Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

Für das Verständnis und die Deutung der gegenwärtigen  internationalen Politik und ihre fragilen Bezüge bietet Carlo Masala mit dem Band Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens eine hervorragende und gut lesbare Handreichung, resümiert Jürgen Turek, Inhaber der Turek Consultant und Senior-Fellow am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dabei verfolgt Masala konsequent eine klare Position.

Vor knapp 30 Jahre erklärte uns der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“. Damit gemeint war die feste Überzeugung, dass sich mit dem Mauerfall in Ostdeutschland und der Implosion der UdSSR der Sozial- und Rechtsstaat sowie eine liberale Demokratie überall auf der Welt durchsetzen ließen. Erleichterung stellte sich ein, sogar Euphorie. Endlich war der Machtkonfliktzwischen Ost und West durchbrochen und viele Menschen hegten Hoffnungen auf eine gute Zukunft. Welch ein Irrtum.

Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

C.H.Beck, München, 8. Aufl., 2023, 199 Seiten, ISBN 978-3-406-793257, 16,95 Euro

Autor

Jürgen Turek, M. A., ist Inhaber der Turek Consultant in München und Senior Fellow am Centrum für angewandte Politikforschung (C•A•P) der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

 

Vor knapp 30 Jahre erklärte uns der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“. Damit gemeint war die feste Überzeugung, dass sich mit dem Mauerfall in Ostdeutschland und der Implosion der UdSSR der Sozial- und Rechtsstaat sowie eine liberale Demokratie überall auf der Welt durchsetzen ließen. Erleichterung stellte sich ein, sogar Euphorie. Endlich war der Machtkonfliktzwischen Ost und West durchbrochen und viele Menschen hegten Hoffnungen auf eine gute Zukunft. Welch ein Irrtum. Schnell zogen wieder dunkle Wolken am politischen Firmament auf. Die Annexion der Krim durch russische Truppen im Frühjahr 2014 katapultierte die Welt zurück in den Imperialismus und die spalterische Machtpolitik der Vergangenheit. Es folgte der „unsichtbare“ Krieg Russlands mit einer geheimen Armee gegen den Ostteil der Ukraine. Afghanistan und Teile Afrikas versanken im Bürgerkrieg, staatlichem Verfall, Krieg, Chaos und Genozid. Der Nahe und Mittlere Osten explodierte förmlich mit dem Auftauchen des Islamischen Staats (IS). Die geopolitischen und geostrategischen Denk- und Verhaltensweisen des 19. und 20. Jahrhunderts waren wieder da. 2022 überfiel Russland den Rest der Ukraine.  Europa und der ganzen Welt wurde klar, dass spätestens mit diesem Landkrieg eine Zeitenwende eingeläutet worden war. Die Möglichkeit eines konventionellen Krieges in Europa unter Beteiligung einer Großmacht ist als Realität auf die Bühne der europäischen Politik zurückgekehrt (S. 165). Damit verflüchtigte sich die Hoffnung endgültig, dass die USA, ihre Verbündeten und Europa das internationale System gemäß den eigenen Vorstellungen einer europäischen Friedensordnung oder wenigstens Stabilitätsgemeinschaft formen und umgestalten könnten und die USA eine akzeptierte Führungsrolle bekamen. Der Münchner Politikwissenschaftler Carlo Masala setzte mit seinem schon 2016 in erster Auflage erschienenem Buch an dieser Deutung an, wo es nicht nur darum ging, militärische Bedrohungen durch alte und neue Gegner zur Kenntnis zu nehmen, sondern in Europa auch zu erkennen, selbst nicht der heilige Gral des Weltereignisses zu sein. Nun, in einer aktualisierten und erweiterten 8. Auflage, nutzt Masala die Gelegenheit, um den Zustand der Weltunordnung fortzuschreiben und aktuelle Entwicklungen insbesondere im Rahmen des neoimperialistischen Verhaltens Russlands aufzunehmen. Prägnant führt der durch seine zahlreichen Fernsehauftritte mittlerweile bundesweit bekannte und geschätzte Wissenschaftler aus, wie eine durch Multipolarität, Ad-hoc-Koalitionen und Unsicherheit geprägte Weltunordnung entstanden ist und weiter entsteht; ein Chaos, das die internationale Politik aus Masalas Sicht noch lange bestimmen wird. Mit Blick auf die direkte Aggressivität Russlands und die latente Aggressivität Chinas gegenüber Taiwan und den Westen sowie alle autokratischen, imperialistischen oder nationalistischen Aufwallungen im Rest der Welt fragt Masala nach den geeigneten Machtmitteln, die uns zur Verteidigung unserer Werte und zur Wahrung unserer Interessen zur Verfügung stehen. Der Westen brauche, so die Kernthese des Autors, einen realistischen Blick auf die internationalen Beziehungen, der sich von Illusionen befreit, die geostrategischen Gegebenheiten berücksichtigt und wieder lernt, die Sprache der Macht nicht nur zu lesen, sondern sie auch zu sprechen.

Chaos und Krisendichte

Dabei haben die letzten Jahrzehnte gezeigt: Die Welt lässt sich nicht verwestlichen. Und die Weltunordnung ist kein Interregnum, das bald durch eine Zeit der Ordnung wieder abgelöst wird, sondern eher ein Dauerzustand, an den es sich zu gewöhnen gilt. Insofern zeichnet Masala mit seinem Buch auch nicht das Bild einer gewünschten politischen Welt, sondern die Realitäten der Gleichzeitigkeit von effektiven und ineffektiven, guten und schlechten sowie erwünschten und nicht erwünschten politischen Herrschaftsverhältnissen. Ihre Beziehungen sind dabei interessengeleitet. Herrschaftsverhältnisse sind egozentrisch und rücksichtslos und nicht per se gemeinwohlorientiert und kooperativ. Die Beziehungen, die daraus erwachsen, können erratisch sein, schwankend und wenig konzeptionell. Sie münden schnell ins Chaos ein, wenn sich die Akteure des internationalen Systems arrogant verhalten und sie miteinander nicht kommunizieren können oder wollen; die Konflikte und Irritationen in den internationalen Beziehungen erreichen schnell ein Niveau, auf dem eine wachsende Krisendichte in den offenen Krieg führen kann.  Die Gefahr dafür ist heute groß, wie zum Beispiel die Eskalation im Gaza-Krieg und die Exekution führender Militärs in Beirut im April 2024 durch mutmaßlich israelische Militärs gezeigt haben. Die Konsequenz mündete ein in einen direkten Beschuss Israels durch Drohnen und Lenkflugkörper durch den Iran. Diese und andere Beispiele wie der Ukraine-Krieg haben aufgezeigt, worin allein die westliche Reaktion bestehen kann: Nämlich in dem, was Henry Kissinger Zeit seines Lebens intellektuell praktizierte und auf das auch Masala als Prämisse der Außenpolitik eines Landes besteht. Realpolitik und nichts als illusionslose und kluge Realpolitik.

Illusionen des Westens

Dabei rekurriert Carlo Masala auf Illusionen des Westens: die Illusion der Demokratisierung, der militärischen Intervention, der Institutionalisierung und der Verrechtlichung. Dies füllt er mit entsprechenden Verhaltensabläufen westlicher Akteure nach Ende des Kalten Krieges aus, so wie sie sich im Rahmen der Einflussnahme der USA und Europas auf demokratische Entwicklungen in den Entwicklungs- und Schwellenländern beobachten ließen. Die Ergebnisse solcher Interventionen sind bekannt. Mit Blick auf den arabischen Frühling oder die Entwicklung Chinas zeigen sie das Versagen solcher Bemühungen prägnant auf. Auch militärische Interventionen führten nicht zum erwünschten Ergebnis. Länder wie Afghanistan oder der Irak hätten demonstriert, wie sehr die westlichen Bemühungen um die Unterstützung einer Transformation hin zu Demokratie und Marktwirtschaft auf offenen Widerstand der Eliten und der Bevölkerung gegen eine westliche Bevormundung stießen. Nachdem die unipolaren Illusionen der USA im irakischen und afghanischen Wüstensand versickerten, setzte die westliche Welt auf die Kraft der Institutionalisierung und die Wirkungsmacht des globalen Völkerrechts. Auch diese Option scheiterte an der Dominanz der USA und der großen Mächte im UN-Sicherheitsrat oder in den großen internationalen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Diese Institutionen zu reformieren, um den aufstrebenden Mächten mehr Repräsentation und Macht einzuräumen, hält Masala für nicht zielführend, da Macht ein Nullsummenspiel sei, das immer zulasten der etablierten Mächte gehen muss. Also der USA, Chinas, Russlands oder den großen Staaten Europas. Auch die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, in denen Kooperation zunehmend rechtstaatlichen Prinzipien unterworfen ist, funktioniere insbesondere in der Sicherheitspolitik nicht. Hier herrsche das Recht des Stärkeren, wie es sich in einer multipolaren Ordnung abzuzeichnen beginnt. Wobei die Stärksten in diesem System auch in Zukunft bestimmen werden, wem es wann welche Fesseln anzulegen gilt.

Realpolitik als Konzept

Die Weltunordnung von Carlo Masala ist eine hervorragende und gut lesbare Handreichung, wie man die gegenwärtige internationale Politik und ihre fragilen Bezüge verstehen und deuten kann. Gut dabei ist auch die klare Position, die der Autor auch in seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten konsequent verfolgt. Masala nimmt Stellung zugunsten einer realpolitischen Sicht, die sich angreifbar macht gegenüber emotionalen Ordnungsvorstellungen der internationalen Beziehungen. Wobei hier Emotionalität nicht mit Empathie verwechselt werden darf. Auch Realpolitik zeigt Empathie, die sich jedoch an Realitäten und nicht an Illusionen orientiert. Diese Art von Haltung nimmt Masala ein. Hierbei zeichnet er kein schwarz-weißes Bild, sondern analysiert er die internationalen Beziehungen als ein Netz aus unverrückbaren nationalen Interessen einerseits und fluiden, sich ändernden, filigranen Interessenkonstellationen zwischen ihren Akteuren andererseits. Zum Beispiel arbeitet er heraus: Der westliche Interventionismus ist kein Hassobjekt an sich und auch andere Akteure verfolgen missionarische oder rücksichtslos egoistische Ziele. Was viele an diesem Interventionismus stört, sind seine bigotten und imperialistischen Züge und das Durchsetzungspotenzial, das dahintersteht und das in katastrophalen Ergebnissen einmünden kann, wie etwa der Vietnamkrieg oder der Feldzug in Afghanistan gezeigt haben. Insofern ist die Weltunordnung auch ein westliches Produkt und nicht allein eine Höllengeburt aus dem „Reich des Bösen“, wie es der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan 1983 mit Blick auf die UdSSR und das kommunistische Lager provokant formuliert hat. Dies macht Masala in seinem Buch klar. Die Aufdringlichkeiten westlicher Politik provozierten den Nahen Osten, Russland oder ehemalige Kolonien im westlichen Afrika. Der Westen trifft hier nicht nur auf Schurkenstaaten wie Russland, sondern auch auf selbstbewusste und emanzipierte Eliten, die sich zum Beispiel in der BRICS-Gruppe organisiert haben. Insofern ändern sich die Geschäftsgrundlagen der internationalen Politik, die in Zukunft mehr Akteure und wechselnde Koalitionen oder strategische Allianzen zu berücksichtigen haben wird. Es herrscht ein Trend zu einem wilden Multilateralismus. Eine kritische Menge von Staaten ist mit den bestehenden Institutionen und ihrer Arbeitsweise dabei unzufrieden. Dies betrifft sowohl die nicht westlichen Länder wie auch die USA oder Europa selbst, die etwa mit dem Mechanismus des UN-Sicherheitsrats aufgrund der Blockade von einstimmigen Entscheidungen von irgendeinem Mitglied oft genug handlungsunfähig sind. Realpolitik heißt nach Masala, dass mit zunehmenden Ad-hoc Koalitionen in der internationalen Politik zu rechnen ist. Diplomatie wird somit noch ein Stück weit komplizierter, als sie es heute ohnehin schon ist, die bestehenden Institutionen wie die UNO verlieren an Gewicht, und die Welt hat es mehr und mehr mit einer zerfallenden Staatenwelt nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch in Mittel- und Lateinamerika und Südasien zu tun.

Welche Systemkonfiguration kommt?

Spätestens hier stellt man sich die Frage, welche internationale Systemkonfiguration für die Zukunft zu erwarten ist und wo man realpolitisch ansetzen kann. Und welche im Sinne einer akzeptablen und belastbaren Ordnung gut funktioniert: Ist es eine unipolare, bipolare oder multipolare Konstruktion, die zu erwarten ist und sich durchsetzen wird? Und welche Rolle wird dabei Deutschland und Europa bestimmt sein? Masala untersucht hier die grundlegenden Strömungen, die derzeit am Werk sind, und resümiert, dass neben einer regionalen Verdichtung von Macht ein neuer Nationalismus und hybride Herausforderungen wie Terrorismus, Pandemien, Cybercrime oder Migration die Machtkonstellation beeinflussen und die Großmächte zwingen werden, darauf flexible und effiziente Lösungen zu entwickeln. Während eine unipolare Situation unter alleiniger Vorherrschaft der USA mehr als unwahrscheinlich ist, sind eine bipolare Konstellation mit den USA und China als dominierende Weltmächte oder eine multipolare Ordnung unter Berücksichtigung der EU, Russlands und Indiens wahrscheinlicher. Während sich Herfried Münkler in seinem neuen Buch auf eine Fünfer-Konstellation festlegt,1 die die USA, China, Russland, Indien und die EU umfasst, bleibt Masala hier im Ungefähren. Aus guten Gründen. Für ihn sind die Disruptionen, die das System der internationalen Beziehungen erschüttern werden, zu ungewiss. Zu vermuten ist: Die USA werden dabei an Einfluss verlieren, während Chinas Expansion weiter geht. Russland wird sich eher an China binden müssen und auch die EU ist ohne die USA vermindert handlungsfähig, solange sie keine echte gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik betreibt. So bleibt es dem Leser zunächst selbst überlassen, sich entsprechende weltarchitektonische und geopolitische Vorstellungen zu machen. Stoff für diese Überlegungen bietet Masalas Buch reichlich und man spürt, dass die „Zeitenwende“ im Augenblick eher einer Zwischenzeit gleicht als irgendeiner robusten Phase der internationalen Politik.

Zitationshinweis:

Turek, Jürgen (2024): Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens, C.H.Beck, München, 8. Aufl., 2023, 199 Seiten, ISBN 978-3-406-793257, 16,95 Euro, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/carlo-masala-weltunordnung-die-globalen-krisen-und-die-illusionen-des-westens/

This work by Jürgen Turek is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2024. []

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