Die Kooperationsveranstaltung „Regieren in der Transformationsgesellschaft“ der NRW School of Governance und des Instituts der deutschen Wirtschaft widmete sich drei Transformationsclustern: Demographie/Diversität, Digitalisierung und Daseinsvorsorge/Dekarbonisierung. Entlang eines interdisziplinären Zugangs wurden die Teilnehmenden dazu angeregt, den Fallstricken des Transformationsmanagements nachzuspüren und gemeinsam mit Expert:innen erste Lösungsansätze zu skizzieren und zu diskutieren. Dr. Matthias Diermeier, Arno von Schuckmann und Philipp Richter zeichnen den Ablauf, die Ergebnisse und die erarbeiteten Impulse aus der Perspektive politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen nach.
Aus den Themen Daseinsvorsorge/Dekarbonisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel/Diversität ergeben sich für Gesellschaft und Wirtschaft erhebliche Wandlungsbedarfe. Die gleichzeitige Bewältigung der unterschiedlichen Transformationen stellte sich schon in politisch ruhigeren Zeiten als äußerst herausfordernd dar.
Regieren in der
Transformationsgesellschaft
Impulse aus einem gemeinsamen Ideen-Speed-Dating der NRW School of Governance und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Autoren
Dr. Matthias Diermeier leitet am Institut der deutschen Wirtschaft das Kooperationscluster Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft.
Arno von Schuckmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen.
Philipp Richter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen.
Zusammenfassung
Aus den Themen Daseinsvorsorge/Dekarbonisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel/Diversität ergeben sich für Gesellschaft und Wirtschaft erhebliche Wandlungsbedarfe. Die gleichzeitige Bewältigung der unterschiedlichen Transformationen stellte sich schon in politisch ruhigeren Zeiten als äußerst herausfordernd dar. Die aus dem Krieg in der Ukraine resultierende Energiekrise drängt in vielerlei Hinsicht dazu, die bestehenden Anstrengungen noch zu beschleunigen und steigert ebenso die Gefahr einer kollektiven Überforderung. Aus ökonomischer Perspektive steht dabei nicht weniger als die Zukunft des industriellen Kerns der deutschen Wirtschaft auf dem Spiel (Demary et al. 2021). Schließlich müssen die Dekarbonisierung der Wertschöpfung und die Digitalisierung der Geschäftsprozesse nun in Rekordtempo und zudem mit einer einzigen alternden Transformationsgeneration bewältigt werden. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene sind die großen Konfliktlinien alldieweil so ausgehärtet, dass sich gerade Menschen mit besonders hohem Involvement vom als ermüdend empfundenen parlamentarischen Prozess abwenden (Diermeier und Niehues 2021). Der verunsicherte Blick der „Sicherheitsdeutschen“ wendet sich hinsichtlich des Wunsches nach „Krisenlotsenschaft“ (Korte 2022) klar in Richtung Regierung. Tatsächlich hat sich die aktuelle Regierung auf Bundesebene unter der Flagge einer Transformationskoalition zusammengefunden.
Bereits der aus einer interdisziplinären Roundtable-Veranstaltung unter der Organisation von NRW School of Governance, Institut der deutschen Wirtschaft und SINUS-Institut im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 hervorgegangene Sammelband, der vielfältige Impulse zu den gouvernementalen Herausforderungen der Ampel-Regierung vereint, setzt ein Fragezeichen hinter die Überschrift des Koalitionsvertrags: „Mehr Fortschritt Wagen?“ (Bergmann 2022). Der vorliegende Beitrag widmet sich insbesondere dem Ablauf, den Ergebnissen und den erarbeiteten Impulsen der Kooperationsveranstaltung „Regieren in der Transformationsgesellschaft“ der NRW School of Governance und des Instituts der deutschen Wirtschaft.
Ablauf
Die gemeinsam von der NRW School of Governance und dem IW veranstaltete Tagung „Regieren in der Transformationsgesellschaft“ hat sich am 18. November 2022 in Duisburg zum Ziel gesetzt, das interdisziplinäre Momentum vergangener Kooperationen aufzugreifen und entlang im Vorfeld identifizierter Transformationscluster – Demographie/Diversität, Digitalisierung und Daseinsvorsorge/Dekarbonisierung – den Fallstricken des Transformationsmanagements nachzuspüren sowie erste Lösungsansätze zu skizieren. Jeweils zehn Expert:innen aus den Netzwerken der Veranstalter:innen wurden dafür pro Cluster eingeladen.
