeschichte, die neue Popularität des Themas Klima tragen dürften. In den Nachwahlbefragungen von Infratest dimap wird deutlich11, was indes wenig Neuigkeitswert besitzt: Bei den Kompetenzzuschreibungen führt das Thema Klima- und Umweltschutz mit 56 Prozent die Liste deutlich an, auch gaben 88 Prozent der Grünen-WählerInnen an, dass die Klima- und Umweltschutzpolitik für sie ein wahlentscheidendes Thema war.12 Insofern ist die Zuschreibung des ökologischen Markenkerns mit Sicherheit ein Grund, warum die Grünen die Europawahl mit einem Ergebnis von 20,5 Prozent der Stimmen – was einer Verdopplung gegenüber der vergangenen Europawahl bedeutet – abschließen konnten. Dies zumal 48 Prozent der Wählenden angaben, Klima- und Umweltschutz habe bei der Wahl die wichtigste Rolles gespielt.13 Auch wenn die Klimakrise nicht wieder verschwinden wird – eine Diagnose, die sich erst sehr langsam herumspricht und bisher noch weniger zu einem politischen Umsteuern geführt hat – so dürften zumindest zwei vorläufige Erkenntnisse einigermaßen gesichert sein. Zum einen, dass die Grünen als Rettungsanker eines so notwendigen wie praktisch wenig existenten Umsteuerns in der Klimapolitik gelten dürften, in Zeiten, in denen sich die Bundesrepublik mit Aplomb von ihrer einst vermeintlich herausragenden Rolle als ökologische Vorreiterin verabschiedet hat. Der Niedergang der deutschen Solarindustrie, das Ausbremsen der Energiewende, der Unwillen zum zügigen Kohleausstieg, der steigende Plastikverbrauch, der Boom der SUVs, des Flugverkehrs und des klimatisch besonders bedenklichen Kreuzfahrt(un)wesens und die damit verbundene Unfähigkeit, den CO2-Ausstoß im so wichtigen Sektor Verkehr zu senken – es dürfte von Teilen der an diesen Prozessen nicht unbeteiligten Bevölkerung verstanden worden sein, dass ohne grüne Regierungsbeteiligung ökologische Ziele allenfalls Sonntagsredenpotential besitzen. Gleichwohl liegt hier eine doppelte Gefahr, die Gewöhnung an die Zustände aufgrund des hohen (notwendigen) Alarmismus im Klimaschutzdiskurs auf der einen und die notwendigen steuernden Eingriffe auf der anderen Seite könnten die Klimasensibilität der Deutschen – nicht zum ersten Mal – auf eine harte Probe stellen. Zum anderen reden die Grünen, wie schon in den Jahren des Höhenflugs 2010/11 wieder stärker über ökologische Politik, über (mehr oder weniger konsequente) Politik im Klimawandel. Dies ist vor allem auch wieder im Blick zurück nach vorn von Bedeutung. Schon 1996 warnte ihr ökologischer Vordenker Reinhard Loske bspw. vor einer „halbierten Ökologie“, die sich als „City-Ökologie“ in Lifestyle-Trends erschöpfe, zwar für ein parlamentarisches Überleben reiche, aber dem originär Grünen, dem Bewahren, nicht genüge14 um 2006 nachzureichen: „Ökologie haben wir sowieso da müssen wir uns nicht besonders anstrengen. Das wäre ein riesen Fehler. Sicher, wir sind das Original, die anderen die Kopien. Aber wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass ökologische Rhetorik bei den anderen Parteien und in großen Teilen der Wirtschaft zum Standard wird. Deshalb kommt es in Zukunft viel stärker auf die konkreten Taten an, auf die Aktion, auf das was tatsächlich passiert.“15 Kurz, was die Grünen 2019 – und bereits seit dem Hitzesommer 2018 – tragen dürfte, ist ein Kombination aus Klimasensibilität in Partei und Bevölkerung.
