Das Jahr 2016 wurde innenpolitisch eingerahmt vom Erschrecken über die Geschehnisse der Silvesternacht von Köln im Januar und dem Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember. Die strittige Suche danach, welche politischen Antworten auf die angestiegene Zuwanderung richtig sind, prägt den Parteienwettbewerb und ändert dessen Gestalt.
Welches Fazit kann aus Sicht der politischen Kommunikation mit Blick auf „Merkels Flüchtlingspolitik“ für das Jahr 2016 gezogen werden? Prof. Dr. Andreas Blätte sieht vor allem das Syndrom der Fame-Avoidance in der Politikvermittlung als Grund für Komplikationen im Parteienwettbewerb. Wie er zu dem Schluss kommt und was dies für das Jahr 2017 bedeutet, legt er in seinem meinungsstarken Essay dar.
Politische Kommunikation im Wahljahr 2017:
Fame-Avoidance als Defekt der Politikvermittlung überwinden!
Autor
Prof. Dr. Andreas Blätte ist Professor für Public Policy und Landespolitik an der Universität Duisburg-Essen und geschäftsführender Direktor des Instituts für Politikwissenschaft. Zuvor war er stellvertretender (interimistischer) Direktor der Erfurt School of Public Policy (ESP) der Universität Erfurt.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Landespolitik von Nordrhein-Westfalen und in der bundesländervergleichenden Politikforschung, sowie der politischen Steuerung und Governance im Mehrebenensystem. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Forschungsinteressen liegt in Politikbereichen mit Querschnittscharakter, insbesondere der Migrations- und Integrationspolitik.
Das innenpolitische Jahr 2016 wurde eingerahmt vom Erschrecken über die Geschehnisse der Silvesternacht von Köln Anfang Januar und dem Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin im Dezember. Die strittige Suche danach, welche politischen Antworten auf die kontinuierlich wachsende und in 2015 sprunghaft angestiegene Zuwanderung richtig sind, prägt den Parteienwettbewerb und ändert dessen Gestalt. Der Blick zurück auf das Jahr 2016 ist dabei dominiert von Zweifeln an einer offenen Flüchtlingspolitik und vom Erstarken der AfD. Auch am Anfang des Wahljahres 2017 gilt: „Merkels Flüchtlingspolitik“ bleibt eine kontinuierliche Zielscheibe der Kritik. Die Forderungen nach einer Änderung des politischen Kurses bleiben unüberhörbar. Die regierungsinterne Selbstsabotage der Vermittlung dessen, was die Regierung tut, ist jedoch unter dem Blickwinkel der politischen Kommunikation desaströs.
Worauf beziehen sich die Kritiker von „Merkels Flüchtlingspolitik“ eigentlich? Die Formel konstruiert auf merkwürdige Weise ein Phantom. Die humanitäre Offenheit von 2015 ist längst Vergangenheit. Das Asyl- und Flüchtlingsrecht wurde tatsächlich in kurzen Abständen geändert und sukzessive restriktiver gestaltet. Diese Tendenz gibt es nicht erst seit dem Herbst 2015 oder seit der „Silvesternacht von Köln“. Schon 2014 waren Länder des westlichen Balkans (Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina) per Gesetz zu sicheren Herkunftsstaaten gemacht worden. Doch ab 2015 trat Beschleunigung ein. Es ist geradezu ein Stakkato der Novellen zu verzeichnen: Mit dem Asylpaket I vom Oktober 2015 wurden Grundlagen für schnellere Abschiebungen in die Staaten des westlichen Balkans geschaffen. Für Asylsuchende erfolgte ein Übergang von Geld- zu Sachleistungen. Das Asylpaket II vom März 2016 sah Regelungen vor, um Asylverfahren zu beschleunigen. Der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz wird für zwei Jahre ausgesetzt, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wurden gesenkt. Abschiebungshindernisse wurden reduziert. Das Integrationsgesetz vom August 2016 ermöglicht bindende Wohnsitzzuweisungen, reduziert finanzielle Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, verschärft das Aufenthaltsrecht und schafft Verpflichtungen zur Teilnahme an Integrationskursen und Arbeitsmarktprogrammen. Im Verwaltungsverfahren hat die Praxis, vorwiegend nur noch subsidiären Schutz statt eines Flüchtlingsstatus zu gewähren, weitreichende Folgen. Das von der deutschen Regierung maßgeblich initiierte EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen schafft im Zuge internationaler Kooperation hohe Barrieren für Flüchtlinge, einen Weg in die Europäische Union zu finden.
Der Rückgang neu registrierter Zuwanderer ist längst deutlich. Die Regierungsparteien könnten die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen mit breiter Brust darstellen. Doch ein Defekt der Politikvermittlung führt dazu, dass Maßnahmen und Ergebnisse als solche nicht wahrgenommen werden: Die Politikvermittlung wird von einem Syndrom der Fame-Avoidance geplagt.