In einer ersten Runde entwickelten moderierte Kleingruppen à fünf Spezialist:innen (zwei Gruppen pro Cluster) erste Thesen darüber, weshalb die zum Teil offensichtlichen Transformationsbedarfe vonseiten der Politik bis dato häufig nur unzureichend adressiert wurden. Um die intensiven Diskussionen zu framen, wurden die Teilnehmer:innen im Vorfeld mit kurzen Handouts zur Problemdarstellung und den zentral zu diskutierenden Leitfragen in der Diskussion zum Themenfeld gebrieft. Aufgabe der Kleingruppen-Moderator:innen war es, die teilweise konfligierenden Perspektiven über die Disziplingrenzen hinweg zu übersetzen und gemeinsame Befunde herauszuarbeiten.
Im Anschluss an diese 45-minütigen Auftaktdiskussionen wurden die sechs Kleingruppen zu themenspezifischen Gruppen à 10 Teilnehmer:innen (eine Gruppe pro Cluster) zusammengeführt. Die Moderator:innen aus der ersten Runde präsentierten die jeweiligen Ergebnisse knapp an einer Pinnwand und eröffneten so eine weitere 45-minütige Diskussion. Explizite Zielsetzung war es hierbei, sich auf drei konkrete Thesen oder Lösungsvorschläge zu einigen, um die bestehenden Konfliktlinien multiperspektivisch zu verstehen und bestenfalls aufzulösen.
Verdichtet zu rund dreiminütigen Impulsen präsentierten abschließend drei ausgewählte Rapporteur:innen (einer/eine pro Cluster) zum Auftakt einer ebenfalls 45-minütigen Abschlussrunde die erarbeiteten Anregungen im Plenum und adressierten dabei das mit Thomas Kutschaty (Fraktions- und Landesvorsitzender NRW SPD) und Tanja Nackmayr (stellvertretende Hauptgeschäftsführerin, unternehmer nrw) besetzte Abschlusspanel. Die Ergebnisse der intensiven Diskussionen ließen sich so unmittelbar mit Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft spiegeln. Festgehalten wurden die Diskussionen und Resultate durch einen Graphic Recorder, der die komprimierten Ergebnisse bildlich zueinander in Beziehung setzte (siehe Abbildung).
Im Folgenden werden zu den drei Themenfeldern die zentralen Diskussionsstränge der Kleingruppen gespiegelt und aus Perspektive der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen reflektiert.
Demographie/Diversität
Als Ausgangsbefund wurden die beiden Kleingruppen im Politikfeld Demographie/Diversität mit der Unterfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme (gesetzliche Renten-, Kranken und Pflegeversicherung), den Implikationen des Fachkräftemangels sowie der zunehmenden Diversität der deutschen Gesellschaft konfrontiert. Konkret wurden die seit langem prognostizierte Zunahme an Rentner:innen um 5 Millionen Menschen bis 2040 sowie der damit einhergehende Anstieg des Altenquotienten1 von 31 auf 47 Prozent angeführt (Hüther et al. 2021; dazu auch Huebener 2023). Obwohl diese Entwicklungen unweigerlich zu ökonomischen und gesellschaftlichen Konflikten führen müssen, werden sie von Seiten der Regierung seit mehreren Legislaturperioden nicht adäquat adressiert. Aus Perspektive der Regierungsforschung gilt es folglich zu diskutieren, inwiefern die Abwesenheit politischer Gestaltungsansprüche auf bestehende Zumutungsaversionen innerhalb deren Wählerschaft zurückzuführen ist.
So erschweren die Wiederwahlinteressen der politischen Akteure die gleichermaßen unpopulären Ansätze wie die Ausweitung der Lebensarbeitszeit, die Einführung höherer Beitragssätze oder die Durchsetzung niedrigerer Leistungsansprüche. Eine Auflösung der sich verschärfenden demographischen Schieflage innerhalb des bestehenden sozialen Sicherungssystems rückt damit in weite Ferne (Pimpertz 2020). Ebenso steht einer für die Fachkräftezuwanderung dringend notwendigen Entbürokratisierung und Liberalisierung des Einwanderungsrechts (Anger et al. 2022) die überschaubare Zustimmung breiter Wählerschichten hinsichtlich der Ausweitung von Migrationsperspektiven im Weg. Schließlich übersetzten sich bessere Bleibeperspektiven mittelfristig in eine noch heterogenere Gesellschaft.
