Es ist wahr: Die Neuauflage der „Großen Koalition“ birgt enorme Risiken für die SPD. Die Juniorpartner eines solchen Bündnisses profitieren fast nie von einer solchen Regierungsbeteiligung. Das gilt übrigens nicht nur für die SPD im Bund, sondern auch für die CDU in den Ländern. Während die größere Regierungspartei die Erfolge der Regierungszeit für sich vereinnahmen kann, wird die kleinere oft für Fehler und Unterlassungen bestraft.
Zurzeit stimmt die SPD-Basis über den Koalitionsvertrag und damit über eine Neuauflage der großen Koalition ab. Dr. Martin Florack beschäftigt sich mit den Fragen, was eine erneute GroKo für die SPD bedeutet, warum eine CDU-Minderheitsregierung für die SPD schlecht wäre und, welche Bedeutung mögliche Neuwahlen für die SPD hätten.
Das größere oder das kleinere Übel?
Warum eine CDU-Minderheitsregierung für die SPD schlecht wäre
Autor
Dr. Martin Florack ist Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissenschaft/NRW School of Governance. Seine Forschungsinteressen gelten der Regierungsforschung, Landespolitik, dem Zusammenspiel von Formalität und Informalität sowie der neueren Institutionentheorie. Er studierte Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Kommunikationswissenschaften an der LMU München und am University College Cork, Irland. Von 2010 bis 2016 war er zudem Prodekan für Studium und Lehre der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg- Essen. Informationen zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten sind unter www.martinflorack.com abrufbar.
Es ist wahr: Die Neuauflage der „Großen Koalition“ birgt enorme Risiken für die SPD. Die Juniorpartner eines solchen Bündnisses profitieren fast nie von einer solchen Regierungsbeteiligung. Das gilt übrigens nicht nur für die SPD im Bund, sondern auch für die CDU in den Ländern. Während die größere Regierungspartei die Erfolge der Regierungszeit für sich vereinnahmen kann, wird die kleinere oft für Fehler und Unterlassungen bestraft. Opposition garantiert zwar keine programmatische Erneuerung, aber leichter fällt sie allemal. Die Entwicklung eines neuen Programms wird nicht ständig vom Regierungsalltag und den damit verbundenen Zwängen zu konkreten Entscheidungen überlagert. Das Führungspersonal kann in der Opposition die Identität und das Profil einer Partei schärfen, anstatt fortlaufend für Kompromisse gerade stehen zu müssen. Nicht nur die Kabinettsmitglieder, auch die Fraktions- und Parteiführung müssten sich faktisch der Koalitionsdisziplin unterwerfen. Kurzum: Die Neuauflage der Großen Koalition würde für die SPD wohl keine Liebesheirat, sondern bestenfalls eine Vernunftehe unter unklaren Vorzeichen werden.
Viele Argumente der Gegner der Großen Koalition innerhalb der SPD sind also durchaus nachvollziehbar. Allerdings wollen auch die Groko-Gegner keine Neuwahlen, sondern hoffen auf eine CDU-geführte Minderheitsregierung. Ist diese Alternative aber realistisch? Vor allem: Wäre eine solche Option tatsächlich besser für die SPD als ihr Eintritt in eine neue Regierung Merkel? Dafür spricht wenig. Die SPD steckt in einem Dilemma: sie hat die Wahl zwischen zwei Übeln und eine CDU-geführte Minderheitsregierung wäre das Größere.
Alptraum Neuwahlen
Die Befürworter einer Minderheitsregierung setzen auf eine Entscheidung, die sie gar nicht beeinflussen können. Wer aber könnte ausschließen, dass der Bundespräsident nach dem Scheitern einer Kanzlerwahl nicht doch Neuwahlen herbeiführt? Neuwahlen müssten dann innerhalb von 60 Tagen stattfinden. Aus dem Stand heraus müsste die SPD, deren komplettes Führungspersonal in Bund und Ländern nach dem „Nein!“ der Basis zum vorliegenden Koalitionsvertrag desavouiert wäre, einen Wahlkampf führen: ohne glaubwürdige Spitzenkandidaten, ohne neues Programm, ohne taugliche Botschaften und ohne Geld. Ein Alptraum!
Ein neuer Anfang für Angela Merkel und die Union
Zudem: Wer will ausschließen, dass es Angela Merkel nicht schon im ersten Wahlgang gelingt, eine absolute Mehrheit der Stimmen im Bundestag auf sich zu vereinen? Die Kanzlerwahl ist geheim und viele Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktionen haben ein persönliches Interesse, ihr Mandat zu behalten. Es könnte insofern sogar für SPD-Parlamentarier von Interesse sein, Angela Merkel zu wählen, um das Risiko von Neuwahlen zu vermeiden. Von Abgeordneten aus anderen Fraktionen ganz abgesehen, die den Spatz in der Hand (Mandat) mehr schätzen als die Taube auf dem Dach (ein gutes Ergebnis bei Neuwahlen). Eine Wahl im ersten Anlauf verliehe der Kanzlerin neuen Glanz und neue Autorität. Anstatt einer Kanzlerinnendämmerung gäbe es einen neuen Anfang für die Kanzlerpräsidentin Angela Merkel, die damit nach Großer Koalition und schwarz-gelbem Bündnis schon die dritte Regierungsformation anführen würde.
Ihre Ein-Parteienregierung böte zudem ungeahntes Patronagepotential für eine personell runderneuerte Union – ein Geschenk des Himmels, überreicht von der SPD. Denn die öffentliche Unzufriedenheit über die Regierungsbildung brach in der Union ja erst aus, als im Zuge der Ressortaufteilung wichtige Ressorts verloren gingen. In einer Minderheitsregierung könnte die Union selbst alle Ressorts besetzen, interessante Persönlichkeiten ohne Parteibuch einbinden oder aber Kabinettsposten als parteiübergreifendes Angebot für Tolerierungspartner präsentieren.
