Der Bundespräsident mit Vergangenheiten

Norbert Frei schließt mit seinem Band Im Namen der Deutschen: Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit eine wichtige Lücke im Bereich eines zentralen Verfassungsorgans unserer Demokratie: dem Bundespräsidenten, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. 

Folgende Fragen markieren das langjährige Forschungsprojekt: „In welcher Weise machten die Bundespräsidenten der Bonner Republik die Verbrechensgeschichte des „Dritten Reiches“ zu ihrem Thema? Wo setzten sie die Schwerpunkte, was waren ihre blinden Flecken, worin bestanden individuelle Befangenheiten? Traten sie für innergesellschaftliche Aufklärung ein, für die Anerkennung der Gegner des Regimes, für das Gedenken an die Opfer?“

Der Bundespräsident mit Vergangenheiten

Norbert Frei: Im Namen der Deutschen, Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, C.H. Beck, München, 2023, 377 Seiten, ISBN: 978-3-4068-0848-7, 28 Euro

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung. Seine aktuelle Publikation „Wählermärkte – Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik“ ist am 17. Januar 2024 im Campus Verlag erschienen.

Folgende Fragen markieren das langjährige Forschungsprojekt: „In welcher Weise machten die Bundespräsidenten der Bonner Republik die Verbrechensgeschichte des „Dritten Reiches“ zu ihrem Thema? Wo setzten sie die Schwerpunkte, was waren ihre blinden Flecken, worin bestanden individuelle Befangenheiten? Traten sie für innergesellschaftliche Aufklärung ein, für die Anerkennung der Gegner des Regimes, für das Gedenken an die Opfer? Wie dachten sie über die Bestrafung der Täter, wie verhielten sie sich zu den populären Forderungen nach deren Freilassung? Beförderten sie den öffentlichen Diskurs über die Vergangenheit oder begünstigten sie deren Beschweigen? Und wie verhielt sich das eine oder das andere womöglich auch zur je eigenen Biographie?“ (S. 8/9).

Ich habe in meinem Buch über die Bundespräsidenten „Gesichter der Macht“ (Campus Verlag 2019) an mehreren Stellen Bezug genommen zur besonderen Rolle der NS-Vergangenheit für die Bundespräsidenten. Das begann mit einer Rollensuche in der Auseinandersetzung mit dem Kanzler Adenauer. Und es begleitete die Bundespräsidenten über viele Jahrzehnte in ihrer Rolle als internationale Türöffner bei den Sympathiereisen ins Ausland. Frei und sein Team haben allerdings einen anderen Blick auf die Bundespräsidenten entwickelt. Sie fragen nicht nach Potenzialen und Machtprofilen, sondern konkret nach der persönlichen und amtlichen Verantwortung beim Thema Vergangenheitsbewältigung bzw. Erinnerungskultur. Die umfangreichen Archivrecherchen gelten Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens und Richard von Weizsäcker.

Die Optionen, die sich den Bundespräsidenten stellen, sind unendlich. Was sie daraus machen, auch im Hinblick auf die Erinnerungskultur ist dennoch nicht zufällig. Frei weist nach, dass es auch bei diesem Thema „Pfadabhängigkeiten“ gab, denen man folgte.

Der Bundespräsident repräsentiert nach innen und außen, wofür Deutschland als Ganzes steht. Ein Solitär, der frei und einsam wirkt. Das Grundgesetz hat ihn formell mit Kompetenzarmut ausgestattet. Sie prädestiniert ihn, Repräsentationsaufgaben als Symbol der staatlichen Einheit effektvoll wahrzunehmen. Als Ausdruck zeremonieller Würde des Staates nutzt der Bundespräsident Symbole und Rituale. Das Protokoll übersetzt mit reduziertem Formenkanon die Aura des Präsidenten. So entsteht nonverbale Gemeinschaft ohne Kommunikation.

Der Bundespräsident verfügt über enorme Potenziale für politische Gestaltungsmacht – abseits der formellen Anordnungen und Verfügungen –, gerade wenn zum elitär wahrgenommenen kosmopolitischen Liberalismus auf der einen Seite und zum neuen radikalen völkischen Autoritarismus auf der anderen Seite verstärkt Geschichten zum Minimal-Konsens unserer Demokratie überall wirkungsmächtig erzählt werden müssten.

Gemeinwohl ist nicht statisch. Es ist Leitschnur für ein Handeln, das nicht nur das eigene, sondern immer auch das Wohlergehen der anderen zum Ziel hat. Gemeinwohl stiftet demokratischen Zusammenhalt. Sie ist die Orientierungsidee jeder Res publica: das republikanische Wir. Dabei bleibt offen, worauf sich das Wir bezieht. Wo endet das gemeinsame Wir? Das ist die Schlüsselfrage für das Regieren in der Einwanderungsgesellschaft. Über die Arten der Belastungen moderner Solidarität muss gestritten werden. Der Bundespräsident könnte eine inspirierende Integration durch organisierten Dissens einbringen.