Letztere – darauf weisen nicht nur die Wahlergebnisse in Ostdeutschland hin – ist bereits heute kaum gewillt, sich auf eine inklusive Identitätspolitik zu verständigen. Wie und ob sich gemeinsame Identitäten einer heterogenen Gruppe auf regionaler oder lokaler Ebene ausbilden könnten, wurde in den Kleingruppen kontrovers diskutiert.
Die Zusammenhänge der Problemlagen lassen sich dabei klar beschreiben. Der demographische Wandel bedingt – bei der erwartbaren Abwesenheit eines unerwarteten Produktivitätssprungs – in einem umlagefinanzierten Rentensystem bei unverändertem Renteneintrittsalter und Beitragssatz eine Unterfinanzierung zukünftiger Rentenbezüge sowie eine wachsende Fachkräftelücke. Gleichzeitig entwickeln sich gesellschaftliche Strömungen, die flexiblere Arbeitszeitmodelle und eine Verringerung der Jahresarbeitszeit einfordern. Bereits an der zeitlichen wie monetären Bereitschaft der „Transformationsgeneration“ (Hüther 2023), dem bestehenden System unterstützend beizuspringen, könnte die Bewältigung des Wandels scheitern. Zumal in einer verbesserten Betreuungsinfrastruktur für Kinder sowie angemessenen Weiterbildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten lediglich kleinere Potenziale liegen, die Erwerbstätigkeit auszuweiten, jedoch kaum in einem den Herausforderungen entsprechenden Maße.
Es kristallisiert sich heraus, dass selbst kluge Innovations- und Bildungspolitik seine Wirkung erst langfristig entfalten. Kurz- und mittelfristig ist ein erfolgreiches Demographie- und Fachkräftemanagement auf Menschen aus dem Ausland angewiesen. Damit mehr Zuwanderung in der deutschen Gesellschaft nicht auf Überforderung trifft, bedarf es wiederum einer proaktiven politischen Kommunikation, die auf die langfristigen Veränderungen der Gesellschaft hinweist. Einigkeit herrschte in den Diskussionsgruppen über eine Abkehr vom Alternativlosigkeit suggerierenden Motto „wir schaffen das“. Schließlich hat die Politik so verhärtete gesellschaftliche Fronten provoziert, wo doch die dringliche Notwendigkeit besteht, einer Kultur der gegenseitigen Wertschätzung den Weg zu ebnen. Die Innovationen des aktuell diskutierten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes (Fachkräfte-, Erfahrungs- und Potenzialsäule) sind zwar noch immer kaum ausreichend, um die Versäumnisse in puncto Bürokratie, Anerkennungsprozessen und gezielter Ansprache von Auszubildenden auszuräumen, gehen aber dennoch in die richtige Richtung (Geis-Thöne 2022). Zu bedenken bleibt hingegen: Wenn die Zuwanderung nach Deutschland mit vereinfachten und längeren Bleibeperspektiven einhergehen soll (siehe auch die Diskussion um eine Reform des Staatsbürgerrechts2, braucht es einen ebenso breiten wie von oben angestoßenen gesellschaftlichen Diskurs, der die bestehenden Ängste und Ressentiments ernst nimmt. Ähnlich der von Wirtschaftsminister Robert Habeck – mit seiner im Kontext der Energiewende getätigten Aussage, „das Antlitz des Landes wird sich verändern“ – angestoßenen Debatte darf auch die benötigte Vereinfachung des Zuwanderungsrechtes nicht als administrative Handlung durchregiert werden, sondern bedarf vielmehr einer weitreichenden demokratischen Rückbindung. Denn die „post-Gastarbeiter“-Zuwanderung ist gerade darauf ausgelegt, ökonomische, gesellschaftliche und politische Logiken zu verändern – etwa, weil Zugewanderte legitime Ansprüche an den Sozialstaat oder die politische Willensbildung stellen. Um diese Entwicklungen ehrlich und angemessen zu vermitteln, braucht es partizipative Angebote der politischen Bildung und möglicherweise auch eine sukzessive Ausweitung des Wahlrechts.
