Ein Journalist und ein Politiker diskutieren über politische Grundsatzfragen: Dass man aus dieser Konstellation ein spannendes Buch machen kann, zeigen FAZ-Mitherausgeber Günther Nonnenmacher und Bernhard Vogel, früher Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen, in „Mutige Bürger braucht das Land“.
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Sie diskutieren darin die unterschiedlichsten politischen Fragen – und das ist lesenswert, urteilt Rezensent Matthias Klein.
Günther Nonnenmacher / BernhardVogel:
Mutige Bürger braucht das Land.
Chancen der Politik in unübersichtlichen Zeiten.
Verlag Herder, 2012, Freiburg/Basel/Wien, 297 S., ISBN: 978-3-451-32579-3, 19,99 Euro.
Rezension von Matthias Klein
Am Anfang steht Aristoteles. Mit einem Verweis auf dessen Forderung, der gute Bürger müsse gut regieren können, sich aber auch gut regieren lassen, beginnen Günther Nonnenmacher und Bernhard Vogel ihr gemeinsames Buch „Mutige Bürger braucht das Land“. Damit geben sie gleich die Tonart vor: In diesem Band sind die Gespräche von zwei bewusst intellektuellen Polit-Profis dokumentiert, die ganz offensichtlich Freude am gebildeten Diskurs haben. Beide haben sich jenseits der politischen Wissenschaft ebenso Meriten erworben wie innerhalb des universitären Betriebs, schließlich sind beide promoviert, und Nonnenmacher ist als Honorarprofessor für Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Leipzig tätig.
In ihrem Gespräch über knapp 300 Seiten kommen sie in loser Reihenfolge auf verschiedenste grundsätzliche politische Fragestellungen zu sprechen. Sie thematisieren beispielsweise aktuelle Krisen wie die Situation des Euros, reden über zentrale Eigenschaften, die Politiker benötigen, oder über grundsätzliche Strukturmerkmale des deutschen politischen Systems wie den Föderalismus. Natürlich erinnert das an manchen Stellen an ein politikwissenschaftliches Grundseminar, wenn es munter um Wahlsysteme, Koalitionsvereinbarungen oder die Bedeutung von Kabinettsprotokollen geht.
Plädoyer für Langfrist-Orientierung
Langweilig wird das aber nicht. Dies liegt auch an der Struktur der Unterhaltung: Der Journalist Nonnenmacher konfrontiert den ehemaligen Politiker Vogel mit seinen Beobachtungen, woraus sich dann eine Diskussion entwickelt – und dies mal mehr, mal weniger kontrovers. Nonnenmacher hakt nach, spitzt zu und gibt bisweilen den Advocatus Diaboli. Das tut der Diskussion sehr gut, das Gespräch wird dadurch interessant und ist auf niveauvolle Art unterhaltsam zu lesen. Beide Autoren sind glänzende Rhetoriker, sie streuen eine ganze Reihe einprägsamer Zitate, treffender Bilder und prägnanter Bonmots ein.
Dabei durchzieht das Buch eine positive Grundstimmung: Nonnenmacher und Vogel verdeutlichen unmissverständlich, dass sie Anhänger des politischen Systems der Bundesrepublik sind und es – bei einigen Fehlentwicklungen im Einzelnen – für ein gutes System halten. Vogel zeigt sich beispielsweise als streitbarer Verteidiger der Parteien. Zwar äußert er auch Kritik, er fordert beispielsweise, die Nachhaltigkeit politischer Entscheidungen müsse dringend gestärkt werden (Nonnenmacher/Vogel 2012: 136), aber er schließt sich keiner ebenso wohlfeilen wie populären Pauschalkritik an.
Bei aller Dominanz der Grundsatzfragen enthält ein solches Buch naturgemäß auch eine Reihe von biographischen Anklängen. Mehrfach kommen Vogels Erfahrungen als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen zur Sprache. Für die Regierungsforschung ist es besonders gewinnbringend, dass an diesen Stellen Vogels politisches Grundverständnis implizit und explizit sichtbar wird: Vogel zielte in seiner Zeit als aktiver Politiker nicht primär auf die flüchtige Zustimmung der Mehrheit, auf den Applaus der medialen Kommentatoren. Er fordert stattdessen grundsätzlich einen auf langfristigen Erfolg angelegten Politikansatz – und diesen hehren Anspruch verkörperte Vogel in seiner aktiven Zeit wie nur wenige politische Akteure in der Bundesrepublik.
Konkret heißt das: Vogel redet bis heute der Mehrheit nicht nach dem Mund. Das wird auch in diesem Buch deutlich: Er stellt sich darin beispielsweise pointiert und konsequent gegen die aktuell so überaus populären Forderungen nach mehr direkter Demokratie auf der Bundesebene. „Was ich bedauere ist, dass sich niemand in Deutschland mit Entschiedenheit und öffentlich den Forderungen nach mehr direkter Demokratie widersetzt und auf die Konsequenzen hinweist. Man will nur ja niemanden vergraulen, jedem eine Gefälligkeit tun. Das führt dazu, dass die notwendige Auseinandersetzung nicht wirklich politisch ausgefochten wird, obwohl sie dringend ausgefochten werden muss“ (Nonnenmacher/Vogel 2012: 120). Vor allem gegen Plebiszite spricht sich der frühere Ministerpräsident aus, denn deren Ergebnisse seien nur Momentaufnahmen, und darüber hinaus seien viele Themen zu kompliziert, um sie adäquat zu einer einzelnen Frage in einer Abstimmung zu verdichten. Zudem sei die Beteiligung bei Plebisziten oft geringer als bei Wahlen (Nonnenmacher/Vogel 2012: 118f).
Der Abgeordnete als Sachwalter
Vogels Kritik in einem Satz: „Wenn wir durch Plebiszite wechselnde Stimmungen und Meinungen bestimmend machen, dann verlieren die Parteien ihren Führungsauftrag und die repräsentative Verfassung ihre Zähne“ (Nonnenmacher/Vogel 2012: 122). Vor allem Ersteres ist für Vogels politische Denkweise zentral: Er vertritt die Vorstellung von einem Abgeordneten, der sich als guter Sachwalter um das Allgemeinwohl der Gemeinschaft zu kümmern hat. Damit einher geht ein Plädoyer für ein freies Mandat, das ein guter Repräsentant verantwortungsvoll nutzen soll: „Die repräsentative Demokratie ist untrennbar mit dem Vertrauenserweis gegenüber Persönlichkeiten und deren politischem Koordinatensystem verbunden“, so formuliert es Vogel (Nonnenmacher/Vogel 2012: 16). An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu der im Titel des Buches erhobenen Forderung nach mutigen Bürgern: Mutig sei der Bürger, der nicht nur egoistisch denke, sondern sich in Verantwortung für das Gemeinwohl einbringe, erläutert Vogel (Nonnenmacher/Vogel 2012: 16).
Diese Position erfordert freilich, dass sich die gewählten Repräsentanten tatsächlich bemühen, im Sinne eines Gemeinwohls zu entscheiden – wobei dies nur sehr schwer überhaupt zu fassen ist. Wenn man sich Vogels politische Laufbahn anschaut, dann sieht man, dass er in seiner Zeit als Spitzenpolitiker diesen Anspruch stets umsetzen wollte. Sein Leitmotiv, das er auf die Parteien anwendet, gilt ebenso auch für ihn als individuellem politischen Akteur: „Parteien sollen dem Volk ‚aufs Maul‘ schauen, aber sie sollen ihm nicht nach dem Munde reden. Parteien haben auch zu führen. Sie sollen Ziele vorgeben und die Menschen durch die Kraft ihrer Argumente von der Richtigkeit dieser Ziele überzeugen“ (Nonnenmacher/Vogel 2012: 121). In Vogels politischer Karriere finden sich dafür zahlreiche Beispiele. Er trat auf Basis seines festen katholischen Glaubens für unpopuläre Inhalte ein, für die er engagiert stritt, zum Beispiel für den Schutz des ungeborenen Lebens in den 1980er Jahren. Aus der Perspektive der Machtsicherung war dieses Vorgehen oft alles andere zweckmäßig, denn Vogel gab damit (innerparteilichen) Gegenspielern Steilvorlagen für Kritik.