Was charakterisiert die präsidiale Gestaltungsmacht des Bundespräsidenten, die er zur Formung des Gemeinwohls einsetzen könnte? Das erste Gesicht der Macht bezieht sich auf instrumentelle Möglichkeiten – „hard power“, die man auch gegenüber anderen durchsetzen kann. Das zweite Gesicht blickt auf strukturelle Dimensionen – viele Arten von Nicht-Entscheidungen. Der Präsident kann mit weicher Macht Wirkungen entfalten, auch ohne konkrete Entscheidungen zu treffen. Das dritte Gesicht der Macht kreist um smarte, diskursive Macht. Sprachgewinn ist Machtgewinn. Auch für Bundespräsidenten, zumal das Hauptinstrumentarium für Gestaltung kommunikativ angelegt ist: die Präsidentenrede. Die Dosis der drei Machtsorten variiert. Präsidentielle Gestaltungspotenziale erwachsen aus der Unsicherheit unter Regierungsmitgliedern, Parlamentariern oder Journalisten, ob der Präsident bereit ist, Gestaltungsmacht einzusetzen. Sie ist latent und potenziell vorhanden. Sie kann sich paradoxerweise erst dann voll entfalten, wenn die Weisheit den Amtsinhaber vor unmittelbarem Gestaltungsdrang schützt. Möglichkeitsmacher schaffen Gestaltungsräume, welche die exekutive Politik für operative Maßnahmen nutzen kann. Präsidiale Gestaltungsmacht steigert im Idealfall die Qualität der Demokratie. Sie spiegelt sich in der Bibel des Verfassungsstaates, dem Grundgesetz. Der Verfassung gilt die Haupt- und Leitverantwortung des Bundespräsidenten. Er verkörpert das Primat der Politik. Die Wiedergewinnung des Politischen sollte ihn antreiben: abseits vom Mainstream, befreit vom Parteienhader, losgelöst von Einzelinteressen, unabhängig von Mehrheiten, frei von Sachzwängen. Eine aufklärende Suche nach dem Verbindendem, dem Gemeinwohl, ohne die Vielfalt und die Legitimität von Einzelinteressen zu ignorieren.

Die vielen Möglichkeiten dieses „Ein-Mann-Organs“ reizen die politische Fantasie. Es wirkt so aus der Zeit gefallen. Kann man mit Reden einer chronisch verunsicherten Bevölkerung neue Zuversicht geben? Ist es dem Bundespräsidenten möglich, dem demokratischen Verfassungsstaat eine spirituelle Aura zu verleihen, die Halt und Orientierung gibt?

Präsidiale Macht speist sich zu einem großen Teil aus Mutmaßungen. Mitspieler der Berliner Republik behandeln den Bundespräsidenten so, als ob er formale Macht hätte, wohlwissend, dass dies nur eingeschränkt gilt. Andernfalls müsste er sich vor Marginalisierung schützen, denn im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Macht würden sie versuchen, ihn klein zu halten. Da er aber nur wenig zu entscheiden hat, sind sie bereit, ihm unvoreingenommen zuzuhören: ein wechselseitiges Wohl-Wollen. Als-ob-Macht ist nicht metrisch. Sie verbleibt im politischen Möglichkeitsraum. Präsidenten sind Beziehungsgrößen, stellen Verbindungen her, gründen Narrativ- und Diskursallianzen. Präsidenten gehören zur Deutungselite, deren Vertreter sich nur punktuell in das Tagesgeschäft der Entscheidungselite und ihrer machtbewehrten Interessendurchsetzung einmischen. Aber prinzipiell können und sollten sie es, wenn die demokratische Kultur beschädigt oder gar die demokratische Ordnung des Grundgesetzes angegriffen wird. Die verschiedenen Gesichter der Macht ermöglichen Reden mit einer eigenen, einer anderen Verbindlichkeit. Bundespräsidenten sind Politiker aus eigenem Recht.

Das Buch erinnert mit seinem Themenzugang an all diese verschiedenen Möglichkeiten, die sich den Bundespräsidenten in der Bonner Republik gestellt haben. Es bleibt in der Bewertung der jeweiligen Erinnerungskultur-Anteile der Bundesspräsidenten neugierig. Es ordnet und sortiert unsere Eindrücke von den Leistungen der Bundespräsidenten neu. Wie konnten sie sich aus ihrer Zeit „befreien“? Wie war sie geprägt vom Zeitgeist? Wie dynamisch nahmen sie sich selbst das Thema der Erinnerungskultur vor?

Das Buch schließt damit erneut, auch für Politikwissenschaftler, eine wichtige Lücke im Bereich eines zentralen Verfassungsorgans unserer Demokratie: dem Bundespräsidenten.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2024): Der Bundespräsident mit Vergangenheiten, Norbert Frei: Im Namen der Deutschen, Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, C.H. Beck, München, 2023, 377 Seiten, ISBN: 978-3-4068-0848-7, 28 Euro, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/der-bundespraesident-mit-vergangenheiten/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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