Die Ampel-Koalition

Prof. Dr. Stephan Bröchler, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin lehrt und forscht, wirft einen Blick auf das Novum der Ampel-Koalition auf Bundesebene. Wie kam dieses neue Regierungsbündnis zustande? Welche Regierungsprojekte geht das neue Bündnis an und welchen Herausforderungen begegnet die Ampel im politischen Prozess?

Die seit dem 8. Dezember 2021 im Amt befindliche neue Bundesregierung stellt einen spannenden Gegenstand für die moderne Regierungsforschung dar. Die Ampel ist ein Novum. Die Bundesrepublik Deutschland wird erstmals von einem echten Dreierbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP regiert. Dabei sah es lange Zeit nicht danach aus, dass es am Ende auf eine Ampel-Koalition hinauslaufen würde. Andere Bündnisse, besonders aus Union und Grünen oder eine Jamaica-Koalition, schienen wahrscheinlicher.

Die Ampel-Koalition

Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft

Autor

Prof. Dr. Stephan Bröchler ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Regierung und Parlament, Ministerialbürokratie, Vergleich politischer Systeme und Politikberatung.

Die seit dem 8. Dezember 2021 im Amt befindliche neue Bundesregierung stellt einen spannenden Gegenstand für die moderne Regierungsforschung dar. Die Ampel ist ein Novum. Die Bundesrepublik Deutschland wird erstmals von einem echten Dreierbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP regiert. Dabei sah es lange Zeit nicht danach aus, dass es am Ende auf eine Ampel-Koalition hinauslaufen würde. Andere Bündnisse, besonders aus Union und Grünen oder eine Jamaica-Koalition, schienen wahrscheinlicher.

Die Heuristik des Regierungszyklus erlaubt es, das Koalitionsgeschehen von der Anbahnung einer Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode in den Blick zu nehmen. Analytisch lassen sich vereinfacht drei Phasen unterscheiden (Bröchler 2022: 11): Regierungsbildung nach Wahlen, Regieren als Gestaltung und Machterhalt sowie Regieren vor Wahlen. Wo steht die Ampel im Regierungszyklus heute? Im Modell ist die erste Phase der Regierungsbildung mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages durch SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgeschlossen. Damit befindet sich die Ampel-Koalition am Beginn der zweiten Phase, in der es um die Umsetzung des Arbeitsprogramms des Koalitionsvertrags und die Bewältigung neuer Aufgaben und Krisen geht.

Der Beitrag argumentiert, dass mit dem neuen Regierungsformat Ampel-Koalition das Experiment einer neuartigen Modernisierungspolitik verbunden ist, die im Folgenden als Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft bezeichnet wird. Die Energie- und Klimapolitik soll in bisher nicht gekanntem Maße zum archimedischen Punkt der Regierungspolitik werden. In diesem Beitrag kann zwar noch keine Bilanz der Regierung gezogen werden, denn die Bundesregierung hat ihre Arbeit erst aufgenommen. Es geht aber darum, die Eigenart des Formats Ampel-Koalition politikwissenschaftlich einzuordnen. Dazu ist es wichtig, sich die Vorgeschichte zu verdeutlichen. Zunächst wird mit groben Pinselstrichen ein Bild gezeichnet, wie sich im Verlauf des Bundestagswahlkampfes nach und nach eine realistische Option für ein Bündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP entwickelte. In einem zweiten Schritt wird der Markenkern des politischen Projekts der Ampel-Regierung herausgearbeitet. Was charakterisiert das Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft?

Bundestagswahlkampf 2021: Ritt über den Bodensee

Der Bundestagswahlkampf erweist sich aus heutiger Sicht als Hindernisparcours für alle Parteien, die eine eigene Kanzlerkandidatin bzw. einen Kanzlerkandidaten aufstellten: CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP verzichtete, wie die übrigen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, darauf, einen eigenen Kandidaten für das Kanzleramt zu nominieren.

Als Angela Merkel nach den hohen Mandatsverlusten der CDU bei den hessischen Landtagswahlen im Jahr 2018 ankündigte, weder für den CDU-Parteivorsitz noch für das Amt der Bundeskanzlerin erneut zu kandidieren, brach sie mit einer ungeschriebenen Kanzlerregel. Seit Konrad Adenauer sind alle amtierenden Bundeskanzler bei Bundestagswahlen zur Wahl um das Kanzleramt angetreten. Die Führung der Bundes-CDU erwies sich nach den Rückzugsankündigungen Merkels in strategischer wie in personeller Hinsicht als traumatisiert. Die Folge war die Destabilisierung der Union vor und während des Wahljahres (Alexander 2021). Es gelang weder eine sattelfeste Parteiführung ins Amt zu bringen noch einen überzeugenden Findungsprozess für einen einvernehmlich getragenen gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Union für die Bundestagswahl zu organisieren.

Der Bundestagswahlkampf 2021 war durch eine widersprüchliche Wechselstimmung geprägt. Die Wählerinnen und Wähler wünschten sich nach einer Analyse der Bertelsmann-Stiftung einerseits einen „echten Politikwechsel“, so in den Politikfeldern Bildungs- Umwelt-, Klima-, Renten-, Wohnungs-, Migrations- und Flüchtlingspolitik (Vehrkamp 2021). Auf der anderen Seite wurde Stabilität im Wandel mit Blick auf die Führung der künftigen Bundesregierung erwartet (Korte 2021). Mehrheitlich wurde kein kompletter Machtwechsel wie 1998 gewünscht, als die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP gänzlich aus der Regierung abgewählt wurden. Favorisiert dagegen wurde wie schon so häufig bei Bundestagswahlen ein teilweiser Wechsel an der Macht. Die künftige Koalitionsregierung sollte von einem Kanzler entweder der Union oder der SPD geführt werden. Dabei sah es allerdings lange Zeit danach aus, als sei die SPD aus dem Rennen und das Finish würde zwischen den erstarkten Grünen und einer geschwächten CDU ausgetragen. In den Prognosen lagen die SPD und Olaf Scholz noch im Frühjahr zwischen 14% und 15% (Forschungsgruppe Wahlen 26.03.2021 und 16.04.2021). Demgegenüber ermittelten Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen für die längste Zeit des Jahres eine Koalitionsmehrheit für CDU und Grüne. Die widersprüchliche Wechselstimmung der Wähler hätte die SPD aus der Regierung herauskatapultiert. Die von den Wählern gewünschte Stabilität im Wandel wäre mit der CDU umgesetzt worden. Die Grünen als neue Regierungspartei hätten den Politikwechsel verkörpert.

Die widersprüchliche Wechselstimmung führte im weiteren Verlauf zu einem dynamischen, offenen und wendungsreichen Prozess. Aus heutiger Sicht stellt sich die ungewöhnlich frühe Nominierung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz als SPD-Kanzlerkandidat im August 2020 als zugleich riskante wie erfolgreiche Entscheidung heraus.1 Wie einst Angela Merkel wurde auch Scholz lange unterschätzt. Tatsächlich trat der Kanzlerkandidat mit dem Handicap an, dass er die Wahl um den SPD-Vorsitz erst wenige Monate zuvor klar verloren hatte. Scholz und sein Wahlkampfteam planten den SPD-Wahlkampf als Marathonlauf. Sie setzten alles auf die Karte, dass am Ende Olaf Scholz sich als der beste Nachfolger des unprätentiösen, sachorientierten und moderierenden Politikstils Angela Merkels durchsetzt und die Wählerinnen und Wähler eine geschlossene SPD zur stärksten Partei bestimmen würden. Tatsächlich ging die Strategie nach einer Zitterpartie am Ende auf. Als Kipppunkt, der die Sozialdemokraten ins Spiel um die Regierungsbeteiligung brachte, erwies sich der Frühsommer 2021. Seit Ende Juli arbeitete sich die SPD Stück für Stück bis auf 25% in den Umfragen hoch (Forschungsgruppe Wahlen 30.07.2021 und 17.09.2021). Es zeichnete sich ab, dass ein Zweierbündnis aus Union und Grünen über keine Mehrheit im Parlament verfügen würde. Anfang September überholte die SPD die bis dato führende Union in den Umfragen (Forschungsgruppe Wahlen 03.09.2021).

Die Entwicklung der Grünen verlief im Vergleich zur SPD gegenläufig. Je näher der Wahltag kam, desto schwächer wurden sie in den Umfragen. Erstmals stiegen Bündnis 90/Die Grünen mit einer eigenen Kanzlerkandidatur in das Rennen um das Kanzleramt ein. Dabei setzte sich Annalena Baerbock Mitte April 2021 in einem bilateralen Abstimmungsprozess zwischen ihr und dem Co-Vorsitzenden Robert Habeck als erste grüne Kanzlerkandidatin durch.2 Kaum war Baerbock nominiert, überholten die Grünen in den Wahlprognosen im Steigflug die Union und erreichten zu Beginn des Mai ihr Allzeithoch im Wahlkampf von 26% (Forschungsgruppe Wahlen 07.05.2021). Noch nie lag die Möglichkeit so nahe, dass Bündnis 90/Die Grünen in einer Koalitionsregierung die Bundeskanzlerin stellen. Doch sträflich unvorbereitet zeigten sich Baerbock und das grüne Wahlkampfmanagement im Umgang mit öffentlichen Vorwürfen der unsorgfältigen Abfassung eines Buches der Kandidatin und dem Verdacht auf Untreue zum Nachteil der eigenen Partei. Seit Mitte Mai 2021 befanden sich die Grünen in den Wahlprognosen fast kontinuierlich im Sinkflug (Forschungsgruppe Wahlen 21.05.2021). Die Pole-Position und der Traum vom Kanzleramt erwiesen sich für die Grünen als kurzes Intermezzo.

Der CDU gelang es hingegen nicht, die Traumata des Rückzugs von Angela Merkel vom Parteivorsitz und des langen Abschieds von der Kanzlerschaft zu überwinden. Die zwischenzeitlich gewählte Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte in Rekordzeit ihren Rücktritt an. Doch ein Neustart gelang auch ihrem Nachfolger Armin Laschet nicht. Im Gegenteil: Der Bundestagswahlkampf trug für den Kanzlerkandidaten zuweilen den Charakter des Spießrutenlaufs. Kaum hatte sich Laschet im Januar 2021 mit Mühe gegen seine Mitbewerber Friederich Merz und Norbert Röttgen bei der Wahl des CDU-Parteivorsitzes durchgesetzt, als unerwartet Streit um die Nominierung des gemeinsamen Kanzlerkandidaten innerhalb der Union entbrannte. Der Findungsprozess eskalierte im öffentlich ausgetragenen destruktiven Widerstreit zwischen dem frisch gewählten CDU-Parteivorsitzenden und dem CSU-Chef Markus Söder. Am Ende ordnete sich Söder gegen seine Überzeugung dem Beschluss des CDU-Bundesvorstandes unter, der Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten ausrief. Doch der vermeintliche Gewinner ging nicht gestärkt, sondern beschädigt in den Wahlkampf. Armin Laschet haftete seitdem das Image des „Underperformers“ an: ein Kanzlerkandidat, der weder die eigene Parteibasis noch die Wählerinnen mehrheitlich von seiner Kandidatur zu überzeugen vermochte (Lamby 2021: 369).

Auf den letzten Metern des Bundestagswahlkampfs wurde klar, dass die Bildung der Bundesregierung ein Dreierbündnis erfordern würde: Eine von Olaf Scholz navigierte Koalition mit Bündnis 90/Die Grünen und der FDP (Ampel-Koalition) oder ein von Armin Laschet geführtes Unionsbündnis mit Bündnis 90/Die Grünen und FDP (Jamaica-Koalition). Tatsächlich ging die SPD am 26. September 2021 als knapper Wahlsieger aus dem Rennen (25,7%), gefolgt von Union (24,1%), Bündnis 90/Die Grünen (14,8%) und FDP (11,5%).

Das Wahlkampfgeschehen im Blick auf die Kanzlerkandidatin und die -kandidaten vermittelt wichtige Anhaltspunkte, wie die Ampel im anschließenden Regierungsbildungsprozess Realität werden konnte. Als wichtige Ursachen erweisen sich die Destabilisierung der CDU-Führung durch das Merkel-Trauma, der offene Streit zwischen CDU und CSU um die Kanzlerkandidatur, Fehler der grünen Kandidatin und ihres Teams, die erfolgreiche Marathon-Strategie von Olaf Scholz sowie der wendungsreich verlaufende Endspurt um den Wahlsieg. Der Möglichkeitsraum für Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen für eine Regierungsbildung aus SPD, Grünen und FDP wurde durch diese Entwicklungen bereits vor dem Ende der Bundestagswahl geöffnet. Erstens zeichnete sich im Wahlkampf schon früh ab, dass nur ein teilweiser und kein kompletter Machtwechsel wie 1998 bevorstand. Zweitens waren wenige Wochen vor der Wahl die Bildung einer Ampel- oder Jamaica-Koalition als realistische Regierungsformate erwartbar. Zu erkennen war drittens, dass beide Koalitionsmodelle auf Bundesebene eine Herausforderung besonders für die Grünen und die FDP darstellen würde. Denn bis dato hatte sich auf Bundesebene aufgrund erheblicher Differenzen beider Parteien kein Bündnis zu einer Regierung zusammengefunden. Im Gegenteil: Nach der Bundestagswahl 2017 war der erste Anlauf zur Bildung einer Jamaica-Koalition unter der Führung der Union auf den letzten Metern durch das Ausscheren der FDP sogar gescheitert.

Die Ampel-Koalition: neues Regierungsformat und Modernisierungsbündnis

Trotz der starken Verluste der CDU von 8,9% schien Jamaica noch am Wahlabend das wahrscheinlichere Regierungsbündnis, da sowohl Armin Laschet und Markus Söder seitens der Union als auch Christian Lindner für die FDP vor den Fernsehkameras erkennbar für das unionsgeführte Koalitionsmodell optierten. Eine vom Zweitplatzierten Laschet geführte Bundesregierung hätte auf Vorbilder in der Vergangenheit verweisen können. So haben Willy Brandt und Walter Scheel diesen legalen Weg des Machtwechsels in einer parlamentarischen Demokratie zur Gründung der ersten sozial-liberalen Koalition nach der Bundestagwahl 1969 beschritten. Auch die von Kanzler Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher geführten SPD/FDP-Koalitionen der 1970er und frühen 80er Jahre regierten nach den Bundestagswahlen mit dieser Konstruktion.

Die Realität der Ampel-Regierung verdankt sich eines Kairos-Moments, den Olaf Scholz und sein Team ergriffen. Die Chance für eine Ampel-Regierung als das realistischere der beiden Koalitionsmodelle eröffnete sich, als die ohnehin destabilisierte Union nach dem desaströsen Wahlergebnis nun auch noch das Vertrauen in die eigene Regierungsfähigkeit verlor und es Olaf Scholz gelang, dass die Liberalen trotz größerer Schnittmengen mit der Union eine Neubewertung der Chancen einer SPD-geführten Koalition aus Grünen und FDP vornahmen. Die folgenden Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen mündeten in die Wahl des vierten sozialdemokratischen Bundeskanzlers und die Bildung der neuen Bundesregierung.

Die Ampel-Koalition erweist sich als facettenreiches neues Koalitionsmodell auf bundespolitischer Ebene. Doch was kennzeichnet die Neuartigkeit? Am augenscheinlichsten ist das neue Regierungsformat, zu dem sich SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zusammengefunden haben. Zwar arbeitet seit Mai 2016 die Landesregierung von Rheinland-Pfalz im Ampel-Format, auf Bundesebene hat es diese Konstellation jedoch noch nicht gegeben. Nicht ohne Grund hat die Bundes-FDP nicht die Ampel, sondern zunächst ein Jamaica-Bündnis favorisiert. Denn SPD und Grüne auf der einen Seite und FDP auf der anderen Seite trennen besonders ordnungspolitische, finanzpolitische und, wie sich in der Diskussion über die Bewältigung der Corona-Pandemie zeigte, auch bürgerrechtliche Prägungen. Diese programmatischen Unterschiede wurden mit einer Mischung aus „we agree to differ“ und der Orientierung auf das parteiübergreifende Ziel der umfassenden Modernisierung des Modells Deutschland vorerst befriedet. In den ersten Regierungsmonaten überlagern jedoch Diskussionen um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie und die Abwendung eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine das Modernisierungsziel.

Die Ampel ist durch einen neuen Stil im Umgang der beteiligten Parteien geprägt. Von Beginn an haben die beiden Juniorpartner der Regierungsbildung immer wieder den Stempel aufgedrückt. Die Kellner haben sich vom Koch emanzipiert. So haben Grüne und FDP einen Verhandlungsabschnitt in die Sondierungsgespräche eingeführt, den es vorher nicht gab. In Vorsondierungen haben beide Parteien zunächst untereinander Konflikt- und Konsenszonen ausgelotet, um eine Vertrauensbasis zu etablieren und daraufhin die Gesprächsstrategien mit SPD und Union abgestimmt. Das neue Selbstbewusstsein der Juniorpartner zeigte sich auch darin, dass Grüne sowie FDP die Reihenfolge der Sondierungsgespräche mit den mandatsstärkeren Parteien bestimmten. Durchgesetzt haben sich beide Parteien auch bei wichtigen Ressortzuständigkeiten. Bündnis 90/Die Grünen und FDP gelang es in den Koalitionsverhandlungen neue Ressortzuständigkeiten hinzuzugewinnen. Damit konnten sie sowohl ihr Portfolio an Politikfeldern erweitern als auch ihre Bedeutung innerhalb des Kabinetts erhöhen. Die Grünen stellen mit Vizekanzler Robert Habeck die Ministeriumsspitze im klimapolitisch bedeutsamen neu zusammengeschnittenen Ressort Wirtschaft und Klimaschutz. Die FDP setzte gegenüber den Grünen durch, dass Christian Lindner das steuerungsmächtige Bundesfinanzministerium zugesprochen bekam und zudem als stellvertretender Vizekanzler gegenüber den anderen Ressortchefs hervorgehoben ist. Auch mit Blick auf die Arbeitsweise der Ampel-Koalition lassen sich Veränderungen im Kräfteparallelogramm der Regierung feststellen. Der gemeinsame Koalitionsausschuss wird als politisches Steuerungsgremium der Regierungsarbeit aufgewertet. Im Koalitionsvertrag wurde festgeschrieben, dass das Gremium regelmäßig einmal im Monat und nicht mehr wie zuvor anlassbezogen zusammenkommt (Koalitionsvertrag 2021: 174).

Essenziell für das Verständnis der Ampel-Koalition ist der neue Politikansatz, der im Folgenden als Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft bezeichnet wird. Die Übereinkunft beinhaltet im Kern, dass es Aufgabe staatlicher Modernisierungspolitik ist, den Übergang der auf fossilen Brennstoffen beruhenden Ökonomie hin zu einer nachhaltigen klimaneutralen Gesellschaft zu beschleunigen und abzuschließen. „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität“ (Koalitionsvertrag 2021, S. 5). Im weit gefächerten Policy-Portfolio politischer Reformen erweist sich folgerichtig die Energie- und Klimapolitik als Dreh- und Angelpunkt des Regierungsprojekts aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Die Umsetzung des Transformationsprozesses soll mit einer Energie- und Klimapolitik der Bundesregierung aus einem Guss realisiert werden. Beide Politikfelder sollen nicht mehr im Wege negativer Koordination in erster Linie als Fachressortaufgabe, sondern im Sinne positiver Koordination als übergreifende Gesamtaufgabe der Bundesregierung bearbeitet werden, in der alle Ressorts in die Pflicht genommen sind, zur Transformation der fossilen in die klimaneutrale Gesellschaft beizutragen. Eine besondere Bedeutung für die Zielerreichung kommt besonders zwei von den Grünen geleiteten Ressorts zu. Schrittmacherfunktion des ökologischen Umbaus der deutschen Wirtschaft soll das neue „Superministerium“ Wirtschaft und Klimaschutz von Robert Habeck übernehmen, das aus den Ministerien für Wirtschaft und Energie sowie aus dem Ressort für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der letzten GroKo neu konfiguriert wurde. Das Auswärtige Amt (AA) soll künftig zusätzlich zu seinen Aufgaben zum strategischen Zentrum der „Klima-Außenpolitik“ der Bundesregierung auf europäischer und internationaler Ebene werden. Ministerin Baerbock treibt momentan den Umbau ihres Ministeriums in struktureller und personeller Hinsicht entschieden voran. Im AA wurde eine neue Abteilung 4 für Klimaaußenpolitik, Wirtschaft und Technologie geschaffen. Dafür wurde im früheren Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Abteilung für Klimaschutz aufgelöst, in das Außenamt integriert und dort ausgebaut. Alle 226 Auslandsvertretungen des AA sollen „Klimabotschafter“ werden. Der Berufung von Jennifer Morgan zunächst als Sonderbeauftragte, später im Range einer Staatssekretärin, kommt eine wichtige Bedeutung zu. Die Personalentscheidung lässt erkennen, dass die Rolle des Auswärtigen Amts als strategisches Zentrum der Klima-Außenpolitik in der Abstimmung der Ressorts der Bundesregierung untereinander als auch mit anderen Staaten durch die Ernennung der vernetzten Klimapolitikerin Morgan gestärkt werden soll.

Ausblick: Forschungsbedarfe für die moderne Regierungsforschung

Für die moderne Regierungsforschung ergeben sich mit Blick auf die Ampel-Koalition vielfältige Forschungsbedarfe. Es gilt zunächst zu untersuchen, inwiefern es der neuen Bundesregierung gelingt, Probleme zu erkennen, Ziele zu bestimmen, Strategien der Problembearbeitung zu entwickeln, Handlungsprogramme zu implementieren und die Regierungsarbeit wirksam zu kommunizieren. Von besonderem Forschungsinteresse ist dabei die Klima- und Energiepolitik, da sie den Markenkern der Ampel-Koalition begründet. Die Bundesregierung strebt mit ihrem Politikansatz der Transformation von der fossilen zur carbonfreien nachhaltigen Gesellschaft einen großen Sprung nach vorn an. Ob der neue Übergang gelingt, ist eine empirisch offene Frage. Der Erfolg oder Misserfolg wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, das Regierungshandeln in die vielgestaltigen und komplexen Wechselwirkungsprozesse aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren der Multi-Level-Governance zu kontextualisieren.

Für drei Bereiche soll auf mögliche Probleme hingewiesen werden. 1) Veto-Spieler Bundesrat: Kanzler Olaf Scholz ist im Bundesrat ein „König ohne Land“. Die Ampel-Koalition ist im Bundesrat, der über jedes Bundesgesetz mitentscheidet, weit von der erforderlichen Mehrheit von 35 Stimmen entfernt, um ihre Gesetze durchzusetzen. Hier kann sie sich zunächst einmal lediglich auf die vier Stimmen des Ampel-Bündnisses in Rheinland-Pfalz stützen und möglicherweise auf die drei Stimmen des rot-grün regierten Hamburgs hoffen. 2) Konflikte innerhalb der Bundesregierung: Der Ausbau des grün geführten Auswärtigen Amtes zum strategischen Zentrum der Klima-Außenpolitik der Bundesregierung kann zum Machtkampf mit dem Bundeskanzleramt führen. Denn nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung bestimmt allein der Bundeskanzler die Richtlinien der inneren und äußeren Politik (§1 GOBReg). Ein potenzielles Konfliktfeld ist zudem der Politikansatz aus einem Guss, wonach alle Ministerien in die Pflicht genommen werden sollen, ihren Beitrag zur Erreichung der Klimaziele der Bundesregierung zu leisten. Das Ressortprinzip (Art. 65 GG) sichert jedoch jedem Bundesminister zu, dass er seinen Geschäftsbereich politisch selbstständig leitet und verwaltet. 3) Erwartungsmanagement „Superministerium“: Die Erfahrungen mit dem Superministerium „Arbeit und Wirtschaft“ des damaligen Ministers Wolfgang Clement zeigen, dass sich die hohen Erwartungen auf Effektivitäts- und Effizienzsteigerung durch die Zusammenlegung von Ressorts nicht erfüllt haben. Die Frage ist, ob das neue Superministerium „Wirtschaft und Klimaschutz“ nicht das gleiche Schicksal ereilt.

Literatur

Bröchler, Stephan. 2021. Geschichte der Regierungsforschung. In Handbuch Regierungsforschung, Hrsg. Karl-Rudolf Korte und Martin Florack, 1-15. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30074-6_2-1

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Forschungsgruppe Wahlen. Politbarometer vom 17.09.2021. https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2021/September_III_2021/. Gesehen 15.02.2022

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Korte, Karl-Rudolf. 2021. Bundestagswahlkampf in Zeiten der Pandemie. Aus Politik und Zeitgeschichte Jahrgang 71. (47-49/2021): 17-25.

Lamby, Stephan. 2021. Entscheidungstage. Hinter den Kulissen des Machtwechsels. München: C.H.Beck.

Alexander, Robin.2021. Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report. München: Siedler

Vehrkamp, Robert. 2021. Die Mehrheit wünscht sich einen echten Politikwechsel. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/monitoring-der-demokratie/projektnachrichten/die-mehrheit-wuenscht-sich-einen-echten-politikwechsel. Gesehen 15.02.2022

Zitationshinweis:

Bröchler, Stephan (2022): Die Ampel-Koalition, Der Weg zum Regierungsprojekt der neuen Übereinkunft, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-ampel-koalition/

This work by Stephan Bröchler is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Am 09. Mai 2021 bestätigte ein SPD-Parteitag die Nominierung von Olaf Scholz mit 96,2%. []
  2. Am 12. Juni 2021 unterstrich ein Grünen-Parteitag mit einem Ergebnis von 98,55% die Nominierung von Annalena Baerbock für das Kanzleramt. []

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