Partei von Maß und (linker) Mitte
Es griffe im Jahr 2019 gleichwohl zu kurz, den grünen Aufschwung isoliert als Klimakrisenphänomen zu verhandeln, dem YouTuber Rezo, den Fridays for Future Protesten und der offensichtlichen Realität des Klimawandels zum Trotz. Auch die neue sozialpolitische Sensibilität bzw. auch nicht die neue von Fücks so vehement eingeforderte Kombination aus Ökologie und sozialpolitischen Justierungen vermögen den Aufschwung der Grünen in neue Höhen allein zu erklären. So sehr sie an populären Debatten partizipieren, in Fragen des politisch virulenter werdenden Klimawandels oder in Fragen von Enteignungen, so sehr basiert der neue Aufschwung der Grünen womöglich noch (und viel deutlicher) auf anderen Prämissen. Der Blick in die jüngsten Landtagswahlergebnisse, aber auch in die Europawahlergebnisse zeigt jedenfalls eines deutlich: Über die Städte, jene melting pots gesellschaftlicher Entwicklung, über die nachwachsenden Generationen16, jene Träger neuer gesellschaftlicher Entwicklungen bis hin zur der Partei lange unverbunden geblieben New School ökologischer Utopie – Urban Gardening, Fab Labs, Repair Cafés usw.17 – wachsen den Grünen seit Jahren neue Wählerschaften zu. Dabei sind die Städte nicht nur jene Räume, in denen die ökologische und soziale Frage besonders stark verhandelt werden, sondern sie sind auch zentrale Räume jener Liberalität, die von der AfD massiv angegriffen werden – auch dies ein ganz frühes Konfliktfeld in der frühökologischen, aber in Teilen auch völkischen Lebensreformbewegung, die, anders als heute, den grauen Städten entflohen und auf dem Land ein ökologisches Utopia suchten, durchaus versetzt mit einer Mischung aus Frühökologismus und Kulturkritik.18
Insbesondere die Verteidigung von Liberalität, von Grundgesetz, humaner Migrationspolitik und Europa, die glasklare Haltung gegenüber der AfD dürfte sich in hinter jenem langen, grünen Balken der Nachwahlbefragungen finden, der sich hinter der Frage „Verteidigen Werte, die mir persönlich wichtig sind“ aufbaut nahe an die 100 Prozent-Marke heranreicht. 96 Prozent der grünen WählerInnen geben dies jedenfalls als Ansicht über „ihre“ Partei an, immerhin die Mehrheit von 57% aller WählerInnen teilen diese Einschätzung für die Grünen19 und bestätigen damit die Ergebnisse der vorangegangenen Landtagswahlen in Hessen und Bayern.20 Die Bündnisgrünen, sie profitieren inzwischen scheinbar nicht nur von ihrem Öko-Image, sondern auch von ihrer klaren, positiven Haltung zur fundamentalliberalisierten Bundesrepublik, zum Grundgesetz und wider die populistische Versuchung. Die Partei ist damit vor allem auch eines: Hüterin der unter Globalisierungs-, Krisen- und Populismusdruck geratene „alte“ Bundesrepublik, sie ist die Hüterin von Maß und Mitte. Ein Diktum Franz Walters aus dem Jahr 2011, damals noch als Invektive wahrgenommen,21 trägt die Grünen nicht von ungefähr in neue Höhen.22
Erfolgsaussichten
Die Grünen sind also so etwas wie eine neue Sammlungspartei der (linken) Mitte, wertorientiert, auch ein ganzes Stück weit verbürgerlicht und scheinbar auch verwurzelt. Und sie tragen ein Themenfeld mit einer Mächtigkeit vor sich her, dass die Konservativen in den Siebzigerjahren preisgegeben haben, die Ökologie, oder auf bürgerlich-konservativ: den Schutz und die Bewahrung der Natur, wenn man so will auch der „Heimat“. Ein Thema, das nicht verschwinden wird von der Agenda. Und die Grünen, so zeigen es die Nachwahlbefragungen in aller Deutlichkeit, haben der CSU in Bayern, der CDU in Hessen, der CDU/CSU auf Bundesebene etwas abgenommen, das zu ihrem unumstößlichen Markenkern gehört hat, bis Söder, Seehofer und Teile der CDU es im Kampf um die Mehrheit geopfert haben: die Verteidigung von elementaren Werten, das unumstößliche Bekenntnis zu Europa, den Erhalt von Grundrechten – ja, den Kernbestand jener fundamentalliberalisierten Bundesrepublik, den die CSU dröhnend aufgegeben, dem die CDU hasenfüßig beigewohnt hat und in dessen Schatten die AfD insbesondere im Osten gedeihen konnte. Und sie haben der SPD etwas abgenommen, was diese immer schlechter darstellen konnte: Führungskraft der (linken) Mitte zu sein, ausgestattet mit einem programmatischen Kompass, mit ideengeschichtlicher Unterfütterung, mit populärem Führungspersonal und einem Themenbündel – Klima, Haltung, Sozialpolitik – dass derzeit bei der Sozialdemokratie ebenso wenig vermutet wird, wie bei den ausweichlich der Europawahlergebnisse, darbenden Linken oder der FDP.
