Dr. Hendrik Träger von der Universität Leipzig analysiert, inwiefern DIE LINKE ihrem Image als Vertreterin der Interessen der Ostdeutschen noch gerecht werden kann. Wie schneidet DIE LINKE bei Bundestags- und bei Landtagswahlen ab? Wie setzen sich die Parteimitglieder zusammen und woher kommen die Menschen, die für die Parteiführung rekrutiert werden? Langsam wandeln sich die innerparteilichen Kräfteverhältnisse zugunsten der „alten“ Bundesländer. Damit sind für die nächsten Jahre intensivere Diskussionen über die Ausrichtung der Partei zu erwarten
„Wir verstehen uns im Unterschied zu allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien als Vertreterin der Interessen der Menschen in Ostdeutschland“, betonte Die Linke (2017, S. 62) in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2017 und griff damit ihr seit den Zeiten der PDS bestehendes Image als „ostdeutsche Regionalpartei“ (Oppelland & Träger 2014, S. 16) auf. Die Partei, die im Zuge der Friedlichen Revolution 1989/1990 aus der damaligen DDR-Staatspartei SED entstanden ist, etablierte sich schnell zum „Anwalt der von Struktur- und Systemwandel sozial verunsicherten, in ihrem Selbstbewusstsein verletzten Ostdeutschen“ (Bortfeld 1994, S. 1287).
Wie ostdeutsch ist DIE LINKE 30 Jahre nach der Wiedervereinigung?
Autor
Dr. Hendrik Träger arbeitet am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig und ist stellvertretender Vorsitzender des „Sächsischen Kompetenzzentrums für Landes- und Kommunalpolitik“ (SKLK). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Parteien und Wahlen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.
1. Einleitung
„Wir verstehen uns im Unterschied zu allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien als Vertreterin der Interessen der Menschen in Ostdeutschland“,
betonte DIE LINKE (2017, S. 62) in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2017 und griff damit ihr seit den Zeiten der PDS bestehendes Image als „ostdeutsche Regionalpartei“ (Oppelland & Träger 2014, S. 16) auf. Die Partei, die im Zuge der Friedlichen Revolution 1989/1990 aus der damaligen DDR-Staatspartei SED entstanden ist, etablierte sich schnell zum „Anwalt der von Struktur- und Systemwandel sozial verunsicherten, in ihrem Selbstbewusstsein verletzten Ostdeutschen“ (Bortfeld 1994, S. 1287). Seit der Wiedervereinigung haben die PDS respektive Die Linke allerdings „[w]ohl stärker noch als die anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (…) einen intensiven Wandlungsprozess durchlaufen“, wie Tim Spier (2016, S. 191) konstatierte.
Vor diesem Hintergrund wird in dem vorliegenden Beitrag analysiert, wie stark die Partei noch durch die Ostdeutschen geprägt wird beziehungsweise ob sie sich weiterhin als Regionalpartei der – nicht mehr ganz so – „neuen“ Bundesländer charakterisieren lässt. Dafür werden sowohl die Stimmenanteile bei den Landtags- und den Bundestagswahlen (Kapitel 2 und 3) als auch die Mitgliederbestände (Kapitel 4) hinsichtlich der regionalen Schwerpunkte untersucht; außerdem wird die Repräsentation der Ostdeutschen in der engsten Parteiführung ausgewertet (Kapitel 5).
