Demokratie im Lichte direkter und repräsentativer politischer Partizipation

PD Dr. Markus Reiners, der an der Leibniz Universität Hannover zu politischen Institutionen lehrt und forscht, wirft einen normativen Blick auf repräsentative und direktdemokratische Partizipationsformen. Sind unsere systematischen Rahmenbedingungen angesichts gesellschaftlicher Transformationen, Problemen der Repräsentation  und eines möglichen Demokratiedefizits noch hinreichend? Welche Rolle spielen Mittel der direkten Demokratie – wie Referenden – bei der Lösung bestehender Probleme?

Wartet eine Phase auf uns, bei der es um Aspekte der politischen Repräsentation und Legitimation, um Politikvermittlung oder -gestaltung geht, um Fragen, ob wir repräsentative Systeme nicht mehr hin zu direktdemokratischen Formen verschieben sollten? Man könnte es annehmen, denn mehr und mehr wird deutlich, dass sich Bevölkerungsteile nicht mehr richtig von etablierten Parteien vertreten fühlen. Diese scheinen immer weniger in der Lage, soziale Probleme politisch zu verarbeiten.

Demokratie im Lichte direkter und repräsentativer politischer Partizipation

Autor

PD Dr. phil. habil. Markus Reiners ist Privatdozent für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Er lehrt und forscht u.a. im Bereich politisch-administrativer Institutionen.

Kontext

Wartet eine Phase auf uns, bei der es um Aspekte der politischen Repräsentation und Legitimation, um Politikvermittlung oder -gestaltung geht, um Fragen, ob wir repräsentative Systeme nicht mehr hin zu direktdemokratischen Formen verschieben sollten? Man könnte es annehmen, denn mehr und mehr wird deutlich, dass sich Bevölkerungsteile nicht mehr richtig von etablierten Parteien vertreten fühlen. Diese scheinen immer weniger in der Lage, soziale Probleme politisch zu verarbeiten. Zwischenzeitlich ist verstärkt die Rede von einer Krise der Repräsentation (von Arnim 2000; vgl. Reiners 2014: 693ff.; Reiners 2016: 927ff., Merkel/Ritzi 2017). Folglich bilden sich Formen des Politischen oder Bürgerbewegungen, die der Parteienlogik zuwiderlaufen. Dies hat seinen Ursprung darin, da Parteien der Rationalität des Machtzugewinns unterliegen, weshalb inhaltliche Einzelfragen primär unter dem Gesichtspunkt der Wählermaximierung behandelt werden.

Direkter Parlamentarismus, partizipative Demokratie oder auch liquid Democracy sind Begriffe für eine Idee, die besagt, dass eine Mixtur von repräsentativer und direkter Demokratie geeignet sein soll, unser Herrschaftsproblem zu lösen (Aden 2004; Jabbusch 2011; vgl. Gabriel 2015: 87ff.; Kersting 2015: 307ff.). Parallel findet eine Diskussion über die so genannte interaktive Demokratie statt, mit der der Einfluss des Internets als Kommunikationsmedium erfasst wird, und wodurch die aktuellen Tendenzen befördert werden, denn neue Medien stellen einen wichtigen Katalysator dar (Leggewie/Bieber 2001: 37ff.; Perlot 2008). Ein Irrglaube besteht wohl auch darin, dass das Überangebot an Medien heute ein Gefühl des Informiertseins vermittelt, was zur Mitsprache herausfordert und trügerisch zu sein scheint. Vielmehr verlangt eine höhere Quantität – die sich oft auch umgekehrt proportional zur Qualität verhält – den kritischen Umgang mit Informationen und hohe Selektionsqualitäten. Exakt jedoch damit scheinen viele überfordert zu sein. Gegebenenfalls ist genau das Gegenteil der Fall: Das Überangebot erzeugt einen Drift in eine Unsicherheitszone, da überkomplexe Informationen auf eine immer überkomplexere Gesellschaft treffen. Es liegt nicht fern, zu behaupten, dass gefühlte Unsicherheiten Reaktionen hervorbringen, die auf Veränderungen zielen.

