Vincent Fröhlich und Michael Mertes: #Der neue Konspirationismus – Wie digitale Plattformen und Fangemeinschaften Verschwörungserzählungen schaffen und verbreiten

Interpretationen des Weltgeschehens als Ergebnis einer großen Verschwörung sind nicht neu, aber noch nie zuvor entwickelten sie ein so intensives Eigenleben. Ihr Nährboden sind neuartige mediale Bedingungen. Der 7. Band der ›Kritischen Reflexionen‹ stellt nicht verschwörerische Inhalte in den Vordergrund, sondern betrachtet den Konspirationismus in drei großen Dimensionen als Denkstil, als Erzählstil und als Lebensstil. Als ein Fallbeispiel wird QAnon analysiert. Es zeigt, dass der neue Konspirationismus nicht nur Erzählkomplexe hervorbringt, sondern zugleich Bewegungen mit politischer Durchschlagskraft. Die niederschwellige Machart und der große Erfolg von QAnon könnten Vorboten künftiger Entwicklungen sein.

Mit adäquater Krisenkommunikation hat jede Regierung ein zentrales Instrument Stimmungen im Land zu steuern. Das ist nicht manipulativ gemeint. Vielmehr kann aufklärerisch kommuniziert werden, um das Machen problemlösend einzuordnen. Wer verständlich spricht, ist verstehbar. Wer die politischen Akteure nicht versteht, hört nicht nur nicht mehr hin. Die Nicht-Verstehenden distanzieren sich. Responsivität kann sich nicht entwickeln. Sprache schafft Wirklichkeit oder engt sie ein. Politik ist in Demokratien immer begründungspflichtig, legitimationsabhängig und zustimmungssensibel. Sprache ist damit in der Politik die Bedingung ihrer Möglichkeit.

Vincent Fröhlich und Michael Mertes

#Der neue Konspirationismus. Wie digitale Plattformen und Fangemeinschaften Verschwörungserzählungen schaffen und verbreiten

Büchner-Verlag, Marburg 2022, 158 Seiten, ISBN: 978-3-96317-314-1, 15,00 Euro

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

Mit adäquater Krisenkommunikation hat jede Regierung ein zentrales Instrument Stimmungen im Land zu steuern. Das ist nicht manipulativ gemeint. Vielmehr kann aufklärerisch kommuniziert werden, um das Machen problemlösend einzuordnen. Wer verständlich spricht, ist verstehbar. Wer die politischen Akteure nicht versteht, hört nicht nur nicht mehr hin. Die Nicht-Verstehenden distanzieren sich. Responsivität kann sich nicht entwickeln. Sprache schafft Wirklichkeit oder engt sie ein. Politik ist in Demokratien immer begründungspflichtig, legitimationsabhängig und zustimmungssensibel. Sprache ist damit in der Politik die Bedingung ihrer Möglichkeit.

Und das gilt verstärkt in Zeiten von Polykrisen und Gewissheitsschwund. Angemessene Kommunikation schafft Sicherheit, ohne vorzugeben, man hätte auf alle Herausforderungen eine Antwort. Aber transparent zu kommunizieren, warum und wie welche Maßnahme ergriffen wird, die wiederum konsistent problemlösend erscheint, ist extrem wichtig. Zumal klar werden sollte, dass jede Handlung den Prinzipien der Gerechtigkeit folgen sollte, um die Pfadabhängigkeit zu unterstreichen: den sozialen und gesellschaftlichen Frieden zu erhalten. So kann man auch Zumutungen im Kontext der Transformation und Kriegswirtschaft kommunizieren. Paternalistisch wäre es, die Verschonung vor dem Ökologischen zum Rezept zu machen. Wenn wir durch die Energiekrise Wohlstandsverluste erleiden, dann sollte dies im Idealfall befristet sein, aber immer entlang der Kriterien von Fairness und Gerechtigkeit. Man erkennt schnell, dass die Ampel-Regierung es selbst in der Hand hat, wie der kommende Herbst und Winter ausfällt – im Hinblick auf Protest, Widerstand, Zustimmung und Unterstützung. Konzeptionell passt so ein Anliegen in eine strukturierte Öffentlichkeit, die das zulässt. Sie sollte inklusiven und deliberativen Charakter haben, indem Meinungs- und Willensbildung erfolgen kann.

Beide Autoren bezweifeln dies angesichts des Strukturwandelns der Öffentlichkeit. Sie sehen digital einen modern gewandelten Konspirationismus am Werk, der mit der Wucht von Verschwörungsunternehmen die Qualität der Demokratie systematisch untergräbt. Ihre Hauptthese lautet: „Analog zu Fan-Gemeinschaften, die sich im Umkreis von Serien wie Game of Thrones bilden und teilweise in sogenannter Fan-Fiction, also selbst verfassten Beiträgen, die jeweilige Erzählung anders fortschreiben, entstehen heute im Umkreis von Verschwörungsnarrativen Erzählgemeinschaften, deren Mitglieder sich nicht nur rezeptiv verhalten, sondern die Fortentwicklung des Narrativs durch eigene Beiträge aktiv betreiben.“ (S. 10) In acht Kapiteln wird diese These anschaulich reflektiert und wissenschaftlich fokussiert. Sie benennen drei Dimensionen des Konspirationismus: als Denkstil, als Erzählstil und als Lebensstil.

Die Beispiele, die intensiv über digitale Serien, Filme, soziale Medien generell angehäuft werden, dienen dabei als analytische Folie. Dabei lernt der Leser sehr viel über sich selbst, seine Gewohnheiten, die sozialen Medien interaktiv zu nutzen.  Erschreckend ist die Empirie, die sichtbar wird, wer welche kollaborativen Narrative intensiv weiterverbreitet, wie subtil die Manipulationsschwellen sind und wie schwer es ist, sich dem zu entziehen.

Der für unsere Demokratie notwendige Ausweg ist im Buch weniger originell als die Analyse. Das lindert nicht das Potential der Auswege. Faktenchecks, falsche Behauptungen aktiv widerlegen, Medienkompetenz anreichern – all das ist widerständlich wichtiger denn je. Aber man muss auch auf der Ebene der Gefühle demokratisch angreifen, zum Selberdenken animieren und Gemeinschaften emotional aufklärerisch erreichen. Der Schlusssatz hat es in sich: „Eine zentrale Herausforderung ist demnach, Verschwörungserzählungen als Ausdruck des Bedürfnisses nach Eindeutigkeit in uneindeutigen Zeiten zu akzeptieren, ohne diesem Bedürfnis nachzugeben.“ (S. 141)

Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit ist auch dominant auf dem Wählermarkt. Doch wählen die meisten uneindeutig in paradoxer Kundenmanier. Dem kommt man nur bei mit Narrativen, die erklärend Orientierung stiften. Der Faszination von QAnon, was im Buch als Fallbeispiel häufig herangezogen wird, ist schwer zu brechen. Um dies jedoch ins Gelingen zu wenden, braucht man zunächst Erkenntnis. Und dies liefert auf hohem Niveau exzeptionell das Buch der beiden Sozial- und Kulturwissenschaftler.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2022): Vincent Fröhlich und Michael Mertes: #Der neue Konspirationismus. Wie digitale Plattformen und Fangemeinschaften Verschwörungserzählungen schaffen und verbreiten. , Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar:

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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