Auch hinsichtlich der nahenden Finanzierungsschwierigkeiten der sozialen Sicherungssysteme bedarf es einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion. Schließlich erscheint es kaum als sinnvoller Weg, den Kollaps des sozialen Sicherheitsnetzes praktisch zu provozieren, um anschließend Reformen aus der Not heraus zu erzwingen. Zwar wurde dieser Weg mit dem Beschluss zur Rente mit 67 im Jahr 2007, als die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht mit dem Rücken zur Wand stand, verhältnismäßig erfolgreich begangen, bis heute wirken aber die Widerstände gegen diese top-down verordnete Politik nach – insbesondere in der deutschen Sozialdemokratie.
Auch eine partizipative bottom-up Annäherung an die Rentenproblematik muss der Komplexität sowie der Brisanz des Themas wegen beträchtliche Stolpersteine aus dem Weg räumen. Aus dieser Notwendigkeit heraus diskutierte das Cluster die Idee eines Bürgerrats Rente, in dem repräsentativ aus der deutschen Bevölkerung ausgewählte Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg Lösungen für die Zukunftsfähigkeit des deutschen Rentensystems erarbeiten. Der Bürgerrat würde dabei auf Impulse ganz unterschiedlicher Expert:innen zurückgreifen, die auch best-practice Beispiele aus anderen Ländern skizzieren.3 Am Ende eines solchen Prozesses stünden mehrheitlich getragene Reformvorschläge, die etwa direkt an den Rentenausschuss des deutschen Bundestages übergeben werden könnten. Als demokratisch nicht legitimiertes Gremium ist ein Bürgerrat kein Ersatz für parlamentarische Debatten, kann diesem in einer derart verfahrenen Situation jedoch wichtige Impulse liefern und ein öffentliches Lernen mit Transferfunktion ermöglichen – sofern zentrale Akteure zubilligen, Ergebnisse und Vorschläge zeitnah aufzunehmen und als Diskussionsgrundlage zu respektieren. Der demographische Wandel jedenfalls wartet nicht auf die Entscheidungen der Politik.
Digitalisierung
Die digitale Transformation gilt heute als Metatrend, der sich auf alle Bereiche des Lebens auswirkt (Goldmann und Bieber 2023). Wurde sie lange als beiläufig wahrgenommen, veränderte die Corona-Pandemie den gesamten Blick auf die Digitalisierung, als die „Lücken der digitalen Organisation“ (Borucki et al. 2020) evident unmittelbar wurden. Schulen waren nicht in der Lage, digitalen Unterricht zu realisieren, da diese in Teilen nicht einmal über WLAN verfügten (Gillmann 2021). Ebenso wurde der digitale Rückstand in der Verwaltung, den Unternehmen und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen schlagartig sichtbar. Gleichzeitig zeigten sich jedoch bei den meisten betroffenen Akteuren eine unerwartete ‚Pandemie-Rendite‘ in Form flexibler Anpassungspotenziale. Innerhalb dieses Kontextes diskutierten die Teilnehmer:innen des Digitalisierungs-Clusters drei zentrale Aspekte: Den Umgang mit dem Datenschutz, den Föderalismus als Treiber/Hemmnis sowie die dringend notwendigen Investitionen der Digitalpolitik.
Im Gegensatz zu den häufig vorgetragenen Argumentationsmustern stufte das Cluster den Datenschutz als eine in einigen Fällen artifiziell vorgeschobene Problemlage ein, der als Stoppschild herangezogen wird, wenn eine Arbeits- oder Funktionsweise geändert werden soll.
Etwa gilt eine Regulierung wie die DSGVO in der gesamten EU, in ihrer Umsetzung sind andere Länder häufig jedoch teilweise offener als Deutschland. Folglich wurde die Vermutung diskutiert, dass sich die Bundesrepublik nicht nur an ihren juristischen, sondern mindestes ebenso an ihren kulturellen Digitalisierungshemmnissen abarbeiten sollte. Konkret spürbare Nachteile entstehen für Bürger:innen beispielsweise in der Gesundheitspolitik, in der zuletzt eine Debatte entbrannt ist, inwiefern ein zu strenger Datenschutz einer adäquaten Versorgung im Wege steht (Neuerer 2022). Darüber hinaus werden Daten hierzulande in vergleichsweise viel zu geringem Maße wirtschaftlich nutzbar gemacht, was nun in der neuen Datenstrategie der Bundesregierung adressiert werden soll. Gerade kleinere Unternehmen werden in der Bewirtschaftung ihrer Daten bislang nicht enabled sondern vielmehr gehemmt (Büchel und Engels 2022). Um hier Abhilfe zu schaffen, müsste, so der Konsens im Cluster, die Regulatorik dahingehend angepasst werden, dass klare und nachvollziehbare Regeln, rechtssicheres Handeln ermöglichen – freilich ohne zu vernachlässigen, dass Menschen und Unternehmen ihr Handeln nicht nur an den juristischen Realitäten ausrichten. Flankierend bräuchte es dringend konkrete Anreize in Form der in der deutschen Digitalstrategie angekündigten Förderung datengetriebener Geschäftsmodelle. Zudem bestehen sichtbare Einschränkungen hinsichtlich des Datenmanagements, etwa wenn Daten (bewusst oder unbewusst) in unterschiedlichen Formaten vorliegen/gesammelt werden, infolgedessen jedoch in der Weiterverarbeitung häufig inkompatibel sind (Stiens 2022).
