Transformatives Regieren: Über modernes Führen in der ampeligen Lern-Koalition

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, der an der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen lehrt und forscht, wirft einen Blick auf das Regieren der Ampel-Koalition und ihr ambitioniertes Transformationsvorhaben, eine Wachstumsgesellschaft in eine digitale sozial-ökologische Nachhaltigkeitsgesellschaft zu katapultieren. Wie lässt sich das Regieren zu dritt vor diesem Hintergrund beschreiben?

Wie umarmt man Widersprüche – zumal zu dritt? Die Berliner Ampel-Koalition macht es vor. Sie löst damit ein, was im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP angelegt war: „…politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen.“ Das gilt nicht nur für das Alltagshandeln der Spitzenakteure, sondern offensichtlich auch für die Maßstäbe der Beurteilung der Ampel-Regierung. Denn eine Klarheit gegenüber einer lagerübergreifenden Koalitionsregierung existiert nicht.

Transformatives Regieren: Über modernes Führen in der ampeligen Lern-Koalition

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

Wie umarmt man Widersprüche – zumal zu dritt? Die Berliner Ampel-Koalition macht es vor. Sie löst damit ein, was im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP angelegt war: „…politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen.“ Das gilt nicht nur für das Alltagshandeln der Spitzenakteure, sondern offensichtlich auch für die Maßstäbe der Beurteilung der Ampel-Regierung. Denn eine Klarheit gegenüber einer lagerübergreifenden Koalitionsregierung existiert nicht. Mit dem Ende des Merkelismus endet auch die Klarheit von Koalitionsbildungen der linken oder rechten Mitte.

Ampeliges Regieren kommt schon deshalb modern hybrider daher. Transformatives Politikmanagement folgt kollektiven Lernprozessen. Die Transformationsvorhaben könnten nicht größer sein, eine Wachstumsgesellschaft in eine digitale sozial-ökologische Nachhaltigkeitsgesellschaft zu katapultieren. Sowas regelt kein Regierungsalltag. Es fordert schöpferisch-experimentell heraus.

Wir erinnern uns an das ungewöhnliche Kanzler-Casting einer Zitrus-Formation, bei der die grün-gelbe junge, neue Bürgerlichkeit Gemeinsamkeiten auslotete, bevor man sich schwarze (Union/Laschet) oder rote (SPD/Scholz) Mehrheiten suchte. Auch die bildmächtige Selbstpersonalisierung via Selfie (Baerbock/Habeck/Lindner/Wissing) wies den ungewöhnlichen Weg der Ampel-Koalition: Wir vermitteln uns selbst in unmittelbarer Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern. Die uns dabei anschauende versöhnte Verschiedenheit der drei zentralen Akteure hatte visuell das Potential zum Aufbruch. Das Wagnis des Beginnens wies den Weg einer Überformung unserer traditionellen Kanzlerdemokratie. Aus ihr wird in der Dreier-Koalition eine kollaborative Demokratie. Zwei Parteien einigen sich anders als drei. Die Fraktionen können stärker werden, wenn sich die Macht aus dem Kanzleramt tendenziell verschiebt. Denn gleich zwei kleinere Parteien haben ein Interesse daran, einen übermächtigen Kanzler einzuhegen. Das eröffnet mehr Spielräume für Darstellungen der Ressorts und neue Bühnen für Ausschussvorsitzende des Deutschen Bundestages. Die Regierung ist systematisch vielstimmiger als in Zeiten der klassischen Kanzlerdemokratie. Unterstützt wird diese Neubelegung demokratischer Prozesse auch durch die Dynamik einer neuen, diskursiven demokratischen Opposition im Deutschen Bundestag, die die Diskursallergie in Zeiten der GroKo-Formationen ablöst.

In einer mehr kollaborativen Demokratie entsteht die politische Macht dabei im wechselseitigen Miteinander, im Interagieren. Der kreative Austausch der Möglichkeitsmacher führt die Prozesse. Die Entscheidungsfähigkeit ist wichtiger als die Entscheidungskompetenz. Das Handeln, bei dem man sich mit anderen zusammenschließt, um ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen, um Verantwortung zu übernehmen, generiert Macht – keine Macht der Mehrheit und der Mandate. Das politische Ermöglichen realisiert Macht im Konzept einer immerwährenden Kollaboration. Die Macht kann dabei im Kanzleramt sein, muss sie aber nicht.

