Über Polarisierungsbehauptungen in unserer Gesellschaft der Mitte

Die Autoren sind Meister der anschaulichen Darstellung von komplexen gesellschaftlichen Phänomenen, beschreibt Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen die Autoren Steffen Mau, Thomas Laux, Linus Westheuser und ihren Band Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Diese Studie ist ein soziologischer Meilenstein.

„Auf umfassende empirische Daten gestützt, erhebt unsere Studie Einspruch gegen diese Vorstellung (die gesellschaftliche Mitte erodiert, die Ränder wachsen; d. Verf.), ohne deshalb der umgekehrten Diagnose der Einigkeit und Harmonie das Wort zu reden. Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder: ja…“ (S. 380). Das ist nicht nur eine markante Zusammenfassung, sondern Programm. Denn in dieser klaren Eindeutigkeit erlebt man die über 500 Seiten.

Über Polarisierungsbehauptungen in unserer
Gesellschaft der Mitte

Steffen Mau, Thomas Laux, Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2023, 534 Seiten, ISBN: 978-3-518-02984-8, 25 Euro

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung. Seine aktuelle Publikation „Wählermärkte – Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik“ ist am 17. Januar 2024 im Campus Verlag erschienen.

„Auf umfassende empirische Daten gestützt, erhebt unsere Studie Einspruch gegen diese Vorstellung (die gesellschaftliche Mitte erodiert, die Ränder wachsen; d. Verf.), ohne deshalb der umgekehrten Diagnose der Einigkeit und Harmonie das Wort zu reden. Konflikte: vorhanden, Polarisierung: kaum, politisierte und radikalisierte Ränder: ja…“ (S. 380). Das ist nicht nur eine markante Zusammenfassung, sondern Programm. Denn in dieser klaren Eindeutigkeit erlebt man die über 500 Seiten. Die Autoren sind Meister der anschaulichen Darstellung von komplexen gesellschaftlichen Phänomenen. Ich habe mich in meiner Studie „Wählermärkte“ (Campus) aus dem Blickwinkel der Wahl- und Regierungsforschung ebenso der Frage gewidmet, ob wir es nicht intensiv mit Mustern des Wählens zu tun haben, die auch unter den Bedingungen der Krisenszenarien nicht gleich neue Ausprägungen erfahren haben. Wir wählen konstant mittig, moderat, mittelmäßig. Aber auch ich könnte unterstreichen: Eine umgekehrte Schlussfolgerung, dass die Versuchungen des Autoritären nicht existieren würden, wäre sicher falsch. Noch erkennen wir dominante bürgerliche Mehrheiten. Wir begegnen darin durchaus den Ungleichheiten, wie sie im Buch herausgearbeitet werden: oben-unten, innen-außen, wir-sie, heute-morgen.

Wer über den Begriff „bürgerlich“ als Habitus oder Zustandsbeschreibung räsoniert, artikuliert stets gefühlte Zugehörigkeiten. Das gilt ebenso für die häufig synonym gebrauchte Zuordnung der politischen Mitte. Wohlfahrtsstaatlich, gesellschaftspolitisch, wahlsoziologisch fällt es schwer, klare empirische Vermessungen des Bürgerlichen vorzunehmen, wenn man es nicht mit Mittelstand, Mittelschicht oder Mittelklasse verwechselt, die je nach Bemessungsgrundlagen unterschiedlichen Größenordnungen zuzuordnen sind. Viele folgen dem Befund von Andreas Reckwitz, dass sich durch Bildungsexpansion, Postindustrialisierung und kulturellen Wertewandel die sogenannte Mittelschicht heute in zwei Mittelklassen ausdifferenziert. Die neue Mittelklasse, geprägt von Selbstverwirklichung, offener Urbanität und Kosmopolitismus, steht einer alten Mittelklasse gegenüber, die kulturell in der Defensive ist und – sozial und kulturell eher immobil geworden – zu den Globalisierungsverlierern gehört. Wenn sich diese Mittelschicht ausdifferenziert, gilt das auch für den Wählermarkt, der damit bedient wird. Gleichwohl fühlen sich die Mehrzahl dieser Wähler nach wie vor bei den Parteien der Mitte (Union, SPD, Grüne, FDP) beheimatet, ohne zu leugnen, dass die Wähler der so bezeichneten alten unteren Mittelklasse auch ins Nichtwählerlager abwandern bzw. Andockpunkte bei Linken und AfD finden.  Die bürgerliche Mitte scheint in der Ausprägung einer projizierten Zuordnung heterogener, schwerer erreichbar und von Status-Ängsten geplagt.

Was stört oder aufregt, hängt dann eher mit den sogenannten „Triggerpunkten“ zusammen. Treffen sie diskursiv zu, verstärken sie Polarisierungen, Ungleichheiten – auch in der angenommenen Mitte. Aber die Studie zeigt auch, dass daraus nicht insgesamt eine polarisierte Konstellation folgt, sondern eher Polarisierungsbehauptungen.

Dass diese Studie ein soziologischer Meilenstein ist, erkennt man schnell daran, wie sehr sich der Begriff der Triggerpunkte seit her in öffentlichen Diskussionen verselbständigt hat. Dem Team ist somit nicht nur eine originelle, klarstellende Untersuchung gelungen, sondern ein Referenzpunkt für Diskurse. Da extrem intensiv über die Ergebnisse der Studie breit berichtet wurde, brauche ich an dieser Stelle dies nicht zu wiederholen. Grafiken, dichte Anmerkungen, ein komplexes Literaturverzeichnis machen das Suhrkamp Buch zu einer Fundgrube.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2024): Über Polarisierungsbehauptungen in unserer Gesellschaft der Mitte, Steffen Mau, Thomas Laux, Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2023, 534 Seiten, ISBN: 978-3-518-02984-8, 25 Euro, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/ueber-polarisierungsbehauptungen-in-unserer-gesellschaft-der-mitte/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld