Das Ende des Merkelismus – der Anfang von…?

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen wirft einen Blick auf das Superwahljahr 2021, das durch die Corona-Pandemie und das Krisenmanagement der Regierung geprägt ist. Nach den Enttäuschungen und der Erschöpfung kann profitieren, wer sich als Spielmacher des Neuen zu erkennen gibt.

Wer führt, gewinnt. Doch Führung, die auf Verantwortung setzt, haben wir uns abgewöhnt. Wir warten lieber vorsichtig ab, bis sich was entwickelt. Jede Entscheidung – in Politik und Verwaltung – könnte sich am Ende als falsch herausstellen, deshalb fällt sie erst gar nicht. Wir sind als Deutsche durchaus Resilienz-Weltmeister, im Sinne einer Veränderungsfähigkeit. Doch viele begeistert nur die strahlende Aussicht auf Veränderung, nicht die Bereitschaft, sich tatsächlich zu ändern. So folgen wir eher routiniert einem Plan, statt mit heroischer Führung spontan Probleme zu lösen.

Das Ende des Merkelismus – der Anfang von…?

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‑, Parteien- und Wahlforschung.

 

Hinweis: Dieser Text erschien zuerst in der Wirtschaftswoche vom 12. März 2021, S. 44-45.

Wer führt, gewinnt. Doch Führung, die auf Verantwortung setzt, haben wir uns abgewöhnt. Wir warten lieber vorsichtig ab, bis sich was entwickelt. Jede Entscheidung – in Politik und Verwaltung – könnte sich am Ende als falsch herausstellen, deshalb fällt sie erst gar nicht. Wir sind als Deutsche durchaus Resilienz-Weltmeister, im Sinne einer Veränderungsfähigkeit. Doch viele begeistert nur die strahlende Aussicht auf Veränderung, nicht die Bereitschaft, sich tatsächlich zu ändern. So folgen wir eher routiniert einem Plan, statt mit heroischer Führung spontan Probleme zu lösen.

Im Moment bedeutet das: Wenn tausende Impfdosen aus politisch korrekten Gerechtigkeitsgründen in den Kommunen lagern, braucht es Bürgermeister, welche die Verantwortung übernehmen, jetzt und sofort jeden, der will, zu impfen – an welchem Ort und zu welcher Uhrzeit auch immer. Der Bundestag hat gerade die sogenannte „epidemische Lage“ verlängert. Die Corona-Klausel lädt förmlich alle ein, demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten als Pioniere und nicht als Moderatoren von Ambivalenz zu gestalten. Warum zögern so viele Entscheidungsträger? Die Bürgermeister und Landräte könnten in dieser Phase der Pandemie zu Coronahelden avancieren, zumal es bereits gute Beispiele gibt.

Jede Phase prägte seit März 2020 typischerweise andere Helden aus. Merkel avancierte früh zur Corona-Titanin. Die Krise adelte über Nacht die Politik und Politiker, die Leben retteten und Geld verteilten. Pflegepersonal und Ärzte wurden als Heldinnen beklatscht. Doch das ist lange her. Heute sind wir erschöpft, gereizt, enttäuscht, weil so viele naheliegende Corona-Hürden nicht längst abgebaut sind. Insofern wächst die Sehnsucht nach kluger politischer Führung und Autorität. Das Superwahljahr wird deshalb die belohnen, die sich als Spielmacher des Neuen zu erkennen geben, als Krisenlotsen. Die Corona-Prämie wird an Parteien der politischen Mitte ausgezahlt, die nicht nur tentativ agieren, sondern öffentlich lernend und fehlertolerant Zuversicht vermitteln.

Das deutet auf das Ende des „Merkelismus“ hin, der aus der Zeit gefallen wirkt. Die Kanzlerin war immer bravourös in der Beschreibung und Bearbeitung von Wirklichkeiten; sie agierte dilettantisch im Aufzeigen von Möglichkeiten. Doch ohne Möglichkeitsmacher fehlen politische Ziele, und ohne Ziele kommt kein konstruktiver Streit auf, der die Qualität einer Demokratie ausmacht. Der Wirklichkeitsgehorsam dieses Regierungsstils, der uns sicher durch viele Krisen navigierte, kommt an einen Endpunkt, weil ihm der Möglichkeitssinn fehlt.

Das merken wir besonders im pandemisch geprägten Superwahljahr 2021. Jede Umgangsroutine, jedes Festhalten an den Erfolgsstrategien der vergangenen Jahre, führt nicht zum Durchbruch. Das Unwahrscheinliche zu managen – den unsichtbaren Feind zu bekämpfen – setzt mehr als nur neue Lagedefinitionen voraus. Moderne Verunsicherungsfähigkeit erfordert Probehandeln im Geiste.

Daraus kann eine Zuversicht erwachsen, mit Überraschungen des politischen Lebens souveräner umzugehen. Weiterdenker müssten nicht sehen, was eine Gesellschaft will oder was auf sie zukommt, sondern eher, was sie glaubt erwarten zu können. Wir brauchen dafür politische Führung, die ein Sensorium für den Umgang mit dem Unerwarteten entwickelt. Die Fehler nicht nur zulässt, sondern einbaut, um daraus zu lernen; die misstrauisch gegenüber der Erfahrung agiert; nicht Bestätigung, sondern eher die Irritation sucht.