Auch die Opposition, die jetzt wieder mehrheitlich demokratisch aufgestellt ist, kann machtvoller triumphieren. Wann hat zuletzt eine Oppositionsfraktion eine Abstimmung zur Geschäftsordnung gewonnen, wie an dem kuriosen Tag der Entpflichtung von der Impfpflicht? Agiles transformatives Regieren in Dreier-Koalitionen hybridisiert die klassischen Machtkonstellationen. Kollaboratives Regieren überführt die Kanzlerdemokratie in agiles und komplexes Lernen. Das gilt auch für die Betrachtung von möglichen Ergebnissen. Denn die Rituale des Siegens und des Verlierens heben sich auf.

Der Modus des Veränderns im Kontext von Transformationen in Zeiten der Krisen-Permanenz ist vielschichtig. Er führt zu mehreren Spielarten des transformativen Regierens. Der Modus verbindet verschiedene Komponenten. Vieles deutet darauf hin, dass das jeweilige Politikfeld auch den vorrangigen Typus des Politikmanagements bestimmt.

Da beobachten wir scheinbare Verantwortungsfluchten im Kontext einer Impfpflicht, auf die sich die Koalition vorab nie verständigt hat. Die Einigung glich eher einem „Verzichtskonsens“ (Nassehi). Bei dieser spezifischen Kompromissvariante entsteht mehr Einheit durch mehr Differenz. Es ist ein Konsens darüber, worauf die drei Regierungsparteien verzichten müssen, um andere gemeinsame Ziele zu erreichen. Der Kanzler wollte die Impflicht. Der Gesundheitsminister wollte sie auch. Aber vor allem die FDP wollte sie nie. Ein Umgang mit Perspektivdifferenz und Kollaboration belässt das Ergebnis der Bundestagsabstimmung zur Impfpflicht aus Sicht der Ampel als bestätigtes Lernergebnis. Wir lernen funktionale Differenz auszuhalten. Im Prozess des lernenden Miteinanders spielt die Kategorie des Gewinnens oder Verlierens keine Rolle. Es zählt in einer Diskurskoalition mehr die Macht des Miteinanders als die Logik der Mehrheit. Als Stilmittel dieses diffus wirkenden Nebeneinanders arbeitet die Regierung als auswählender Kurator. Sie erteilt in Teilen appellative Anordnungen. Man sortiert, wohl dosiert dringende Empfehlungen: Lassen sie sich bitte impfen! Keiner übernimmt die Verantwortung für eine Impflicht, die man hätte haben können.

Ampeliges Regieren ist aber in anderen Politikfeldern wiederum komplett anders erlebbar. Inklusive Transformation, noch dazu in Krisen-Permanenz, muss politisch partizipativ, sozial solidarisch und kommunikativ angelegt sein, zumal, wenn sich durch Knappheit auch Verteilungsfragen zuspitzen. Mit so einem Arbeitsauftrag ausgestattet, sucht die Koalition nicht nach Schnittmengen von Gemeinsamkeit, sondern nach einer Neubelebung der Debattenkultur.

Und dazu trägt auch maßgeblich Bundeskanzler Scholz bei, der mit stoischem Minimalismus und verlässlicher Autorität, einen einzigen Auftritt nutzen kann. Seine Regierungserklärung in der Sondersitzung des Deutschen Bundestags zum Ukraine-Krieg war ein Kipppunkt der deutschen Politik, ein Momentum, bei dem innerhalb weniger Minuten jahrzehntelange Gewissheiten niedergerissen wurden. Ein Befreiungsschlag für vernunftbestimmte und zugleich empörungsresistente Politik. Ein Ende der Zurückhaltungskultur der Sicherheitsdeutschen. Ein eloquentes Beispiel unserer Kanzlerdemokratie. Scholz stellte klassisch Hierarchie mittels Richtlinienkompetenz auf. Und sogar die Opposition leistete während und nach der Rede stehende Ovationen. Das priorisierende Kanzlerprinzip existiert in funktionaler Differenzierung offenbar neben den innovativen Formaten der kollaborativen Lern-Koalition. Dass solche Momente der Richtlinienkompetenz zwar Macht generieren, aber nicht konservieren, lernte der Kanzler schnell.