Eines scheint nahezuliegen: Versuchen Menschen in anderen Teilen der Welt demokratische Strukturen zu etablieren, so schicken sich Teile unserer Gesellschaft an, den nächsten Schritt nehmen zu wollen. Sind wir unseres repräsentativen Systems überdrüssig? Ist es an der Zeit den nächsten Schritt zu tun? Oder besteht gar eine große Gefahr darin, etwas Bewährtes immer schärfer kommunikativ anzutasten? Könnte man in diesem Sinne nicht auch von postdemokratischen Entwicklungen sprechen? Hiermit umreißt sich der Kreis der Gedankengänge, die dem Beitrag zugrunde liegen (vgl. Mörschel/Krell 2012; Keil/Thaidigsmann 2013; Qvortrup 2018).

Hierzulande wird immer wieder ein Demokratiedefizit konstatiert und der institutionelle Rahmen der Politik, im Sinne der Dominanz des repräsentativen Musters und seiner Entscheidungsmechanismen, kritisiert. Eine verstärkte Abwendung von den dominierenden Akteuren des politischen Systems ist etwa seit den 1990er Jahren zu beobachten, allen voran von den Parteien. Als Folgen ergeben sich Parteiverdrossenheit, demokratiepolitische Apathie und Erosionserscheinungen des parteipolitischen Spektrums (Arzheimer 2002; vgl. Huth 2004). Dementsprechend sind eine rückläufige Wahlbeteiligung, eine kritischere Öffentlichkeit und Proteste zu diagnostizieren. Die Diskussionen machen unter anderem klar, dass direktdemokratische Beteiligungsformen en vogue sind, denn Politik- und Politikerverdrossenheit beruhen oft nicht auf einer Zunahme politischen Desinteresses oder einer generellen Verweigerungshaltung. Vielmehr stellen solche Mechanismen eine Forderung nach anderen Formen politischer Beteiligung dar (vgl. Schiller/Mittendorf 2013).

Dementsprechend werden Forderungen nach mehr Partizipation als Lösungsinstrumente und -we­ge gestellt. Dabei wird darüber debattiert, ob die Ursachen und Missstände bei den Akteuren liegen oder im System selbst und es unabhängig davon ist, welche Partei regiert. Immer steht zur Debatte, ob direktdemokratische Elemente zur Lösung bestehender Probleme beitragen können oder solche Instrumente neue unüberbrückbare Probleme schaffen. Der Diskurs findet auch unter den Vorzeichen der Dezentralisierung und dem Begriff der Subsidiarität statt. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, do referenda matter? Können also Formen direkter Demokratie als Instrumente der Steuerung bzw. Politikimpulsgebung und Innovation und somit als Bereicherung des politischen Wettbewerbs verstanden werden, oder sind sie umgekehrt als Instrumente der Beharrung, Verkrustung und Innovationshemmung einzuschätzen (Luthardt 1994: 23ff.; vgl. Martini 2011; Hornig 2011: 475ff.; Gabriel 2015: 87ff.; Kerstin 2015: 304ff.; Merkel/Ritzi 2017)?

Im Ergebnis geht es um einen normativen Blick auf repräsentative und direktdemokratische Partizipationsformen, ob unsere systemischen Rahmenbedingungen noch hinreichend sind oder ob es mittlerweile eine staatliche Modernisierungslücke zu verdichten gilt respektive wie dies geschehen könnte. Die Diskussion ist aktuell wie lange nicht mehr.

Direkte und repräsentative Demokratie im Vergleich

In sämtlichen Bundesländern sind Referenden inzwischen installiert, auf der Bundesebene ist das Grundgesetz jedoch – mit einer kleinen Ausnahme – auch nach den Verfassungsergänzungen im Hinblick auf Volksabstimmungen hermetisch abstinent geblieben (Luthardt/Waschkuhn 1997: 59ff.). Dabei gilt es zu bedenken, dass insbesondere ein Vergleich von Baden-Württemberg mit der Bundesebene manchen Betrachtern näherkommt, als mit anderen Ländern der Republik, weil bislang die Quoren für direkte Beteiligungsformen im Südwesten vergleichsweise hoch angesetzt sind, was die Frage erlaubt, ob das Instrument damit nicht zu einer theoretischen Größe verkommt (Verfassung des Landes Baden-Württemberg 2020).