Die Pandemie hat mit aufklärerischer Präzision gezeigt, dass in Deutschland enormer Reformbedarf für die Transformation in eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft existiert. Insofern reicht es für die Politik nicht mehr, nur auf Reparatur am Wohlfahrtsstaat zu setzen; sie muss eine Führungserzählung intonieren. Die Bereitschaft der Wählerinnen und Wähler, begierig zuzuhören, ist riesig. Lähmende Bürokratie, die Unfähigkeit zum Pragmatismus, hoher politischer Moralismus, gepaart mit mangelnder Entschlussfreudigkeit speisen im Augenblick ein gekränktes Selbstbild der Deutschen.

Die sicherheitskonservativen Wählerinnen und Wähler erliegen im Superwahljahr sicher nicht spontan dem Charme der Anarchie oder dem Sickergift der Extreme. Doch die Bereitschaft, in pandemischen Zeiten der Unsicherheit auf eine leitende Orientierungsgeschichte zu hören, ist ausgeprägter als der sicherheitsorientierte Wunsch nach Status quo und Weiter-So. Der Bedarf am „Auf Sicht fahren“ ist aufgebraucht. Und das Reservoir an Vertrauen gering. Damit ist nicht der Widerstand einer stets kleinen Minderheit gegen die Corona-Maßnahmen gemeint. Vielmehr provoziert uns täglich die überlebensnotwendige Übersetzung demokratischer Praktiken in neue Formate der Distanz und des Abstands. Es ist extrem schwer, in einer digitalen Eiligkeitsgesellschaft politisch zu mobilisieren.

Bei all der tagespolitischen Aufgeregtheit soll nicht unterschlagen werden, dass unser politisches System mit der pandemischen Disruption bislang gut zurechtgekommen ist. Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger folgen vernunftbestimmt dem kuratierten Regieren aus Berlin oder den Landeshauptstädten. Ein Wahlkampf unter Wütenden steht nicht bevor. Trotz Müdigkeit und Protest erweist sich das Virus deshalb auch als ein stabiles Macht-Revitalisierungsprogramm. Wir erleben das bei den aktuellen Landtagswahlen: In Mainz und in Stuttgart siegen die bewährten Krisenlotsen. Wähler wählen auch in der Pandemie das Bekannte, nicht das Unbekannte. Gleichwohl könnten sich, vermutlich in Baden-Württemberg, neue Koalitionsfarben ausprägen: die grüne Ampel oder eine Zitrus-Koalition (grün-gelb).

Die Bundestagswahl setzt dieses Wahlverhalten unter Druck: Das Bekannte, die Kanzlerpräsidentin als Soliditäts-Garantin, tritt nicht mehr an. Der Merkel-Bonus, das Plus für die resolute Corona-Heldin, katapultierte die CDU ab April 2020 zu neuen Höchstwerten bei der Sonntagsumfrage. Dieser Sockel schmilzt. Die Koalitionsvarianten lauten deshalb für den Bund: Schwarz-Grün als mögliche Fortsetzung einer Großen Koalition, gedacht als Bündnis der beiden größten Bundestagsfraktionen; Schwarz-Grün-Gelb als Jamaika Revival; Grün-Rot-Gelb als grüne Ampel, in dieser Formation ein Unikat.

Eine Corona-Prämie wird am Wahltag nur zu verteilen sein, wenn die Pandemie in einer weitgehend geimpften Republik überwunden scheint. Konkrete Wechselstimmung ist im Frühjahr 2021 noch nicht messbar. Ganz anders als nach 16 Jahren des Helmut-Kohl-Regiments. Als besonders Merkel-enkeltauglich erweist sich der Kandidat der SPD. Er hat in Hamburg bewiesen, wie moderne Urbanität sozialverträglich mehrheitsfähig bleibt. Als Typus einer gesellschaftspolitisch progressiven Mitte prägt er auch das Ruhe-Regiment, mit vornehmer Unangreifbarkeit gekoppelt mit Risiko-Unlust. Wer sich für die Fortsetzung der Merkel-Politik stark macht, findet mit Scholz einen sehr mächtigen Aspiranten. Wenn Wähler weiterhin auf das Bekannte und weniger auf das Unbekannte setzen, könnte Scholz den Vizekanzler-Bonus voll einbringen.

Die Grünen leben vom Zulauf aus mehreren Richtungen. Sie sind multikoalitionsfähig – sichtbar in Regierungsverantwortung und in der Opposition zugleich. Sie verkörpern das Kompetenzzentrum für Umwelt- und Klimapolitik, einem Thema, das bürgerliche Wähler sehr beschäftigt. Ein schonender Umgang mit Ressourcen in der stillgestellten Zeit hat bürgerliche Wähler zusätzlich mit grünen Ideen versöhnt. Von der Corona-Prämie profitieren die Grünen, weil sie auch mit ihrer professionellen Doppelspitze im Bund einen gewachsenen Bedarf nach normativer Orientierung befriedigen. Der Kommunikations- und Führungsstil begeistert bürgerliche Kreise, die sich selber mit Realitäts-Demut geißeln. Hier hat nicht die neo-dirigistische Entschiedenheitsprosa (Typ Merz oder Söder) Aussicht auf Gehör, sondern eher Macht-Poesie als Moderation von Komplexität.

Sorgenvolle Zufriedenheit? Was folgt aus dieser Stimmung des Zufriedenseins („wir haben es mit Impfen und Testen geschafft“) im Unbehagen (vom fehlerhaften Erwartungsmanagement der Bundesregierung bis zum Missmanagement bei den Lockerungen)? Aussichten auf Mobilisierung im Superwahljahr bieten sinngebende Erzählungen, um der Rettung eine Richtung zu geben. Die Erzählung ist der Politiktreiber.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2021): Das Ende des Merkelismus – der Anfang von…?, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/das-ende-des-merkelismus-der-anfang-von/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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