Politik für das ganze Volk? Wir brauchen eine lebhafte Debatte über die Einführung einer gesetzlichen Wahlteilnahmepflicht.

Michael KaedingAuch Bremen hat wieder einmal gezeigt: Immer weniger Menschen gehen zur Wahl, egal ob bei Landtags-, Bundestags-, oder Europawahlen. Weltweit wird ein neuer historischer Negativrekord nach dem anderen gebrochen.

Politik und Öffentlichkeit wissen um das Problem. Auch in den USA tobt hierzu ein ideologischer Streit. Der Präsident der Vereinigten Staaten forderte kürzlich gar die Einführung der gesetzlichen Wahlpflicht. Michael Kaeding und Morten Pieper identifizieren Lösungsansätze und attestieren: „Es ist Zeit zu handeln!“

Politik für das ganze Volk?

Wir brauchen eine lebhafte Debatte über die Einführung einer gesetzlichen Wahlteilnahmepflicht.

Autoren

Dr. Michael Kaeding ist Jean Monnet Professor für Europäische Integration und Europapolitik am Institut für Poli-tikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen und lehrt am Europakolleg in Brügge. Er forscht schwerpunktmäßig zu europäischen Institutionen, der Umsetzung europäischer Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten und der Europäisierung nationaler politischer System.

Morten Pieper ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik und studiert im Master Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen.

Auch Bremen hat wieder einmal gezeigt: Immer weniger Menschen gehen zur Wahl, egal ob bei Landtags-, Bundestags-, oder Europawahlen. Weltweit wird ein neuer historischer Negativrekord nach dem anderen gebrochen. Politik und Öffentlichkeit wissen um das Problem. Auch in den USA tobt hierzu ein ideologischer Streit. Der Präsident der Vereinigten Staaten forderte kürzlich gar die Einführung der gesetzlichen Wahlpflicht.

In Deutschland kommt die Debatte schon seit Jahren nicht so richtig in Fahrt. Zudem geht sie am Ziel vorbei. Die aktuellen Lösungsansätze der Parteien greifen hierzulande entweder zu kurz, sind marginal oder gehen in die falsche Richtung. Das hat zwei Ursachen: Erstens stellt niemand ernsthaft die Frage, wer diese Nichtwähler sind. Und zweitens erscheint die politische Vorstellungskraft im Bereich der Lösungsmöglichkeiten mutlos.

Wer also sind die Nichtwähler?

Studien zeigen, dass diese Gruppe in einem wesentlichen und stetig größer werdenden Teil aus Menschen besteht, die nicht mehr Teil des politischen Prozesses sind. Die Gründe hierfür liegen darin, dass in ihrer Lebenswelt und ihren Wohnvierteln Politik (scheinbar) nicht existiert: Im Elternhaus wird nicht über politische Themen gesprochen, keiner der Freunde, Verwandten oder Nachbarn geht wählen und persönlich hat man oftmals die Erfahrung gemacht, dass die Gesellschaft sich nicht für einen interessiert und man sich daher auch nicht für sie interessieren muss. Für diese Bevölkerungsgruppen besteht somit faktisch eine äußerst hohe Zugangshürde zur Wahlteilnahme. Auch deshalb ist Deutschland eine (sozial) „gespaltene Demokratie“. Denn Politik geht programmatisch und personell immer weniger auf diese Gruppen ein. Vorwerfen kann man ihr das allerdings nicht. Denn würde sie anders handeln, würde sie vom Wähler – und eben nicht vom Volk – abgestraft. Aber wenn in Deutschland „Volk“ und „Wähler“ zunehmend nicht mehr identisch sind, gibt es ein Problem.

Was sind die Lösungsansätze?

Zu seiner Lösung gibt es jedoch mehr Maßnahmen als diejenigen, die zuletzt „revolutionär“ von Parteigeneralsekretären vorgeschlagen wurden. Sie lassen sich grob in vier Kategorien einteilen: Mehr Bürgerbeteiligung, Verbesserung des politischen Prozesses, das Setzen von Anreizen und institutionelle Veränderungen. Die drei erstgenannten haben sich entweder als wirkungslos oder sogar kontraproduktiv erwiesen. Nur in Deutschland zeigt sich die aktuelle politische Diskussion hiervon unbeeindruckt. Beispielsweise ist die positive Wirkung einer stärkeren Bürgerbeteiligung mittels direktdemokratischer Elemente, wie sie im Moment wieder parteiübergreifend gefordert wird, wissenschaftlich nicht belegt. Im Gegenteil, diese Verfahren weisen eine noch deutlich höhere soziale Selektivität auf als reguläre Wahlen.

Am erfolgreichsten bei der Nivellierung der sozialen Schieflage der Wahlbeteiligung sind hingegen institutionelle Maßnahmen, wie z.B. Briefwahl, Wahlen am Wochenende und die automatische Wählerregistrierung. Allerdings sind diejenigen Maßnahmen, die weltweit erfolgreich zu erheblichen Differenzierungen in der Wahlbeteiligung geführt haben, in Deutschland – anders als oft suggeriert – weitestgehend ausgeschöpft.

Es ist Zeit zu handeln!

Allen deutschen Lösungsansätzen gemein ist zudem, dass sie das Kernproblem, die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung, nicht angehen. Arend Lijphart forderte deshalb schon 1997 die Einführung der gesetzlichen Wahlpflicht. Seitdem zeigt die Forschung regelmäßig, dass Wahlpflicht-Systeme zu einer deutlichen Steigerung der Wahlbeteiligung führen. Zudem wird in den betroffenen Ländern nach einiger Zeit die Wahlpflicht nicht nur akzeptiert, sondern auch befürwortet. Letzten Endes ist es die einzige vom Staat kurz- und mittelfristige einsetzbare effektive Maßnahme zur Beseitigung der sozialen Schieflage der Wahlbeteiligung.

Es geht dabei aber nicht um eine Form der versuchten politischen Einflussnahme oder der Freiheitsberaubung: Es geht nur darum, dass sich der Bürger auch tatsächlich an der Wahl beteiligt. Er kann weiterhin den Wahlzettel leer oder ungültig abgeben. Die sogenannte Wahlpflicht ist somit nur eine Wahlteilnahmepflicht, die ausschließlich die hohe Zugangshürde beseitigt, die sich den vielen Bürgern stellt, die nicht mehr Teil des politischen Prozesses sind.

Der Zeitpunkt zu ihrer Einführung könnte günstiger nicht sein: Die Beteiligungsraten – wie zuletzt in Bremen – versprechen immer weniger Legitimation und die Politik – insbesondere die Union – diskutiert momentan offen, die Aufnahme diverser Wahlrechts-Regelungen ins Grundgesetz, um die vermeintliche Übergriffigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu beschränken. Mit anderen Worten: Es ist Zeit zu handeln!

Deutschland braucht daher keinen weiteren mutlosen Eiertanz, sondern eine lebhafte Debatte über die Einführung der gesetzlichen Wahlteilnahmepflicht – und zwar bei allen Wahlen, auf allen Ebenen. Denn nur sie bringt die Wahlen in die Lebenswelt aller Bürger. Zudem ist sie rechtlich und normativ zu rechtfertigen und beseitigt durch die in Wahlpflichtsystemen typisch hohen Beteiligungsraten das größte Übel: die soziale Schieflage. Im Endeffekt ermöglicht nur sie es der Politik, ihre Aufgabe wahrzunehmen: Politik für das ganze Volk (und nicht nur für die Wähler!).

Zitationshinweis

Kaeding, Michael / Pieper, Morten (2015): Politik für das ganze Volk?  Wir brauchen eine lebhafte Debatte über die Einführung einer gesetzlichen Wahlteilnahmepflicht. Erschienen in: regierungsforschung.de. Analyse & Meinung. Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/politik-fuer-das-ganze-volk-wir-brauchen-eine-lebhafte-debatte-ueber-die-einfuehrung-einer-gesetzlichen-wahlteilnahmepflicht/

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