Hinter der Forderung nach mehr Demokratie steht das Ziel einer Verbesserung des repräsentativen Systems. Ein Argument zur Ausweitung von Beteiligungsmöglichkeiten lautet, Demokratie könne nicht so verstanden werden, dass sich diese auf Wahlen beschränkt, und in der übrigen Zeit dem Bürger nur eine Zuschauerrolle bleibt. Dieser soll die Möglichkeit haben, mitzubestimmen und Einfluss auszuüben. Demokratie sei ihrem Wesen nach darauf gerichtet, die Identität von Regierenden und Regierten herzustellen. Daher könne ein Staat nur dann und nur in dem Maße als demokratisch bezeichnet werden, sofern er einen möglichst großen Teil seiner Bürger an der Willensbildung beteiligt und im Prinzip jedem die Chance dazu bietet. Vielfach wird argumentiert, dass von Demokratie nur begrenzt die Rede sein könne, wenn das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht, nur Repräsentanten auszuwählen hat. Demgegenüber wird allerdings behauptet, dass in repräsentativen Systemen der Citoyen nach dem Wahlakt keinesfalls zur Passivität degradiert wird, sondern sehr wohl Einflussformen bestehen (Kornelius/Roth 2004; vgl. Rehmet/Wunder 2018; Rehmet 2019).

Gegenüber dem im Mittelpunkt stehenden Begriff der Partizipation lässt sich die These aufstellen, dass Referenden zu einer höheren Legitimität und Systemstabilisierung mittels der Differenzierung ihrer Legitimationsbasis beitragen können. Die beklagte Bürgerferne könne durch die Einbeziehung von Referenden zwischen den Wahlen reduziert werden (Wassermann 1986). Dadurch können diese Instrumente stärker als Transmissionsriemen zwischen der Bevölkerung und den Funktionseliten fungieren und zur Transparenz politischer Entscheidungen im Rahmen einer kommunikativen Demokratie beitragen (Steffani 2013). Damit geht eine weitere Funktionszuschreibung einher: Referenden dienen als Informations- und Artikulationsquelle für die Willensbildung der Bürger und Entscheider. Zugleich sei die Chance impliziert, als Mechanismus einer Protest- und Sozialintegration zu wirken. Im Hinblick auf politische Themen könne ein Protestpotenzial in verschiedene Dimensionen und Stufen des Entscheidungsprozesses einbezogen werden. Neben diesen Momenten, auf die Öffentlichkeit sowie die Politikintegration hin orientierten Implikationen, erhält die Zuschreibung eine weitere Bedeutung, gemeint ist die Kontroll-, Balance- und die Vetofunktion (Luthardt 1994: 158ff.). Referenden werden als staatsrechtliches Gegengewicht interpretiert und als Mittel demokratischer Balancierung und Kontrolle der Parteienmacht rezipiert (Böckenförde 1991: 371; vgl. Gabriel 2015: 87ff.; Kersting 2015: 307ff.).

Anderer Natur ist ein Argument mit entscheidungstheoretischem Hintergrund, das von zunehmender Komplexität ausgeht. Der immer größer werdende Berg anfallender Daten zwinge zu immer besseren und rationelleren Methoden der Informationsverarbeitung und -beschaffung. Sinnvoll und zielgerichtet könne nur geplant werden, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen bekannt sind. Normativ orientierte Thesen reklamieren, dass Formen direkter Demokratie einen Beitrag zur Differenzierung der Demokratie und des institutionellen Gefüges liefern können. Hierbei wird nicht nur eine höhere und intensivere Partizipation, sondern überdies ein besserer Output angenommen (Wassermann 1986; vgl. Merkel/Ritzi 2017).