Die Komplikationen mit Datenschutz und Datenmanagement überspielen dabei die strukturellen Herausforderungen, die der bundesrepublikanische Föderalismus gerade in der Verwaltung der Kommunen mit sich bringt. Hofmann (2023) konstatiert, dass „der Staat (…) die Verantwortung für seine eigene Digitalisierung auf so viele Schultern [verteilt], dass ein Erfolg kaum möglich ist“. Überspitzt formuliert hat jede Kommune ihr eigenes IT-System. Die häufig schlechte digitale Zugänglichkeit von Daten aus staatlicher Hand ist demnach nicht nur durch kulturelle Hemmnisse im Kontext von Datenschutz und Datenmanagement begrenzt, sondern ebenso durch den Föderalismus, in dem unterschiedlichste Strategien der Datenökonomie praktiziert werden (Demary 2023). Von verbindlichen und einheitlichen Standards von staatlicher Seite wäre demnach eine erhebliche Strahlkraft auf alle nachgelagerten privaten Akteure zu erwarten. Um den Digitalisierungsfriktionen im beschriebenen Kontext zu begegnen, wurden als weitergehende Ableitung aus dem Ideen-Speed-Dating die Potenziale von Leuchtturmprojekten benannt, die den Mehrwert einer ggf. zentral koordinierten Digitalisierung befördern. Wirkliche Sichtbarkeit kann nur durch konkrete Mehrwerte geschaffen werden und seine Strahlkraft entfalten. Das kann, so der Tenor der Diskussion, nur gelingen, wenn analoges Denken nicht einfach digital übersetzt wird; es gilt ein zielorientiertes Denken zu implementieren. Ganz im Sinne von Armin Nassehi (2019): Wie muss es sein, damit es funktioniert?
Ausführlich diskutiert wurde des Weiteren die Investitionsrezession in der digitalen Infrastruktur – sichtbar im Digital Economy and Society Index (European Commission 2022), in dem Deutschland nur einen Mittelfeldplatz belegt. Deutschland kann selbst im europäischen Vergleich kaum mithalten – noch dramatischer wird dieser Abstand im Vergleich zu großen digitalen Playern wie den USA und China.
Die Gefahr, aufgrund mangelhafter Grundvoraussetzungen wettbewerbsfähigen Wirtschaftens ökonomisch in der Breite den Anschluss zu verlieren, ist hoch. Um die Investitionsfeindlichkeit zu stoppen, sollte das Politikfeld nach Ansicht der Diskussionsteilnehmer:innen insgesamt sichtbarer gestaltet werden und den Akteuren so ihre Unsicherheiten nehmen. Gelingen könnte dies, wenn vermittelt würde, wie dramatisch die Auswirkungen einer fehlenden umfassenden Digitalisierung sein werden und wenn das Politikfeld ins Zentrum machtpolitischer Erwägungen rückt – wie dies auch die jüngsten Cyberangriffe auf die öffentliche Infrastruktur (Windräder, Deutsche Bahn, Universität Duisburg-Essen) nahelegen. Als Fazit lässt sich festgehalten, dass in Deutschland derzeit kaum genug digitalisiert werden kann.