Es ist, natürlich, nicht zuletzt auch die Krise der anderen Parteien bzw. die Vertrauenskrise in die anderen Parteien des demokratischen Spektrums, was die Grünen derzeit selbst im Osten trägt. Jenem Osten, in dem Umwelt- und Klimapolitik traditionell einen schwereren Stand hat, ein Hinweis auf die Virulenz der These, dass die Grünen mindestens so stark als Klimapolitikpartei reüssieren wie als Haltungspartei. Aber vieles davon galt, abzüglich der grassierenden rechten Regression, schon für die Jahre 2010ff., die Zustimmung – dies zeigten die Jahre 2012 bis 2018 – war nur geborgt. Ob das heute anders ist, muss sich erst noch erweisen. Eine wertgebundene Partei aber, die von links und rechts sammeln kann, der bei jeder Wahl überproportional viel junger Nachwuchs zuströmt, die ihre Gründungsjahrgänge zu halten vermag und die bei Hochgebildeten heute schon stärkste Kraft ist und deshalb im Angesicht steigender Bildungsabschlüsse weiter wachsen dürfte und die in den weiter wachsenden Städten womöglich bald ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen kann, eine solche Partei ist auf lange Sicht eine wirkliche Gefahr für die konservativen Gralshüter und für die SPD. Eine solche Partei braucht womöglich auch keinen Ort im Parteiensystem, sie definiert im Parteiensystem über die Ökologie einen eigenen Ort, der über soziale und wertegebundene Fragen in alle Richtungen ausstrahlt.23 Man könnte das wohl auch Mitte nennen, linke und bürgerliche Mitte. Oder vorn.
Zitationshinweis:
Lühmann, Michael (2019): Maß und Mitte in grün, Über Gründe des grünen Höhenflugs, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/mass-und-mitte-in-gruen/
- Dass der grüne Höhenflug nicht mit Fukushima einsetzte, sondern bereits ein Jahr früher, dieser Umstand findet noch immer zu wenig Beachtung in der Betrachtung der Partei, die schon 2010 in Umfragen über die 20-Prozent-Marke herausreichte. Vgl. etwa Michael Lühmann, Sehnsüchtiger Blick zurück nach vorn. Die Grünen zwischen Bewegungs- und Volkspartei, in: vorgänge, Jg. 49 (2010), H. 4, S. 15-22. [↩]
- Vgl. hierzu und zu den jüngsten Entwicklungen der Grünen neben anderen Lothar Probst, Bündnis 90/Die Grünen. Absturz nach dem Höhenflug, in: Oskar Niedermayer, Die Parteien nach der Bundestagswahl 2013, Wiesbaden 2015, S. 135-159; Ders., Der Kampf um Platz Zwei. Das deutsche Parteiensystem im Wandel, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 7 (2018), H. 2, S. 114-121. [↩]
- Näher erläutert hier: Lühmann, Sehnsüchtiger Blick zurück nach vorn. Die Grünen zwischen Bewegungs- und Volkspartei, in: vorgänge, Jg. 49 (2010), H. 4, S. 15-22.; Ralf Fücks, Blick zurück nach vorn, in: Böll-Thema, H. 3/2013, S. 3-4. [↩]
- Vgl. hierzu noch immer Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen. München 2011. [↩]
- Vgl. Mende. [↩]
- Diese Überlegungen basieren auf Michael Lühmann, Wo Baerbock und Habeck sind, ist vorn, in: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte, Jg. 66 (2019), H. 6, S. 7-11. [↩]
- Wohltuend kritische Ausnahme bspw. Ulrich Schulte, In Love with Habeck, in: taz.de, 10.04.2019, URL: http://www.taz.de/!5586571/ [eingesehen am 23.04.2019]. [↩]
- Exemplarisch: Nina Poelchau, Bündnis Grün, in: Stern, 17.04.2019. [↩]
- Ralf Fücks, Blick zurück nach vorn, in: Böll-Thema, H. 3/2013, S. 3-4, S. 4. [↩]