Dass referendumsdemokratische Prozesse zu Ergebnissen führen, ist in dieser Allgemeinheit unstrittig. Sowohl Befürworter als auch Gegner einer direkten Demokratie finden sich bei dieser Frage zusammen. Befürworter erhoffen sich einen in ihrem Interesse liegenden Transfer ihrer Vorstellungen in die Politikarenen. Damit wird assoziiert, dass ihre Option nicht nur andere, sondern bessere Politikergebnisse produziert. Die Argumentation verläuft dergestalt, dass die Erweiterung des institutionellen Rahmens um direktdemokratische Komponenten auf der Input-Seite zu einer höheren Partizipation führen soll. Dadurch sei es möglich, institutionelle Hürden zu überspringen, Themen in die legislativen Arenen zu transportieren und das erhoffte Ergebnis zu erzielen. Instrumente direkter Demokratie erscheinen so als partizipations-, steuerungs- und themenorientierte Instrumente des Entscheidungsprozesses. Die These geht demnach normativ von der Input-Seite aus. Eine strukturelle Erweiterung des Inputs führe zu funktionell positiven Resultaten beim Output. Referenden wären in der Lage, Blockaden aufzulösen, was als Ergebnis ihrer optimierenden Integrations- und Korrekturfunktion gedeutet wird. Theoretisch ist dabei bedeutsam, dass direktdemokratische Formen durch das Diktum der Volkssouveränität legitimiert werden. Dem ist entgegenzuhalten, dass Partizipation als solche sicherlich nicht von vornherein ein besseres Ergebnis hervorbringt als Nicht-Partizipation. Maßgeblich kommt es auf deren Qualität an, die letztlich daran gemessen werden muss, was sie zum Ziel, eine gute und vertretbare Entscheidung zu fällen, tatsächlich beizutragen vermag. Andererseits macht Partizipation respektive ein höheres Maß davon, den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess unter Umständen komplizierter. Daraus folgt, dass eine Bürgerbeteiligung, auch wenn man in ihr mit guten Gründen ein positives Element der Demokratie sehen mag, nicht ohne ein Minimum an festen Regeln und Formalitäten auskommt. Diese dürfen andererseits nicht so kompliziert sein, dass dadurch ein sachlich optimales Ergebnis a priori unmöglich wird (Sontheimer 1988: 6; vgl. Geissel/Newton 2012; Merkel/Ritzi 2017).

Luthardt bezieht eine maximale Position und diagnostiziert, dass es nicht möglich ist, eine höhere Legitimation und ein besseres Ergebnis im Vergleich zu repräsentativen Entscheidungen zu behaupten, obwohl bei direktdemokratischen Verfahren von einer ausgeprägten Partizipation ausgegangen wird, wenn man die Realität und die Wirkungsweise unserer Institutionen im Kontext komplexer Demokratien reflektiert. In dieser Sicht erscheinen direkte Formen als Instrumente, die Politikblockaden und entscheidungspolitische Verzögerungen hervorrufen. Der Produktivfaktor Partizipation würde sich somit restriktiv auswirken. Skeptiker befürchten, dass direkte Partizipationsformen zu Erosionsprozessen repräsentativer Politikkontexte führen (Luthardt 1994: 164f.).

Die Aspekte deuten darauf hin, dass mit einem Mehr an direkter Partizipation nicht notwendigerweise die Ergebnisse der Politik verbessert werden. Die institutionelle Demokratietheorie fügt der Debatte um Herausforderungen durch zunehmende Partizipation, Komplexität und Steuerungsprobleme, einen Aspekt hinzu. Die Aufgabenbewältigung hänge hauptsächlich von der Form der Demokratie ab. Ein Staat mit ausgebauter Referendumsdemokratie, wie die Schweiz, ist für Begehren nach intensivierter Beteiligung besser gerüstet als ein Staat mit dominierender Repräsentativverfassung. In der reinen Repräsentativverfassung führt die partizipatorische Revolution zwingend zur Zunahme unverfasster Beteiligung und sicherlich zu einer höheren Wahrscheinlichkeit eskalierender Konflikte, was in einer Referendumsdemokratie nicht notwendig der Fall ist. Allerdings wird eine größere Responsivität, so zeigt sich dies in der Schweiz, mit hohen Entscheidungskosten erkauft, vor allem hohen Konsensbildungskosten und einer größeren Wahrscheinlichkeit von Prozessblockaden (Schmidt 1997: 42; vgl. Gabriel 2015; Kersting 2015: 307ff.; Merkel/Ritzi 2017).

Ein zentrales Argument ist somit, dass direktdemokratische Entscheidungen die Politikkomplexität nicht hinlänglich und adäquat verarbeiten können und damit auch einer Steuerungsfähigkeit zuwiderlaufen. Diese Problematik wird weiter konkretisiert und es wird argumentiert, dass die Logik referendumsdemokratischer Entscheidungen auf eine Negation von Kompromissen hinauslaufe. Solche Entscheidungen stünden quer zu den differenzierten und kompromisshaft vorstrukturierten Entscheidungen repräsentativer Institutionen (Luthardt 1994: 159f.). Die Überprüfung der Beschlüsse der Parlamente durch ein Referendum bedeutet eine Stärkung der Mächte des Beharrens, weil sie einen Kompromiss zwischen den Interessenten ausschließt, so schon Weber (1976).