Daseinsvorsorge/Dekarbonisierung
Als roter Faden zog sich durch alle Transformationscluster das Einbinden der Zivilgesellschaft als eine Grundvoraussetzung für eine gelingende Transformation – also zur Stärkung der allgemeinen Wandelbereitschaft. Ausgehend von dem Gewissheitsschwund, der durch den russischen Überfall auf die Ukraine entstand, wurde in den zwei Kleingruppen zum Thema Daseinsvorsorge/Dekarbonisierung zunächst die gänzlich in den Fokus gerückte Dekarbonisierung von Gesellschaft und Wirtschaft zur Diskussionsgrundlage gemacht. Wenngleich Daseinsvorsorge oder auch wohlfahrtsstaatliche Politik breiter zu verstehen sind als es die Implikationen der Dekarbonisierung anmuten lassen (Schmidt und Ostheim 2007), erschien letztere den Kleingruppen zentral. Denn gerade in der aktuellen Situation lassen sich viele wohlfahrtsstaatliche Forderungen und Reformen nur vor dem Spannungsfeld zwischen (zu) hohen Energiepreisen und der Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verstehen (Schaefer 2022).
Da die Folgen empfindlich steigender Energiepreise so erheblich erscheinen und die Herangehensweisen zur Aufrechterhaltung eines leistungsfähigen Wohlfahrtsstaates der Parteien so divers sind, stellten die beiden Kleingruppen im Abgleich ihrer Positionen zuerst die Frage nach der demokratischen Gestaltungsvision: Wie schafft man es trotz der Abstraktion des Klimaneutralitätsbegriffes, Menschen mitzunehmen? Wie kann ein klares Zielbild definiert und greifbar vermittelt werden (Beckert, 2018)? Helfen kann hier, sich vom Terminus der Transformation zu lösen, wird dieser doch sehr disruptiv und umstürzend verstanden. Eine Transformation in kleinen Schritten – beispielsweise kommuniziert als sukzessive Veränderung – könnte Abhilfe leisten (Truger 2023). Dabei muss das weit verbreitete Denken in Nullsummenspielen zugunsten eines Positivsummenspiels überwunden werden: Eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft muss als Mehr und nicht als Weniger verstanden werden. Nur so könnten die beiden Seiten – die, der die Transformation nicht schnell genug geht und die, der sie zu schnell geht – versöhnt und mobilisiert werden.
Der Mut, auf allen Ebenen konsequent zu handeln (Fischedick 2023) – vor allem politisch – führt aber zwangsläufig zu Konflikten. Zwar hat sich die Erkenntnis, dass der Klimawandel eine der größten Herausforderungen der Menschheitsgeschichte ist, längst in der Breite der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik verankert. Jedoch bestehen wesentliche Interessenskonflikte zwischen den Politikfeldern Wirtschaft, Klima und Soziales (Institut für Demoskopie Allensbach 2021).
Die Vorschläge zur Lösung solcher Konflikte, welche die beiden Kleingruppen intensiv diskutierten und schließlich auch für den Praxisabgleich rapportierten, gingen auch auf die Notwendigkeit von Schuldenschnitten ein – also Altschuldenlösung für die Kommunen, mit dem Ziel, allen Bürger:innen einen klar definierten Leistungskatalog von Daseinsvorsorge öffentlichkeitswirksam bereitzustellen. Im Zentrum der Diskussion stand nicht nur die Frage, welche Leistung der Staat anbieten sollte, sondern ebenso wie diese zu kommunizieren seien. Denn evident scheint, dass das Gros der Gesellschaft nicht durch eine Verzichts- oder im schlimmsten Fall gar eine Verlusterzählung für die Transformationsherausforderungen gewonnen werden kann.
Um die breite Bevölkerung mitzunehmen, die Veränderungen positiv zu konnotieren und diese dadurch erst zu ermöglichen, braucht es zudem grüne Marktanreize mit klarer Lenkungswirkung – wie beispielsweise mit der CO2-Bepreisung bereits geschehen –, um Ökologie und Wettbewerbsfähigkeit nicht gegeneinander auszuspielen (Klenert et al. 2018). Dafür ist der Abbau klimaschädlicher Subventionen unumgänglich. Es werden umfassende Umschulungsmaßnahmen benötigt, um diejenigen, deren Arbeitsplätze gefährdet sind, für neue Anforderungen zu qualifizieren (Monsef/Wendland 2022). Es bedarf an die räumlichen Bedingungen der Bevölkerung angepasste Lösungen, denn die Herausforderungen der Stadt sind gänzlich andere als die Herausforderungen des ländlichen Raumes (Weingarten/Steinführer 2020; Weingarten 2023). Letztlich braucht es eine faire Verteilung der Lasten, um die Teile der Bevölkerung, die aufgrund fehlender Ressourcen bereits benachteiligt sind, weiterhin an sozialen, kulturellen und politischen Geschehnissen teilhaben zu lassen. All dies wurde im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition angedeutet, geriet aber aufgrund der aktuellen Vielfachkrisen in den Hintergrund. Zuletzt wurde die Lenkungswirkung der hohen Energiepreise weit über besonders prekäre Bevölkerungsschichten hinaus abgefedert, was gerade in den oberen Einkommensschichten suggerieren könnte, größere Verhaltensanpassungen wären weniger nötig (Bergmann et al 2023). Im Rapport wurde deshalb für eine sukzessive Rückbesinnung auf die deutlich zielgerichteteren oben benannten Projekte plädiert.
Interdisziplinäre Kooperationsdividenden
für die Transformationsgesellschaft
Im Rahmen der Veranstaltung vom 18. November 2022 konnte der Mehrwert einer echten Interdisziplinarität zwischen den sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufgezeigt werden. Dies wird seit Jahren gefordert, jedoch kaum praktiziert. Auf eine kursorisch-experimentelle Art ist es im Zuge des Ideen-Speed-Datings gelungen, das kaleidoskopische Zusammenspiel der einzelnen Disziplinen den subjektiven Einschätzungen von Praktiker:innen anzunähern und aktuelle Probleme in ihrer Vielschichtigkeit kontrovers sowie lösungsorientiert zu diskutieren. Entwickelt wurde ein Format, das den unter Druck geratenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (zu denen auch die Ökonomie zählt) dringend nahegelegt werden kann. Nur so können die aktuellen Probleme, die, da sie genuin menschengemacht sind, eben auch sozialwissenschaftliche und nicht nur technische Antworten benötigen, adäquat angegangen werden.
Interdisziplinarität erschöpft sich zwar nicht in der Zusammenarbeit von Ökonomie, Politik-, Kommunikationswissenschaft und Soziologie, doch müssen hier zwingend institutionalisierte Formate geschaffen werden. Diesen Schritt möchten die NRW School of Governance und das Institut der deutschen Wirtschaft nun gehen. In weiteren interdisziplinären Follow-Up-Meetings der Gruppen sollen die noch recht provisorisch anmutenden Ergebnisse der Kooperationsveranstaltung unter Berücksichtigung weiterer Praxisimpulse ausgearbeitet werden, um Policy Briefs zu verfassen und zu publizieren.
Der positive Grundton der Veranstaltung soll dabei beibehalten werden. Die Herausforderungen sind groß, aber die Bedingungen in Deutschland und Europa für eine prosperierende Zukunft sind angelegt. Werden die vorhandenen Potenziale ausgeschöpft und weiter forciert, erscheint auch die Zukunft des politischen Systems und der deutschen Wirtschaft gesichert. Die entscheidende Frage ist: Wie findet die aktuelle Regierung ihren Gestaltungswillen und Zukunftsoptimismus wieder, um den reaktiven Modus des Regierens in einen proaktiven zu verändern – wie kann mehr Fortschritt gewagt werden und welchen Beitrag kann sozialwissenschaftliche Forschung dabei leisten?
Zudem werden sich große Teile der Ergebnisse auch in dem Konzeptband „Regieren in der Transformationsgesellschaft“ (Korte et al. 2023) wiederfinden.
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Zitationshinweis
Diermeier, Matthias, Richter, Philipp & von Schuckmann, Arno (2023): Regieren in der Transformationsgesellschaft, Impulse aus einem gemeinsamen Ideen-Speed-Dating der NRW School of Governance und dem Institut der deutschen Wirtschaft, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/regieren-in-der-transformationsgesellschaft/
This work by Matthias Diermeier, Arno von Schuckmann and Philipp Richter is licensed under a CC BY-NC-SA license.
- Dieser setzt den Anteil der Einwohner im Alter über 66 Jahren in Relation zum Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 66 Jahren. [↩]
- Siehe https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw48-de-aktuelle-stunde-einbuergerung-924032 [↩]
- Bislang wurden und werden in Deutschland unter anderem Bürgerräte zu den Themen Demokratie, Klima, Bildung sowie Forschung durchgeführt. Siehe dazu: https://www.buergerrat.de/. [↩]