- Zit. nach Michael Lühmann, Kompetenz schlägt Quote, in Zeit online, 17.11.2017, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-12/die-gruenen-robert-habeck-parteifuehrung [eingesehen am 11.06.2019]. [↩]
- Vgl. die Zahlen bei wahl.tagesschau.de, Umfragen zu den Grünen, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2019-05-26-EP-DE/umfrage-gruene.shtml [eingesehen am 12.06.2019]. [↩]
- Ebd. [↩]
- Vgl. wahl.tagesschau.de, Umfragen Wahlentscheidende Themen, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2019-05-26-EP-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtml[eingesehen am 12.06.2019]. [↩]
- Reinhard Loske, Akzeptiert, aber profillos?, in: Die tageszeitung, 12.10.1996. [↩]
- Reinhard Loske, Rede zum BDK-Antrag: Für einen neuen Realismus in der Umweltpolitik, gehalten in Köln am 02.12.2006, URL: https://www.loske.de/archiv/nachhaltige-politik/rede-zum-bdk-antrag-fuer-einen-neuen-realismus-in-der-umweltpolitik.html [eingesehen am 12.06.2019]. [↩]
- In der Altersgruppe U45 sind die Grünen bei der Europawahl 2019 stärkste Kraft, in der Altersgruppe der 18-24-Jährigen erzielten sie gar 34%, vgl. wahl.tagesschau.de, Umfragen Wähler nach Altersgruppen, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2019-05-26-EP-DE/umfrage-alter.shtml [eingesehen am 12.06.2019]. Interessant in diesem Zusammenhang die jüngste Umfrage von forsa: „Beim akademischen Nachwuchs, den Studenten und Schülern, liegen die Sozialdemokraten momentan mit 8 Prozent nur auf Rang 5 – hinter den Grünen (51%), der Union (10%) sowie der FDP undder Linkspartei (jeweils 9%).“, o.V., RTL/n-tv-Trendbarometer, URL: https://www.presseportal.de/pm/72183/4298072 [eingesehen am 17.06.2019]. [↩]
- Vgl. Christa Müller u. Katrin Werner, Neuer Urbanismus Die New Schoolgrüner politischer Utopie, in: INDES, Jg. 4 (2015), H. 2, S. 31-43. [↩]
- Vgl. hierzu neben anderen Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günter Anders, München 2007; Joachim Radkau, Die Verheißungen der Morgenfrühe. Die Lebensreform in der neuen Moderne, in: Diethart Kerbs u. Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S.55-60. [↩]
- wahl.tagesschau.de, Umfragen zu den Grünen. [↩]
- So gaben bei der bayrischen Landtagswahl 56% aller Wähler*innen und bei den hessischen Landtagswahlen 65% der Wähler*innen an, die Grünen „verteidigen Werte, die mir wichtig sind.“, Vgl. zu den Zahlen von Infratest dimap, wahl.tagesschau.de, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2018-10-14-LT-DE-BY/umfrage-gruene.shtml und http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2018-10-28-LT-DE-HE/umfrage-gruene.shtml [Beide eingesehen am 23.04.2019]. [↩]
- Franz Walter, Gelb oder grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 102. [↩]
- Nicht von ungefähr lautete der Titel der grünen Sommertour 2018 „Des Glückes Unterpfand“, einer Reise, so Robert Habeck, „zu den Wurzeln der liberalen Demokratie“, Robert Habeck, Des Glückes Unterpfand – Eine Reise zu den Wurzeln der liberalen Demokratie, URL: http://www.robert-habeck.de/texte/blog/des-gluecks-unterpfand/[eingesehen am 23.04.2019]. [↩]
- Eine andere, nicht unumstrittene und wohl zu idealtypisch gedachte Konfliktlinie Kosmopolitismus versus Kommunitarismus wäre in diesem Zusammenhang sicherlich zu diskutieren, vgl. hierzu Wolfgang Merkel, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst u.a. (Hg.), Parties, Governments and Elites. Vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden 2017, S. 9-23. [↩]