Die Formel “mehr direkte Demokratie = mehr Volkssouveränität” ist insofern plakativ und verführerisch, aber gegebenenfalls zu einfach. Erklärt wird, dass sie als ein vermeintlicher “Königsweg der Demokratie” und der damit verbundenen Problemkomplexität keineswegs angemessen und – als ein gleichsam auf den Kopf gestelltes Nullsummenspiel – zu undifferenziert sei. Die emphatische Steigerungsformel wäre theoriearm und praxisfern, weil sie nicht nur unterkomplex sei, sondern darüber hinaus Konflikte oder Machtverlagerungen unterschätze. Alle generalisierbaren Erfahrungen in den sich deutlich abschwächenden Proporz- oder Konkordanzdemokratien zeigen, vor allem in der Schweiz, dass mit plebiszitären Volksrechten stets auch retardierende und innovationshemmende Momente einhergehen, und Prozesse bis an den Rand des Unvertretbaren verlängert werden (Luthardt/Waschkuhn 1997: 60; vgl. Kersting 2015: 307ff.; vgl. Reiners 2022: 225ff.).

Ein weiterer Aspekt wird in der fehlenden Responsivität direktdemokratischer Entscheidungen gesehen. Diese verfügen über keine identifizierbare Person, Partei oder Institution, die für das Ergebnis Verantwortung übernimmt (Luthardt 1994: 60; Böckenförde 1991: 396). In theoretischer Hinsicht kommt bei Sachentscheidungen ein reduziertes Entscheidungsverhalten zum Vorschein. Dieses verläuft nach einer einfachen Ja-/Nein-Logik (Bobbio/Griffin/Dellamy 2014: 117; Luthardt 1994: 160). Ja-/Nein-Entscheidungen “do not include the opportunities of a critical evaluation of multiple individual preferences based on argumentation and discourse” (Windhoff-Héritier 2019). Fraglich ist daher, ob Demokratie mit zunehmender Partizipation, wachsender Komplexität und massiver Begrenzung politischer Steuerung zurechtkommt oder hiervon nicht überfordert wird. Die Familien der Demokratietheorie beantworten diese Frage unterschiedlich, auf einem Kontinuum von einer positiven Wertung bis hin zu einer eher pessimistischen Schlussfolgerung.

Aus politiktheoretischer Sicht erscheinen die Argumente durchaus ausgewogen zu sein. Die Begründungsmuster für oder gegen direktdemokratische Entscheidungsverfahren sind dabei vielfältig. Luthardt und Waschkuhn führen aus, dass die Topoi in demokratie-, legitimations- und partizipationstheoretische Vorstellungen eingebettet sind, die sich vor allem auf Fragen der Relation von politischen Eliten zu Nicht-Eliten, auf Repräsentation, auf die mögliche Ent- oder Umwertung des Parlaments, den Stellenwert der politischen Führung und das Ausmaß politischer Beteiligung in einer Massendemokratie beziehen, welche eine Versammlungsdemokratie ausschließt. In zugespitzter Weise geht es um die Frage einer Basis- (bottom up) oder Elitendemokratie (top down) als Strukturmuster soziopolitischer Vermittlungsprozesse. Sie führen stichhaltig die wesentlichsten Pro- und Kontrapunkte einer Referendumsdemokratie an (Luthardt/Waschkuhn 1997: 60f.; vgl. Geissel/Newton 2012; Gabriel 2015: 87ff.; Kersting 2015: 307ff.; Merkel/Ritzi 2017).

Auf der einen Seite wird die Stärkung der Volkssouveränität als oberste Legitimationsquelle des Politischen, die Verwirklichung des Demokratiepostulats, die Akzentuierung des Wertberücksichtigungs- bzw. Konfliktpotenzials und das Gegenprinzip zur Zuschauerdemokratie hervorgehoben. Direkte Demokratie sorgt gegebenenfalls für mehr Partizipation und schöpft das Humanpotenzial sowie das soziale Kapital des Gemeinwesens individuell und kollektiv besser aus. Solche Verfahren sorgen generell für mehr Transparenz und lösen grundlegende Kontroversen bzw. führen zu einer hohen Akzeptanz und Legitimation der Entscheidungen. Schließlich fördert direkte Demokratie die politische Sozialisation und Erziehung zur Mündigkeit, baut Entfremdungsphänomene ab und setzt widerständige Triebkräfte gegen Anmaßungen der politischen Klasse in produktiver Weise frei (vgl. Geissel/Newton 2012; Kersting 2015: 307ff.; Merkel/Ritzi 2017).