Machtpolitik steht nicht im Fokus
Für die Regierungsforschung ist darüber hinaus aufschlussreich, dass sich aus diesem Buch Vogels Art zu argumentieren deutlich herauslesen lässt. Wie in vielen seiner Reden und seinen zahlreichen Aufsätzen zu Sachthemen formuliert er seine Positionen differenziert und abwägend, Gegenargumente bezieht er häufig von vorneherein mit ein. Er erscheint dadurch als „Meister des Sowohl-als-Auch“, wie es der Rheinische Merkur vor drei Jahrzehnten treffend beschrieb. Pointierte Zuspitzungen sind Vogels Sache hingegen nicht – da wundert es wenig, dass ihn manche Journalisten in seiner rheinland-pfälzischen Regierungszeit als etwas langweilig empfanden, gerade im Vergleich mit manchen Amtskollegen wie beispielsweise Lothar Späth, die als Medien-Charismatiker stets für eine Schlagzeile gut waren.
Das Gesprächsbuch ist übrigens kein Enthüllungswerk. Vogel äußert sich zwar über seine Abwahl als Vorsitzender der rheinland-pfälzischen CDU auf dem Parteitag 1988 in Koblenz, in deren Folge er vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktrat – aber er formuliert seine Sichtweise gelassen und wohlüberlegt, er rechnet nicht mit Schaum vor dem Mund mit den ehemaligen Rivalen ab. Er habe die Kandidatur seines Gegenspielers Hans-Otto Wilhelm lange nicht ernst genommen, räumt Vogel ein: „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass im rheinland-pfälzischen Unions-Klima jemand, noch dazu ein Kabinettsmitglied, gegen den in der Öffentlichkeit gut beurteilten Ministerpräsidenten und Vorsitzenden antreten würde“ (Nonnenmacher/Vogel 2012: 77). Sein Fazit: „Ich habe bis ganz kurz vor dem Abstimmungstag die Revolte nicht ernst genug genommen“ (Nonnenmacher/Vogel 2012: 77).
Aus der Perspektive der Regierungsforschung wird in diesem Buch insgesamt deutlich, dass Vogel einem sehr sachbezogenen – und dadurch idealistischen – Politikverständnis folgt. Zum erfolgreichen Regieren gehört jedoch eine weitere Komponente: die Verbindung der Sach- mit der Machtpolitik. Neben die Entwicklung von adäquaten Sachpositionen muss die Implementierung dieser Policies treten. Um solche Fragen der Machtabsicherung kümmerte sich Vogel eher wenig – ganz im Gegensatz übrigens zu seinem persönlichen Freund und Vorgänger im Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten, dem späteren Bundeskanzler Helmut Kohl. Ob er vielleicht in der Situation der Konkurrenz mit Hans-Otto Wilhelm zu wenig Machtpolitiker gewesen sei, fragt Nonnenmacher an einer Stelle des Buches. Vogel gibt eine ebenso ehrliche wie für einen Polit-Profi untypische Antwort: „Hätten Sie mich vor dreißig Jahren gefragt, hätte ich Ihnen widersprochen. Heute widerspreche ich Ihnen nicht. Aber man muss manches eben erst lernen“ (Nonnenmacher/Vogel 2012: 204).
Diese Einsichten in Vogels Denkwelt sind ein Aspekt, der „Mutige Bürger braucht das Land“ interessant macht. Hinzu kommen die elaborierten Diskussionen zu aktuellen Fragestellungen, die spannend zu lesen sind. Alles in allem ist dieses Buch deshalb sehr lesenswert.