Welcher Bürger kann noch angesichts des unionsinternen Streits, vor allem hinsichtlich des unbeirrbaren Insistierens der CSU auf die Obergrenze, erkennen, was die Regierung seit 2015 getan hat? Es entsteht der Eindruck, die Formel „wir schaffen das“ kaschiere eine Mischung von Unbeirrbarkeit und Tatenlosigkeit. Kein politischer Akteur ringt sich dazu durch, was beschlossen und umgesetzt wurde, offensiv als Ausweis politischer Handlungsfähigkeit darzustellen. Jedenfalls in 2016 war Innenminister Thomas de Maizière kommunikativ marginalisiert. Doch wenn es niemanden gelingt, sich der politischen Tatkraft zu rühmen, bleibt das Getane und Erreichte außerhalb des Wahrnehmungshorizonts der Bürgerinnen und Bürger. Der Eindruck bleibt unwidersprochen und vorherrschend, dass nahezu nichts geschehen sei.
Anhand der Kalküle der einzelnen Akteure in der Regierung lässt sich rekonstruieren, wie es zum Syndrom der „Fame-Avoidance“ kommt. Die Präferenz der SPD für eine tendenziell offene Flüchtlingspolitik ist eine Traditionslinie der Partei. Die SPD kann sich schwer mit einem aktiven Zutun zum restriktiven Schwenk brüsten, ohne in normative Widersprüche zu geraten, die zu parteiinternen Auseinandersetzungen führen würden. Hinzu kommt: Die Wahrnehmung, dass SPD-WählerInnen aufgrund ihrer sozialen Lage die Kosten der Zuwanderung unmittelbarer spüren als Anhänger z.B. von Grünen oder FDP, führte den SPD-Vorsitzenden Gabriel gar in Versuchung, von der Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik zu profitieren. Die CDU steht vor der Schwierigkeit, den massiv verschärften restriktiven Kurs offensiv zu verkaufen, wenn dieser Bruch mit der Politik Merkels im Sommer 2015 jene nicht zugleich als historischen Fehler erscheinen lassen soll. Zudem bewegt sich auch die Union in einem Feld normativer Widersprüche: Das Engagement der Kirchen für Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen bindet die Partei und ist von zentraler Bedeutung für die Flüchtlingsarbeit vor Ort.
Die CSU allerdings scheint sich von jeder Rücksichtnahme auf die Sicht der Kirchen gelöst zu haben. Ihre Kritik am Kurs der Regierung bleibt laut und auf die Forderung nach der Obergrenze fokussiert. Simplizität und Symbolik der Obergrenze machen deren kommunikativen Wert aus. Die Forderung verkörpert durchaus die Kunst der Zuspitzung. Doch gerade dieser Holzhammer der Politikvermittlung ist eine destruktive lose Kanone geworden. Die immer wieder vorgetragene Forderung sabotiert mit dem unweigerlich mitschwingenden Untätigkeitsvorwurf mehr als alles andere die Möglichkeiten, das Regierungshandeln in seiner Wirksamkeit darzustellen. Was auch immer die Regierung unter Beteiligung der CSU beschlossen hat: Es reicht nicht und wird nicht reichen, solange es keine Obergrenze ist? Weil dies die Aufmerksamkeit absorbiert, können Bürgerinnen und Bürger kaum wahrnehmen, wo die Regierung ihrem Auftrag zu Handeln entspricht.
In der verwaltungswissenschaftlichen Diskussion wurde der Begriff der Blame-Avoidance eingeführt, um Stagnation als eine Folge von Scheu vor möglichen Schuldzuweisungen zu erklären. Das Syndrom der Fame-Avoidance ist ein parteipolitisches Äquivalent zu jenem administrativen Syndrom. Die Komplikationen für den Parteienwettbewerb durch Fame-Avoidance waren schon im Zusammenhang mit der Ambivalenz der SPD erkennbar, für sich zu reklamieren, was mit der Agenda 2010 in die Wege geleitet worden war. Die problematischen Folgen der Fame-Avoidance in der Migrations- und Flüchtlingspolitik scheinen weit darüber hinaus zu reichen. Das Versäumnis politischer Akteure, das für sich zu reklamieren, was sie initiiert und durchgesetzt haben, führt zu einem Defekt der Politikvermittlung. Die Nicht-Darstellung von Politik unterminiert die Wahrnehmbarkeit politischen Handelns und untergräbt das für die Demokratie grundlegende Erfordernis, das Bürgerinnen und Bürger ein Gefühl der Responsivität entwickeln können. Fame-Avoidance führt zur Wahrnehmung eines nicht funktionierenden Parteienwettbewerbs und zur Wahrnehmung einer Demokratie, die nicht mehr im Sinne der Bürgerinnen und Bürger arbeitet.
Es ist an der Zeit, dass diejenigen, die eine veränderte Ausrichtung der Flüchtlingspolitik gefordert haben, sich hierzu bekennen. Sich des Initiierten zu rühmen und damit die Überwindung von Fame-Avoidance würde den Parteienwettbewerb im Wahljahr 2017 positiv beleben. Gerade wer die Rechtspopulisten fürchtet, muss ein Interesse an wirksamer Regierungskommunikation haben. Die Überwindung dysfunktionaler Politikvermittlung bietet die Chance, ein Gelegenheitsfenster für Problemlöser zu öffnen.
Zitationshinweis
Blätte, Andreas (2017): Politische Kommunikation im Wahljahr 2017 – Fame-Avoidance als Defekt der Politikvermittlung überwinden, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de, Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/politische-kommunikation-im-wahljahr-2017-fame-avoidance-als-defekt-der-politikvermittlung-ueberwinden/