2. Landtagswahlen
Bei der Repräsentation der LINKEN in den Landesparlamenten bestehen auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung erhebliche Differenzen: In den ostdeutschen Ländern und Berlin hat die Partei mit Zweitstimmenanteilen zwischen 10,4 und 31,0 Prozent überall eine Fraktion. In Thüringen stellt sie seit Dezember 20141 mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten und bildet gemeinsam mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen die deutschlandweit einzige Koalition unter ihrer Führung.2 In Berlin, wo es schon einmal für zwei Legislaturperioden (2002-2011) eine rot-rote Regierung gab, ist DIE LINKE seit 2016 als zweitstärkste politische Kraft eines Bündnisses mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen wieder im Senat vertreten. Eine ähnliche Regierungskoalition, in der allerdings die Sozialdemokraten und die Bündnisgrünen stärker als die Linkssozialisten sind, existiert seit August 2019 in Bremen, sodass der Stadtstaat das erste westdeutsche Bundesland ist, in dem DIE LINKE mitregiert. In Hamburg, Hessen und dem Saarland gehört die Partei seit 2008 beziehungsweise 2009 kontinuierlich dem jeweiligen Parlament an, während sie in allen anderen westdeutschen Ländern gegenwärtig (Juli 2020) ein außerparlamentarisches Dasein fristet. In Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein hatte sie früher zumindest jeweils einmal die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen; demgegenüber scheiterte sie in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz stets an der Sperrklausel (siehe Tabelle 1).
Obgleich DIE LINKE in den „alten“ Ländern – im Gegensatz zur PDS, die nur selten bei westdeutschen Landtagswahlen antrat – keine „Null-Komma-Partei“ (Bortfeldt 1994, S. 1284) mehr ist, kann sie durchaus noch als „ostdeutsche Regionalpartei mit seltenen Erfolgen im Westen“ (Träger 2015, S. 68) oder „Ostpartei mit Brückenköpfen im westlichen Einzugsgebiet“ (Neugebauer & Stöss 2015, S. 166) bezeichnet werden. Die ostdeutschen Länder bilden – wenn auch nicht mehr in dem Maße wie früher – die elektoralen Hochburgen, während große Teile Westdeutschlands weiterhin als Diasporagebiet betrachtet werden müssen.
In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Landtagswahlergebnisse der Linken in Ost und West bei den letzten Urnengängen häufig in entgegengesetzte Richtungen entwickelten: In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt mussten die Linkssozialisten aufgrund der neuen Konkurrenz durch die AfD (vgl. Träger 2018 und 2020, S. 178) ihre schlechtesten oder zweitschlechtesten Resultate in dem jeweiligen Bundesland seit der Wiedervereinigung verbuchen; in Brandenburg kommen als weiterer Faktor die häufig bei Regierungsparteien zu beobachtenden Stimmenverluste hinzu. Im Gegensatz zu den ostdeutschen Landtagswahlen erreichte Die Linke in Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg und Hessen zuletzt neue Rekordwerte, während in den anderen westdeutschen Ländern im Langzeitvergleich für die jeweilige Region relativ gute Ergebnisse zu registrieren waren (siehe Tabelle 1).
Die beschriebenen Trends lassen sich thesenartig zu der Vermutung zusammenfassen, dass die regionalen Unterschiede bei den Landtagswahlen in den nächsten Jahren (noch) kleiner werden könnten, wenn sich die Stimmenanteile im Westen stabilisieren oder vergrößern und im Osten – eventuell mit Ausnahme Thüringens aufgrund des populären Ministerpräsidenten der Linken – weiter schrumpfen. Die künftige Entwicklung dürfte in letzter Konsequenz auch davon abhängen, inwiefern Wähler*innen von der AfD, die mittlerweile für einige „Protestwähler (…) eine Alternative“ (Jesse 2018, S. 241) geworden ist, zurückgewonnen oder andere Bevölkerungsgruppen als Ausgleich mobilisiert werden können.