Auf der anderen Seite passt direkte Demokratie gegebenenfalls nur zu überschaubaren politisch-territorialen Einheiten. Die Komplexität in fortgeschrittenen Industriegesellschaften schließt breit angelegte direktdemokratische Verfahren aus, da der Citoyen hiervon unter Umständen überfordert ist und im Schnitt über geringere Sachkompetenzen verfügt. Eine permanente Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten ist daher nicht von allen zu erwarten. Vielmehr bedarf es einer sachverständigen, politischen Führung. Zufallskonstellationen und Stimmungsschwankungen geben bei direkten Verfahren den Ausschlag und implizieren insofern keine Entscheidungsrationalität. Eine Reduzierung auf ein “all or nothing” Antwortverhalten ist überdies zu simpel und bietet keinen Raum für Kompromisse. Das Volk kann ferner immer nur punktuell entscheiden, wird vielfach lediglich von engagierten Minderheiten verfolgt und ist daher weitgehend inkohärent. Letztendlich dauern solche Verfahren lange und behindern oft Innovationen. Es ist daher zweifelhaft, ob die Gesetzesqualität verbessert wird sowie Konflikte entschärft werden und sich partikulare Anliegen durchsetzen, wenn sich nur wenige am Entscheid beteiligen und in geheimen Abstimmungen votieren. Skepsis, bestenfalls Ambivalenz, ist somit nach den bisherigen Ausführungen angebracht, wenn es um die Perspektiven formeller Bürgerbeteiligung geht (Kitschelt 1996: 17ff.; vgl. Geissel/Newton 2012; Kersting 2015: 307ff.; Merkel/Ritzi 2017).

Die Erfahrungen auf kommunaler Ebene bestätigen die Aussagen weitgehend. Schon Sontheimer führte aus, dass bevor das Verlangen nach mehr Partizipation stärker artikuliert und diskutiert wurde, man sich mit der vom Grundgesetz gewollten repräsentativen Struktur unseres Systems abgefunden hatte. Man hielt die Mitwirkung des Volkes an Wahlen für eine unerlässliche, aber auch ausreichende Form der Mitwirkung (Sontheimer 1988). Der Wahlakt selbst ist sicherlich der entscheidende Akt der Legitimation. Er ist jedoch nicht identisch mit der Teilnahme an einer politischen Entscheidung in einer konkreten Sache, sondern nichts anderes als der Ausdruck einer Parteinahme. Die repräsentative Demokratie bedarf somit unter Umständen der Abstützung durch partizipatorische Elemente, ohne dass deren Ablösung debattiert wird. Ein Höchstmaß an Partizipation wird demnach als Voraussetzung für eine gute und gerechte Politik angesehen.

Die Argumente sprechen für und gegen eine Implementation oder einen Ausbau direktdemokratischer Elemente. Auch wenn vielfach behauptet wird, dass eine direkte Demokratie hierzulande nicht funktionieren kann, so dürfte unumstritten sein, dass man mit den Möglichkeiten, die durch unsere Verfassung geschaffen wurden, an den Grenzen angelangt ist, und die Forderungen nach mehr direkter Partizipation ihre Berechtigung haben. Auch die repräsentative Variante funktioniert nicht vollständig, weil die globalisierte Welt einem schnelllebigen Wandel unterliegt und sich gleichsam politische Einstellungen schneller ändern als noch im 20. Jahrhundert. Fraglich ist somit mehr denn je: Do referenda really matter? Klar ist, dass eindimensionale Erklärungen ausscheiden. Nach dialektisch abwägendem Blick lautet ein normatives Zwischenfazit: Als Ergebnis erhöhter direkter formeller Partizipation kristallisiert sich eine höhere legitimatorische Abstützung von Entscheidungen auf Kosten der Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit heraus. Bestehende Probleme werden durch mehr direkte Demokratie wohl nicht erheblich reduziert. Vielmehr scheint es so, dass neue Probleme hinzutreten und Innovationen entgegenstehen (vgl. Reiners 2022: 225ff.).

