Analoge Entscheidungszumutungen nach 30 Jahren

Die deutsche Einheit im Jahr 1989/1990 und die Corona-Pandemie im Jahr 2020 haben mehr gemeinsam als es auf den ersten Blick scheint, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Während der beiden Einschnitte mussten und müssen politische Spitzenakteure Entscheidungen unter den Bedingungen von Unsicherheit und Risiko treffen.

Was haben die Corona-Politik im Jahr 2020 und die deutsche Einheit 1989/1990 gemeinsam? Auf den ersten Blick scheint es keine Gemeinsamkeiten zu geben. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass das strukturelle Entscheiden unter den Bedingungen von Unsicherheit und Risiko diese beiden Einschnitte verbindet. Der Anlass, die Vehemenz und die Tiefe des Nicht-Wissens unterscheiden sich zu beiden Zeitpunkten, nicht jedoch die Notwendigkeit von Entscheidungszumutungen für die Spitzenpolitiker.

Analoge Entscheidungszumutungen nach 30 Jahren

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

Dieser Beitrag ist ein aktualisierter Auszug aus Korte, Karl-Rudolf (2020): Politische Entscheidungszumutungen: Deutsche Einheit 1989/90 und Corona-Politik 2020 In Zeitschrift für Politikwissenschaft. https://doi.org/10.1007/s41358-020-00218-3. Zugegriffen: 3. Oktober 2020.

Was haben die Corona-Politik im Jahr 2020 und die deutsche Einheit 1989/1990 gemeinsam? Auf den ersten Blick scheint es keine Gemeinsamkeiten zu geben. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass das strukturelle Entscheiden unter den Bedingungen von Unsicherheit und Risiko diese beiden Einschnitte verbindet. Der Anlass, die Vehemenz und die Tiefe des Nicht-Wissens unterscheiden sich zu beiden Zeitpunkten, nicht jedoch die Notwendigkeit von Entscheidungszumutungen für die Spitzenpolitiker (Korte 2020). Damals wie heute stand bzw. steht das politische Entscheiden unter dem permanenten Druck wachsender Komplexität. Auch zunehmende Unsicherheit, steigendes Nichtwissen, dynamische Zeitbeschleunigungen und exponentielle Risikoerwartungen beeinflussen politisches Entscheiden und Handeln. Das deutsche politische System hat mit robuster Funktionsfähigkeit darauf professionell reagiert. Einmal mehr erweist sich die Kombination aus Politikmanagement und Verwaltungsaufbau als wichtige Basis der Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten: „Die Dualität von struktureller Fragmentierung im Organisatorischen und Vereinheitlichung über Rechtsetzung und weitere Mechanismen der Reintegration ist ihr wesentlicher Kern“ (Seibel 2017, S. 173). Drei wichtige Pfeiler dieses deutschen Sonderwegs sind vor allem die gebietskörperschaftlichen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden. Die intensive Koordination zwischen den Ministerpräsidenten und dem Kanzler resultierte schon vor 30 Jahren aus dieser robusten Funktionsfähigkeit des verwaltungstechnischen Politikmanagements. Auch 2020 lässt sich erneut eine ausgeprägte Koordination zwischen Kanzlerin und Länderchefinnen bzw. -chefs beobachten. In gemeinsamen Videokonferenzen wurden Maßnahmen zur Eingrenzung der Pandemie diskutiert und später medienwirksam in Pressekonferenzen präsentiert.

Abstrakt zeigen sich im Entscheidungshandeln 1989/90 und 2020 folgende Parallelen:

  1. Die Unsicherheit als Prinzip des politischen Entscheidens ist die Regel, nicht die Ausnahme (Korte et al. 2021). Es existiert beim Spitzenpersonal eine Gewissheit des Nicht-Erwartbaren und die Akteure rechnen geradezu mit Überraschungen. Die Muster des Entscheidens 1989/1990 und 2020 sind bei genauem Hinsehen ähnlich. Politische Entscheidungen fallen unter extremen Bedingungen von Unsicherheit, Nicht-Wissen und Komplexität. Die Geschwindigkeiten der Entscheidungszumutungen sind rasant und turbulent. Im Modus des tastenden Lernens bildet die jeweilige Regierungsformation professionell Resilienz aus.
  2. Bisher als kompromisslos erachtete Glaubenssätze der Politik bleiben unter den Bedingungen des Regierens unter einem extremen Zeitdruck auf der Strecke. Die über Jahrzehnte als notwendige Bedingung einer Wiedervereinigung formulierte Präferenz „nur im Rahmen eines Friedensvertrags“ blieb folgenlos. Heute könnte man anfügen: offenbar ist auch die Globalisierung weder robust noch irreversibel, wie der weltweite Lockdown im Tagesrhythmus zeigte.
  3. Krisen und besondere Entscheidungsjahre werden allgemein als die Stunde der Exekutive wahrgenommen. Die Legislative ist eher nachgelagert beteiligt und formiert sich mit Parteiendifferenz für Mobilisierungsvorhaben: schnelle oder verlangsamte Einheit; schnelle oder verlangsamte Öffnungen und Ausstiege aus dem Lockdown.
  4. Der Kraft des Dezentralen, der Föderalismus und der Aufbau der Gebietskörperschaften ist eine wichtige Quelle der Resilienz. Resilienz führt idealweise zu einer Transformation eines Systems. Heute in Richtung des Vorsorgestaates, damals in Richtung der staatlichen Einheit.
  5. Freiheit, konkret Reisefreiheit, war ein wichtiger Beschleuniger der friedlichen Revolution. Die Ostdeutschen erlebten, was Freiheit in der Praxis bedeutet. Möglichkeiten und neue sicherheitsgetriebene Einschränkungen hielten sich zunächst die Waage. Freiheit kam als Beschleunigungsschock daher (Böick 2020). Für die Westdeutschen wurde erst im Zuge der Corona-Pandemie 2020 deutlich, was es heißt, auf Freiheiten verzichten zu müssen. Freiheit ging unter den Bedingungen von Entschleunigung dramatisch verloren. Viele spürten erstmals in der Konsequenz des Lockdowns, wie wertvoll es ist, über das eigene Leben selbst bestimmen zu können. Als Konsequenz des Entzugs von Freiheiten wuchs in der Alltagserfahrung mit der Corona-Politik die Wertschätzung der ebendieser. Gemeinwohlausprägungen (Korte 2019) unter Corona-Solidarität bekamen eine andersartige Ausrichtung. Das sind wichtige Erfahrungen und Diskussionen, die eine Post-Corona-Zeit begleiten, um demokratische Resilienz zu stärken.

Mit Entscheidungszumutungen müssen die Spitzenakteure in der Politik immer wieder umgehen. Bruchlinien des Politikmanagements treten besonders deutlich in Entscheidungsjahren und während Krisen hervor. Bei der Betrachtung der Zeitabschnitte 1989/1990 und 2020 zeigt sich, dass Spitzenakteure immer wieder mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind: Das strukturelle Entscheiden unter den Bedingungen von Unsicherheit und Risiko.

Literatur

Böick, Marcus. 2020. Die umstrittene Treuhandanstalt. Wirtschaftsumbrüche im Ausnahmezustand gestalten? https://regierungsforschung.de/die-umstrittene-treuhandanstalt/. Zugegriffen: 03.10.2020

Korte, Karl-Rudolf. 2019. Gesichter der Macht. Über die Gestaltungspotenziale der Bundespräsidenten. Frankfurt a.M., New York: Campus.

Korte, Karl-Rudolf. 2020. Corona-Politik und Politikmanagement. In Deutschland nach Corona, Hrsg. Stefan Iskan. Stuttgart: Kohlhammer.

Korte, Karl-Rudolf, Gert Scobel, und Taylan Yildiz. 2021. Heuristiken des politischen Entscheidens. Zwischen Komplexität und Kunstfertigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. i.E.

Seibel, Wolfgang. 2017. Verwaltung verstehen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2020): Analoge Entscheidungszumutungen nach 30 Jahren, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/analoge-entscheidungszumutungen-nach-30-jahren/

 

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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