3. Bundestagswahlen
Bei den Bundestagswahlen ist DIE LINKE im Gegensatz zur PDS „keine primär ostdeutsche Partei mehr“, wie Richard Hilmer und Jérémie Gagné (2018, S. 391) nach dem Urnengang im September 2017 zurecht erklärten. Dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland auf der nationalen Ebene erheblich verschoben hat, wird unter anderem daran deutlich, dass – im Gegensatz zur früheren Zusammensetzung der Fraktion – „der größere Anteil an Abgeordneten aus den radikal-linken Westverbänden“ (Lang 2018, S. 22) kommt. Mittlerweile entfallen fast zwei Drittel aller Zweitstimmen für Die Linke auf die „alten“ Länder, womit ein lange Zeit unvorstellbarer Rekordwert erreicht wurde. Bis einschließlich 2002 machten die Westdeutschen weniger als ein Viertel der Wähler*innen der PDS aus, denn die Partei wurde hauptsächlich in Ostdeutschland (inklusive Berlin) gewählt. Das änderte sich erst bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005, als die PDS und die in der Hochphase der Proteste gegen die Arbeitsmarktreformen („Agenda 2010“ und „Hartz IV“) der rot-grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gegründete WASG3 in einem gemeinsamen Wahlbündnis („Linkspartei“) antraten und bundesweit 8,7 Prozent der Zweitstimmen gewannen. Damals näherten sich die Stimmenkontingente in Ost- und Westdeutschland bei jeweils rund zwei Millionen Wählerinnen und Wählern an. Seit Gründung der LINKEN im Juni 2007 kamen die meisten Zweitstimmen aus den „alten“ Ländern. Der Abstand zwischen Ost und West schwankte bei den drei letzten Bundestagswahlen erheblich, denn 2009 und 2017 war er wesentlich größer als 2013. Gleichwohl ist im Langzeitvergleich ein klarer Trend dahingehend zu erkennen, dass die Wählerschaft der Partei – anders als in den 1990er-Jahren – nicht mehr von den Ostdeutschen dominiert wird (siehe Abbildung 1).
Bei dem Ost-West-Vergleich ist jedoch zu berücksichtigen, dass in den „alten“ Ländern fast viermal so viele Wahlberechtigte wie in den fünf „neuen“ Ländern und Berlin wohnen.4 Das bedeutet letztlich, dass die Zweitstimmenanteile der LINKEN in Ostdeutschland wesentlich höher als im Westen der Bundesrepublik sind: Bei der Bundestagswahl 2017 lag das schlechteste Ergebnis in Ostdeutschland (16,1% in Sachsen) immer noch über dem besten Resultat in Westdeutschland (13,4% in Bremen). Vor diesem Hintergrund ist der Einschätzung von Tim Spier (2016, S. 201), dass mit Blick auf DIE LINKE nicht mehr „[v]on einer reinen ´Regionalpartei Ost` (…), sondern vielmehr von einer bundesweiten Partei mit Hochburgen in Ostdeutschland“ gesprochen werden könne, zuzustimmen.
4. Parteimitglieder
Genauso wie bei den Bundestagswahlen ergeben sich mit Blick auf die Mitglieder der LINKEN und ihrer Vorgängerparteien zwei unterschiedliche Argumentationsstränge:
- Hinsichtlich der Rekrutierungsquote als dem Anteil der Parteimitglieder an allen potenziell beitrittsberechtigen Personen bestehen bei der LINKEN auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung erhebliche Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland. Der Wert für die fünf „neuen“ Länder war 2018 mit 0,23 Prozent fast fünfmal so hoch wie jener für die zehn „alten“ Länder (ohne Berlin; 0,05%). Von 10.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die die satzungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllten, gehörten im Osten (ohne Berlin) 23 und im Westen lediglich fünf der LINKEN Mit Ausnahme des Saarlandes (0,24%) standen sich die ostdeutschen Länder mit Rekrutierungsquoten zwischen 0,18 Prozent (Sachsen-Anhalt) und 0,26 Prozent (Brandenburg) einerseits sowie die westdeutschen Länder (ohne das Saarland) mit Werten zwischen 0,03 Prozent (Bayern) und 0,10 Prozent (Bremen, Hamburg) andererseits als zwei eindeutig voneinander abgrenzbare Regionen gegenüber (vgl. Niedermayer 2020, S. 428). Auf einer Karte würde sich also immer noch die ehemalige innerdeutsche Grenze klar abzeichnen, wobei DIE LINKE ihre organisatorischen Hochburgen weiterhin in Ostdeutschland hat.
- Ein anderer Befund hinsichtlich der Ostdeutschen und ihrer innerparteilichen Bedeutung ergibt sich aber, wenn der Blick nicht auf die Rekrutierungsquote, sondern auf die Entwicklung des Mitgliederbestandes in absoluten Zahlen sowie auf die Anteile der ostdeutschen und der westdeutschen Landesverbände an allen Mitgliedern der Partei gerichtet wird: Nach der Friedlichen Revolution verlor die PDS innerhalb weniger Jahre ungefähr die Hälfte ihrer Mitglieder, denn die beruflichen Vorteile als ein wichtiges Motiv für die Mitgliedschaft in der DDR-Staatspartei SED waren weggefallen (vgl. Oppelland & Träger 2014, S. 58f.). In deutlich verminderter Intensität traten auch später nahezu kontinuierlich mehr Ostdeutsche aus der Partei aus als eintraten, während im Westen nur minimale Zuwächse zu verzeichnen waren. Bis 2005 machten die Westdeutschen maximal zehn Prozent der Mitglieder aus, sodass die PDS stets eine stark ostdeutsch geprägte Partei war. Das änderte sich erst durch die Kooperation mit der WASG im Zuge der Bundestagswahl 2005 und hauptsächlich nach der Gründung der LINKEN. Im Jahr 2007 stieg der Anteil der Westdeutschen sprunghaft von 12,1 auf 28,9 Prozent an. Seither nähert sich der Wert der Fünfzig-Prozent-Marke an, weil die zehn westdeutschen Landesverbände ihre Mitgliederbestände ausbauen oder zumindest stabil halten können, während die Gebietsgliederungen in den fünf „neun“ Ländern und Berlin nahezu kontinuierlich mit (spürbaren) Verlusten konfrontiert sind (siehe Abbildung 2).
Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sind die Ostdeutschen – im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil – unter den Mitgliedern der LINKEN immer noch stark überrepräsentiert. Allerdings haben die (früheren) Hochburgen ihre dominante Position innerhalb der Partei, die sie in den ersten 15 Jahren hatten, verloren. Mittlerweile stellt mit Nordrhein-Westfalen ein westdeutscher Landesverband die größte Gebietsgliederung (vgl. Niedermayer 2020; Träger 2020, S. 170f.).
Wenn die beschriebene Entwicklung in den nächsten Jahren – angesichts der gegenwärtigen Trends erwartungsgemäß – anhält, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Westdeutschen die Mehrheit der Mitglieder stellen. Das würde sich im Delegiertenschlüssel für den Bundesparteitag und in der personellen Zusammensetzung der Parteiführung niederschlagen sowie in letzter Konsequenz auf die innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse auswirken. Wenn sich die organisatorischen Schwerpunkte in den Westen verschieben, dürfte es für DIE LINKE in zunehmenden Maße schwieriger werden, sich dezidiert für ostdeutsche Interessen einzusetzen.
5. Engste Parteiführung
Angesichts der beschriebenen Entwicklung hinsichtlich der Wahlergebnisse und der Parteimitglieder ist es letztlich eine logische Konsequenz, dass sich das gewandelte Kräfteverhältnis zwischen Ost und West auch auf die Zusammensetzung der engsten Parteiführung auswirkt. Als die engste Parteiführung werden hier alle Mitglieder des Präsidiums der PDS (1990-1991) beziehungsweise des Geschäftsführenden Vorstandes der LINKEN (seit 2007) verstanden. Für die Jahre, in denen es kein vergleichbares Gremium gab, wird auf die Vorsitzenden, deren Stellvertreter*innen und die Bundesgeschäftsführer*innen zurückgegriffen.
Die gewichteten Anteile, bei deren Berechnung die politische Bedeutung der einzelnen Ämter einbezogen wird, zeigen, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Gebietsverbände in den „neuen“ Ländern und Berlin in der PDS entweder alle wichtigen Posten innehatten oder die engste Parteiführung zumindest erheblich dominierten. Für Die Linke ergibt es sich ein differenziertes Bild: Im Geschäftsführenden Vorstand der 2007 gegründeten Partei wiesen die Ostdeutschen zunächst eine deutliche Unterrepräsentation auf, denn die Genossinnen und Genossen aus den „neuen“ Ländern waren im Vergleich zu ihren Anteilen an den Parteimitgliedern zunächst in erheblichem Maße unterrepräsentiert. Mittlerweile ist das Verhältnis ausgeglichen; in den letzten Jahren sind sogar die Ostdeutschen etwas stärker vertreten, als es ihrem rückläufigen Mitgliederanteil entspricht (siehe Abbildungen 2 und 3).
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass DIE LINKE seit ihrer Gründung eine Doppelspitze mit jeweils einer beziehungsweise einem Vorsitzenden aus dem Osten und dem Westen hat; gegenwärtig haben die Sächsin Katja Kipping und Bernd Riexinger aus Baden-Württemberg diese Ämter inne. In der PDS beziehungsweise Linkspartei standen mit dem Berliner Gregor Gysi (1990-1993), dem Brandenburger Lothar Bisky (1993-2000, 2003-2010) und der Thüringerin Gabriele Zimmer (2000-2003) ausschließlich Ostdeutsche an der Spitze der Bundespartei.5
Diese Zeiten sind aufgrund der oben beschriebenen Änderungen bei den Mitgliederzahlen und den Wahlergebnissen definitiv vorbei. Denkbar wäre es sogar, dass der Anteil der Ostdeutschen an der engsten Parteiführung in den nächsten Jahren noch weiter sinken könnte. Bei einer Doppelspitze dürfte es aber bis auf Weiteres bleiben, denn Vorschläge für eine entsprechende Änderung der Satzung könnten nicht zuletzt angesichts der jahrelangen Überrepräsentation der Westdeutschen in der Parteiführung der PDS zu einer heftigen Debatte zwischen den Landesverbänden führen. Einen Streit werden die innerparteilich entscheidenden Akteure sicherlich verhindern wollen und deshalb das Thema nicht auf die Agenda setzen.
6. Fazit: Wandel des Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West
DIE LINKE des Jahres 2020 unterscheidet sich erheblich von der PDS des Jahres 1990: Hinsichtlich der Zweitstimmen bei den Bundestagswahlen, der Mitgliederbestände und der personellen Zusammensetzung der Parteiführung wird die Partei in wesentlich geringeren Maße als ihre Vorgängerorganisationen durch Ostdeutsche geprägt, denn die Anteile der Westdeutschen an den genannten Parametern sind spätestens seit 2007 nahezu kontinuierlich gestiegen und liegen teilweise sogar über 50 Prozent. Infolgedessen ist ein Ende der bis Mitte der 2000er-Jahre zu beobachtenden Hegemonie der „neuen“ Länder und Berlin zu konstatieren; die einstigen Hochburgen haben deutlich an Bedeutung innerhalb der Partei verloren.
Lediglich mit Blick auf die Landesparlamente besteht – wenngleich in geringerer Intensität als zu PDS-Zeiten – eine deutliche Differenz zwischen den ostdeutschen Hochburgen und der westdeutschen Diaspora: In den „neuen“ Ländern und Berlin erzielt DIE LINKE weiterhin (wesentlich) bessere Wahlergebnisse als im Westen, sodass sie größere Fraktionen hat, häufiger beziehungsweise überhaupt an Landesregierungen beteiligt ist und in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten stellt. Demgegenüber ist die Partei in einigen „alten“ Ländern (wieder) außerparlamentarisch und deshalb kein landespolitisch relevanter Akteur.
Angesichts des oben beschriebenen Wandels der innerparteilichen Kräfteverhältnisse erreicht DIE LINKE allmählich den Punkt, ab dem es schwieriger werden könnte, sich noch dezidiert „als Vertreterin der Interessen der Menschen in Ostdeutschland“ zu präsentieren, ohne Gefahr zu laufen, im Westen Mitglieder sowie Wähler*innen aufgrund einer zu starken Fokussierung auf die „neuen“ Länder zu verlieren. Insofern sind für die nächsten Jahre intensivere Diskussionen über die Ausrichtung der Partei zu erwarten, obgleich Ostdeutschland sicherlich weiterhin eine wichtige Bezugsgröße im Koordinatensystem der Linkssozialisten sein wird. Letztlich wird sich DIE LINKE noch auf absehbare Zeit von den anderen Parteien (eventuell mit Ausnahme der AfD, die ebenfalls im Osten deutlich bessere Wahlergebnisse als im Westen hat) unterscheiden, aber keineswegs mit der PDS vergleichbar sein.
Literatur
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Jesse, Eckhard (2018): Die Bundestagswahl 2017 und die Regierungsbildung. Zäsur im Wahlverhalten, im Parteiensystem und in der Koalitionsbildung, in: Zeitschrift für Politik, 65. Jg., H. 2, S. 168-194.
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Oppelland, Torsten/ Hendrik Träger (2014): Die Linke. Willensbildung in einer ideologisch zerstrittenen Partei, Baden-Baden: Nomos.
Oppelland, Torsten/ Hendrik Träger (2016): Ein neuer Koalitionstyp: Voraussetzungen für rot-rote bzw. rot-rot-grüne Koalitionen unter Führung der Linken auf Landesebene, in: Zeitschrift für Politik, 63. Jg., H. 1, S. 24-44.
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Träger, Hendrik (2011): Die ostdeutschen Landesverbände in den Bundesparteien. Personelle, inhaltlich-programmatische und finanzielle Beziehungen (1990-2007). Frankfurt am Main: Peter Lang.
Träger, Hendrik (2015): Ein Vierteljahrhundert Wahlen in Ost und West (1990 bis 2014): regionale Unterschiede und Gemeinsamkeiten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 46. Jg., H. 1, S. 57-81.
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Träger, Hendrik (2018): Die Bundestagswahl 2017 in Ostdeutschland: ein Alarmsignal für die Volksparteien, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 67. Jg., H. 3, S. 295-301.
Träger, Hendrik (2020): Die Linke zwischen internen Konflikten, der ersten Koalition im Westen, Niederlagen im Osten und dem Ramelow-Effekt, in: Uwe Jun/ Oskar Niedermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017. Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland, Wiesbaden 2020, S. 159-186.
Zitationshinweis:
Träger, Hendrik (2020): Wie ostdeutsch ist DIE LINKE 30 Jahre nach der Wiedervereinigung?, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/wie-ostdeutsch-ist-die-linke-30-jahre-nach-der-wiedervereinigung/
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- Zwischen dem 5. Februar und dem 4. März 2020 bekleidete der FDP-Politiker Thomas Kemmerich, der mit den Stimmen von AfD, CDU und seiner eigenen Fraktion gewählt worden war, das Amt des Regierungschefs. [↩]
- Für eine weiterführende Analyse dieses neuen Koalitionstyps vgl. Oppelland & Träger 2016. [↩]
- Im Juli 2004 wurde der Verein „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ gegründet. Aus diesem entstand wenige Monate später die Partei „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“; vgl. Oppelland & Träger 2014, S. 74-81. [↩]
- Bei der Bundestagswahl 2017 waren im „früheren Bundesgebiet“ 50.314.106 Personen wahlberechtigt, während es in den „neuen“ Ländern und Berlin 13.877.449 Personen waren; vgl. Bundeswahlleiter 2017, S. 326f. [↩]
- Für weitere Ausführungen und umfangreiche Übersichten bezüglich der Parteiführung vgl. Träger 2011, S. 157-174 und Oppelland & Träger 2014, S. 105-109. [↩]