Staatspolitische Verantwortung und loyale Opposition
Wer in der SPD glaubt, die Partei könne die Oppositionsführerschaft gegenüber einer Minderheitsregierung beanspruchen, erliegt einem Wunschtraum. Man schaue nur auf die parlamentarische Gesellschaft, in der sich die SPD in der Opposition wiederfände – sie säße auf einmal zwischen allen Stühlen und nicht nur die AfD wäre eine demokratische Herausforderung. Im oppositionellen Wettbewerb um Wahrnehmbarkeit, Unterscheidbarkeit und Zuspitzung wäre die SPD der Linken, der AfD, der FDP und vermutlich auch den Grünen unterlegen. Wer sollte sich angesichts der medialen Aufmerksamkeitsmuster für die Positionen der SPD interessieren, wenn sie von rechts und links von gleich vier Fraktionen in die Zange genommen würde? Besondere Aufmerksamkeit wäre ihr immer nur dann gewiss, wenn es um Mehrheiten für Regierungsvorlagen geht. Von wem sollen die fehlenden Stimmen kommen? In der Regel von jeder Partei, die von den Positionen der Regierung nicht allzu weit entfernt ist und die mehr als alle anderen Neuwahlen fürchten muss. Also von der SPD, an deren Verantwortungsgefühl und staatspolitische Verantwortung appelliert werden würde. Bereits im Herbst, wenn ein neuer Haushalt verabschiedet werden muss, könnte die Regierung den Sozialdemokraten die Pistole auf die Brust setzen: Zustimmung oder Neuwahl!
Die SPD würde die Politik eines Minderheitskabinetts unterstützen müssen, ohne auch nur annähernd so viele Gegenleistungen erwarten zu können, wie sie im Koalitionsvertrag bereits ausgehandelt waren. Dieser Koalitionsvertrag wäre zudem stets der Maßstab, an dem ablesbar wäre, was die Sozialdemokratie alles hätte erreichen können, nunmehr aber nicht mehr erreichen kann. Eine Stimme für die SPD, so wird es heißen, sei eine verlorene Stimme gewesen. Und selbst dann, wenn die Union sich ihre Mehrheiten in Jamaika oder gar im (ungewollten) Schulterschluss mit der AfD besorgt, wäre die SPD dem Vorwurf schutzlos ausgeliefert sein, dies nicht verhindert zu haben.
Schließlich gäbe die SPD durch eine Verweigerung der Großen Koalition noch einen wichtigen Trumpf aus der Hand: sie hätte keinerlei Einfluss mehr darauf, wann und unter welchen Umständen Neuwahlen über die Vertrauensfrage zustande kommen könnten. Es läge allein im Befinden der Kanzlerin, zu einem geeigneten Zeitpunkt diesen Prozess in Gang zu bringen und möglicherweise die Mitbewerber auf dem falschen Fuß zu erwischen. Bis dahin bliebe die SPD gegenüber der Minderheitsregierung nur die Rolle der im Grundsatz loyalen Opposition: stets erpressbar, ohne Aussicht auf eine eigene Regierungsmehrheit und in jeder großen Parlamentsdebatte die Nachspeise für die „echte“ Opposition.
Freie Hand für die Union
Und wie wäre die Regierungsseite aufgestellt? Vier Erfolgsbedingungen erhöhen üblicherweise die Stabilität von Minderheitsregierungen: eine einigungsunfähige Opposition, ein starker Zusammenhalt des Regierungslagers, exekutive Disziplinierungsmöglichkeiten der Regierung gegenüber dem Parlament und eine Konzentration des Parteienwettbewerbs auf Sachfragen. Zumindest die ersten drei Bedingungen wären gegeben und würden der Union die Rolle eines dominanten Spielers zuweisen. Die Aussicht auf eine gegenüber der Union vereint auftretenden Opposition ist vollkommen unrealistisch und die neue Rolle könnte auch CSU und CDU wieder stärker zusammenschweißen. Nichts vereint so sehr, wie eine neue Idee. Aber auch in wichtigen Themenfeldern wäre die Regierung auf die parlamentarische Mitarbeit anderer Fraktion gar nicht angewiesen. Das gilt in besonderer Weise für die exekutivlastige Europapolitik, die doch angeblich der SPD so am Herzen liegt. Hier wäre die Union auch ohne parlamentarische Mehrheit handlungsfähig und Gleiches gilt auch in weiten Teilen der Außenpolitik.
Kurzum: Aus Sicht der SPD spricht nichts für eine CDU-geführte Minderheitsregierung. Sie wäre das größere Übel. Die Nachteile einer „Großen Koalition“ sind immerhin bekannt und berechenbar. Sie zu umgehen, gar in Vorteile zu verwandeln, ist sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Die Ablehnung der Regierungsbeteiligung wäre hingegen ein lebensgefährlicher Sprung ins Dunkle. Am Ende ist es vielleicht nur die nackte Angst, die die SPD in die Regierung führt. Aber manchmal bedeutet Angst eben auch die Rettung in höchster Gefahr.
Zitationshinweis
Florack, Martin (2018): Das größere oder das kleinere Übel? Warum eine CDU-Minderheitsregierung für die SPD schlecht wäre, Essay. Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/das-groessere-oder-das-kleinere-uebel-warum-eine-cdu-minderheitsregierung-fuer-die-spd-schlecht-waere/