Diskussionen um unser System sind in dieser diametralen Maximalität somit wenig ertragreich. Dass dennoch eine Modernisierungslücke besteht, ist offenbar. Ist also ein Umsteuern auf grundlegend andere systemische Voraussetzungen nicht fruchtbar, so sollte keinesfalls die Frage verworfen werden, wie Demokratie künftig besser funktioniert.

Konklusion

Den demokratieemanzipatorischen Diskurs gilt es fortzuführen und kritisch zu beleuchten, ob es sinnvoll ist, nachhaltiger für den Ausbau von Partizipationselementen zu werben, denn wir diagnostizieren heute ein höheres Maß an demokratischer, medialer Öffentlichkeit und einen schnelleren Zugang zu mannigfaltigen sowie äußerst komplexen und nur noch schwer zu verarbeitenden Informationen. Allerdings erscheinen formale Referenden allein zweifelhaft. Gleichwohl könnte man andere partizipative Möglichkeiten institutionalisieren. Z.B. ein höheres Maß an Informationspolitik oder diverse Mediationsverfahren gerade im Vorfeld von gewichtigen Entscheidungen, sozusagen als legitimatorische Absicherung formaler Folgeprozesse, und bei gewichtigen Entscheidungen tatsächlich – parallel und rechtzeitig – von dem Instrumentarium einer Volksabstimmung Gebrauch zu machen. Die Frage ist allerdings, ob die Bevölkerung ein fundamentales Interesse an einer derartigen Einbeziehung hat und ob eine anfänglich vielleicht höhere Beteiligung im Laufe der Zeit nicht zurückgehen würde. Überdies: Wo liegt die Grenze für gewichtige Entscheidung? Schlittern wir demnach nicht in Endlosdiskussionen, wo exakt solche Grenzen zu ziehen sind? Wird künftig noch weniger über Politikinhalte debattiert, und geraten gerade solche Fragen in den Mittelpunkt, oder noch exakter: Ist das der Weg in eine „Diskussionsdemokratie“?

Gegebenenfalls könnten schlicht Befragungen der Öffentlichkeit im Vorfeld gewichtiger Entscheidungen weiterhelfen, demnach eine Ergänzung des parlamentarischen Systems durch Beteiligungsmöglichkeiten, solange es noch Alternativen zu diskutieren gibt. Zweifelhaft bleibt aber auch hier: Welche Gruppen bringen sich bei solchen Optionen ein, und ist dadurch die Meinung des Volkes repräsentiert? Sind solche Umfragen nicht von Stimmungslagen geprägt, die laufend einer Veränderung unterworfen sind? Welche Interessen stehen hinter den Teilnehmern oder gar den Initiatoren solcher Instrumentarien? Kann so etwas die Sachdiskussion tatsächlich unterstützen? Klar ist abermals, hier bleibt noch viel Raum für die wissenschaftliche Forschung und für Diskussionen.

Zumindest aus politiktheoretischer Sicht erscheinen auch derartige Wege von Zweifeln umgarnt. Die diesbezüglichen Stärken liegen jedoch in ihrem symbolischen Charakter. Es wird zwangsläufig so sein, dass sich die Politik diesem Lernprozess fortan zu widmen hat. Ob solche Verfahren wirksam weiterhelfen, wird uns die Empirie zeigen, wenn der Nachweis nicht schon anderweitig erbracht ist. Zumindest ein erhebliches Maß an Skepsis darf bestehen bleiben. Andererseits ist zweifellos, dass die Meinungsbildung über die Parteikanäle im Laufe der Zeit Schaden erlitten hat, und sich die politische Klasse zunehmend vom Bürger entfernt. Unter Umständen genügt es bereits, dem Citoyen (symbolisch) das Gefühl zu vermitteln, dass er im Politikprozess beachtet und wahrgenommen wird. Die Zeit einer top-down-gesteuerten Politik ist vorbei. Es sollte demnach kreativ darüber nachzudenken sein – ohne grundlegend über unser bewährtes System zu debattieren –, welche weiteren alternativen Wege der politischen Meinungsbildung sich künftig noch eröffnen könnten. Alleine die Forderung nach einer Formalisierung von Referenden hilft allerdings nicht weiter.

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Zitationshinweis

Reiners, Markus (2022): Demokratie im Lichte direkter und repräsentativer politischer Partizipation, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/demokratie-im-lichte-direkter-und-repraesentativer-politischer-partizipation/

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