Eine dritte Spur oder Spielart des transformativen Regierens beobachten wir auf dem Feld der Klima- und Umweltpolitik. Die Wucht des Kriegsereignisses antiquierte den Koalitionsvertrag, der in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit die ausformulierten Zumutungen der Transformation völlig neu gewichtete. Das inhaltliche Potenzial des Koalitionsvertrages und der veränderungspatriotische Duktus bleiben relevant, aber in einer neuen Gewichtung. Sicherheit geht zukünftig keineswegs vor Klimaschutz. Vielmehr ist sichtbar geworden, dass Infrastruktur – am Beispiel der Energiesicherheit – auf vielfältige Weise unsere Freiheit absichert. Resilienzvorsorge geschieht im Regierungsrepertoire der Ampel aber nicht kuratiert, wie im Bereich Gesundheit oder hierarchisiert, wie bei Sicherheitsfragen, sondern eher über Anpassungen.

Beim Thema Umwelt- und Klimaschutz fehlt der oder das Gegenüber. Mit Erdbeben oder der Erderwärmung kann man prinzipiell nicht verhandeln. Das neue Paradigma des darauf ausgerichteten adäquaten Regierungshandelns ist Anpassen statt Aushandeln. Die Anpassungsleistung besteht darin, Klimaschutztransformationen politisch zu implementieren. Das sogenannte „Osterpaket“ des Wirtschaftsministers gießt die Adaption in Gesetzesvorhaben.

Die Ampel begleitet den Wandel. Ihr Regierungsstil kommt auch im Dissens-Management lernend und kollaborativ daher. Als Unterstützter-Allianz wollen die Akteure keine Reparaturarbeiten am Wohlfahrtsstaat, keine Renovierung des Vergangenen. Ihr Ziel ist inhaltlich die Transformation und stilistisch die Kollaboration. Die Ampel agiert keineswegs statisch-mehrheitsgeprägt robust. Sie federt resilient-nachgebend eher ab, wenn Widerstand auftauchen könnte. Die Transformationserzählung des Koalitionsvertrages lässt kein tentatives Arbeiten zu, sondern öffentliches, fehlertolerantes Lernen. Fehler sollen dabei nicht nur zugelassen werden, sondern sie sind eingebaut, um daraus zu lernen.

Vielleicht ist das der Preis der Risikomoderne, in der für die Politik immer eine Erwartungssicherheit des Nicht-Erwartbaren besteht. Jede Umgangsroutine, jedes Festhalten an den Erfolgsstrategien der vergangenen Jahre, führt nicht mehr zur Problemlösung. Das Unwahrscheinliche zu managen, setzt mehr als nur neue Lagedefinitionen voraus. Moderne Verunsicherungsfähigkeit erfordert Probehandeln im Geiste. Daraus kann eine Zuversicht erwachsen, mit Überraschungen des politischen Lebens souveräner umzugehen. Weiterdenker müssten nicht sehen, was eine Gesellschaft will oder was auf sie zukommt, sondern eher, was sie glaubt, erwarten zu können. Wir brauchen dafür politische Führung, die ein Sensorium für den Umgang mit dem Unerwarteten entwickelt.

Die Schlussfolgerungen für uns als Wähler und Beobachter sind paradox. Denn das erlebte Regieren wirkt aufdringlich unfertig, fast schon wie eine stabile Ambivalenz. Eine gespielte Kohärenz ist im Moment schwer erkennbar. Die Spielarten des transformativen Regierens – kuratieren, priorisieren, anpassen – zeigen politisches Interdependenzmanagement. Die Meister des Diffusen und des Nicht-Zuständigen stehen dabei neben den Ministerinnen und Ministern, die ihre Tages-Güter-Abwägung minütlich offenlegen. Auch Widersprüche zu umarmen ist anstrengend. Aber offenbar ein moderner Antwortversuch auf Gewissheitsschwund.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2022): Transformatives Regieren: Über modernes Führen in der ampeligen Lern-Koalition, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/transformatives-regieren-ueber-modernes-fuehren-in-der-ampeligen-lern-koalition/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld