Die SPD zwischen Opposition und Großer Koalition

Am Sonntag, den 21. Januar 2018, vier Monate nach der Bundestagswahl, bei der die Partei ein historisch schlechtes Ergebnis von 20,5 Prozent der Zweitstimmen erzielt hatte, entschied ein SPD Sonderparteitag mit einer knappen Mehrheit von gut 56 Prozent, das Ergebnis der Sondierungen zwischen CDU, CSU und SPD zu akzeptieren und die Parteiführung zu beauftragen, Koalitionsverhand­lungen mit der Union aufzunehmen.

Diese Woche haben die Koalitionsverhandlungen begonnen. Einmal mehr lohnt es sich, einen besonderen Blick auf die SPD und ihren Vorsitzenden Martin Schulz zu werfen. Apl. Prof. Dr. Torsten Oppelland hat sich die derzeitige Situation der Partei und die Ursachen dafür genauer angeschaut und in einem kurzen, aber prägnanten Beitrag zusammengefasst.

Die SPD zwischen Opposition und Großer Koalition

Autor

Dr. Torsten Oppelland ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet dort den Lehr- und Arbeitsbereich Vergleichende Regierungslehre. Er beschäftigt sich mit politischen Parteien auf regionaler, deutscher, europäischer und internationaler Ebene sowie mit politischer Kultur in Parteien bzw. deren Einfluss auf die politische Kultur sowie mit Geschichtspolitik und Rechtspopulismus.

Am Sonntag, den 21. Januar 2018, vier Monate nach der Bundestagswahl, bei der die Partei ein historisch schlechtes Ergebnis von 20,5 Prozent der Zweitstimmen erzielt hatte, entschied ein Sonderparteitag mit einer knappen Mehrheit von gut 56 Prozent, das Ergebnis der Sondierungen zwischen CDU, CSU und SPD zu akzeptieren und die Parteiführung zu beauftragen, Koalitionsverhand­lungen mit der Union aufzunehmen.

Der Weg, der zu diesem Sonderparteitag geführt hatte, war kurvenreich: Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Wahlergebnisses vom 24. September 2017 hatte der Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat Martin Schulz mit einiger Vehemenz die Große Koalition der vergangenen Wahlperi­ode für abgewählt erklärt und verkündet, die SPD stehe für eine neue Koalition nicht mehr zur Verfügung, sondern werde in die Opposition gehen und zugleich einen innerparteilichen Erneuerungsprozess einleiten. Dies geschah offenbar in der sicheren Erwartung, dass es ange­sichts der Mehrheitsverhältnisse zur Bildung einer neuen „Jamaika“-Koalition aus Unionsparteien, FDP und Grünen kommen würde, was jedoch nicht geschah. Als der FDP-Vorsitzende Christian Lindner die Sondierungsgespräche der vier beteiligten Parteien Ende November überraschend abbrach, begann sich die Koalitionszwickmühle der SPD abzuzeichnen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ermahnte alle Beteiligten und im Besonderen seine eigene Partei, sich der politischen Verantwortung zu stellen, und deutete an, er werde nicht ohne weiteres den Bundes­tag auflösen und Neuwahlen ansetzen. Es wurde deutlich, dass Martin Schulz sich und seine Partei mit seiner kategorischen Weigerung vom Wahlabend, in eine neue große Koalition einzutreten, in eine schwierige Position manövriert hatte, aus der er nicht ohne erhebliche Glaubwürdigkeitsver­luste wieder herauskommen konnte. Auch und vor allem innerparteilich war seine Position erschüt­tert, denn in der SPD war die Erleichterung darüber, nicht länger als Juniorpartner mitregie­ren zu müssen, mit Händen zu greifen gewesen. Um zu verstehen, wie die SPD in diese schwierige Lage geraten ist, gilt es, einen Blick auf die strukturellen, systemischen, situativen und personellen Ursachen für die Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2017 zu werfen.

Seit den Hochzeiten der deutschen Sozialdemokratie in den 1970er Jahren hat sich die Sozialstruk­tur in Deutschland wie in den meisten anderen Industrieländern verändert; die Größe der sozialdemokratischen Kernwählerschaft von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern hat dramatisch abgenommen. Damit schmolz das „natürliche“ Personalreservoir für die SPD zusam­men, wie etwa Franz Walter in zahlreichen Publikationen herausgearbeitet hat (zum Bei­spiel bereits: 2002: 239ff.). Gravierende Auswirkungen auf die Rekrutierung neuer Mitglieder und damit zusammenhängend nicht nur auf die abnehmende Zahl der Mitglieder, sondern auch auf das wachsende Durchschnittsalter der Mitglieder waren die Folgen. Dies hängt zwar nicht unmittel­bar mit den Wählerzahlen zusammen, nichtsdestoweniger ist es aber symptomatisch für die abnehmende strukturelle Mehrheitsfähigkeit der SPD– wie auch für viele andere sozialdemokrati­sche und sozialistische Parteien in Europa.

Neben den strukturellen Gründen für die schwachen Wahlergebnisse der SPD bei der letzten Bundes­tagswahl gibt es solche, die mit der Entwicklung des Parteiensystems zu tun haben. In den beiden längeren Regierungsphasen der SPD wurde deren Wählerpotential durch Abspaltungen reduziert. Waren in den 1980er Jahren die Grünen „Fleisch vom Fleische“ der Sozialdemokratie – zumindest aus der Sicht von Willy Brandt, der sich als Parteivorsitzender erfolglos um dieses Wähler­gruppe bemüht hatte –, so war der westdeutsche Teil der Partei Die Linke seit 2005 noch offensichtlicher eine Abspaltung von der SPD. An beide neuen Parteien hat die SPD massiv Wähler abgetreten. Und neuerdings kommt noch die Konkurrenz der AfD hinzu, die zwar nicht in erster Linie, aber eben auch die SPD betrifft, „wildert“ die Partei doch in deren Revier der „kleinen Leute“. Die unmittelbare Folge der Fragmentierung des Parteiensystems ist, dass der SPD die Machtoptionen abhandenkommen. Hätte sie in der letzten Wahlperiode rein rechnerisch noch in einer Koalition mit beiden linken Parteien, mit Grünen und Linken, regieren können, so geht das jetzt überhaupt nur noch als Juniorpartner in einer Koalition mit den Unionsparteien. Während sie in der ersten Konstellation mehr oder weniger automatisch den Kanzler stellen würde, müsste sie schon ein besseres Wahlergebnis als die Union erringen, um eine Großen Koalition anführen zu können. Beide Konstellationen schienen, wie die Umfragen zeigten, für einen kurzen Moment nach der Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aber spätestens mit der Niederlage bei der Landtagswahl 2017 im Saarland, bei der die SPD mit der Möglichkeit einer linken Koalition kokettiert hatte, wurde die zweite Option einer rot-rot-grünen Koalition immer deutlicher ausgeschlossen. Damit aber, mit der Möglichkeit einer Alterna­tive zur großen Koalition, verflüchtigte sich das Momentum des Kandidaten Schulz und es kam zu einem Abwärtstrend. Je mehr ausgeschlossen schien, dass die SPD die Union würde überholen könnte, desto mehr verlor sie an einer konkreten Machtperspektive und der Wahlkampf an Schwung. Am Ende standen die besagten 20 Prozent.

Als situative Gründe für die Wahlniederlage kann man die Tatsache bezeichnen, dass die SPD seit 2005, der Abkehr der CDU von den neoliberalen Reformprojekten des Leipziger Parteitags, mit einem Gegner zu tun hat, der in die Mitte strebt – Stichwort asymmetrische Mobilisierung –, dort der SPD zahlreiche Themen abspenstig macht und selbst deren Erfolge in der großen Koalition für sich vereinnahmt. Ob man das als Sozialdemokratisierung der CDU bezeichnen will, sei einmal dahingestellt.

Als personelles Problem der SPD kann man inzwischen den Vorsitzenden bezeichnen, der sich mit allzu großen Erwartungen belastet und befrachtet als überfordert erwiesen hat, für den sich aktuell aber auch kein Ersatz findet, der flügelübergreifend Akzeptanz finden würde.

Die Probleme der SPD im Hinblick auf den neuerlichen Eintritt in eine große Koalition haben vor allem zwei Gründe. In der eigenen Analyse der Wahlniederlage, soweit man überhaupt schon von einer ernsthaften Analyse sprechen kann, hat sich die Parteiführung völlig einseitig auf die situati­ven Ursachen konzentriert und im Grunde Angela Merkel und deren angebliche Verweigerung einer inhaltlichen Auseinandersetzung im Wahlkampf für das SPD-Ergebnis verantwortlich ge­macht. Darauf hat man zwei Antworten gegeben: Erstens müsse die SPD in die Opposition gehen, um die Umklammerung durch Merkel und die CDU beenden; denn, zweitens, könne sie sich nur dort in der Opposition erneuern – womit zumindest doch die Andeutung gemacht wurde, dass es über die Merkel-CDU hinaus Gründe für das schlechte Wahlergebnis gab. Diese Konzentration auf die situativen Faktoren hatte aus der Sicht der Führung den vorteilhaften Nebeneffekt, dass von den personellen Problemen abgelenkt wurde und sich die Partei aufs Neue hinter Schulz versam­meln konnte. In dem zentralen Hauptargument des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in der späte­ren Debatte um die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien, von der SPD werde für seine Generation nichts mehr übrigbleiben, wenn sie dem Kurs der Wahlnacht untreu werde und sich erneut in die große Koalition begebe, spiegelt sich diese einseitige Fixierung auf die Merkel-CDU.

Die Fragen für die Zukunft der Partei, die durch die anderen Ursachen für die Wahlniederlage aufge­worfen werden, sind noch nicht einmal im Ansatz beantwortet. Wie soll eine zukünftige Machtoption der SPD aussehen? Die GroKo-Kritiker haben wahrscheinlich recht, dass die SPD nur dann eine Aussicht hat, mittelfristig wieder einmal einen Kanzler oder eine Kanzlerin zu stellen, wenn es gelingt, ein alternatives Bündnis zur Koalition mit der Union zu schmieden. Dieses ist aber nicht einmal in Umrissen erkennbar, da eine Koalition mit der Linken auf Bundesebene nach wie vor kaum konsensfähig in der SPD ist. Hinzu kommt, dass selbst im Falle einer Unionsminderheits­regierung keineswegs gewiss wäre, dass sich eine rot-rot-grüne „Koalition in der Opposition“ bilden würde. Die Jamaika-Sondierungen haben gezeigt, dass es eine gewachsene Nähe von Union und Grünen gibt. Warum sollte es also im Falle einer Minderheitsregierung, die ohnehin auf wechselnde Mehrheiten angewiesen wäre, nicht zu kooperativen Beziehungen zwi­schen CDU und Grünen kommen, die es selbstverständlich in manchen Bereichen, etwa der Europapoli­tik, auch zwischen Union und SPD geben würde? Der Profilierung der Parteien und der programmatischen „Erneuerung“ wäre das nicht unbedingt zuträglich.

Auch auf die Frage, wie die SPD die zur AfD abgewanderten Wähler zurückgewinnen will, gibt es noch keine Antworten. Die Sondierungen mit der Union erweckten eher den Eindruck, dass man die Frage noch nicht einmal gestellt hat. Der „Knackpunkt“ Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz deutet jedenfalls nicht darauf hin, dass man sich dieser Wählergruppe anzunä­hern beabsichtigt.

Auch die angekündigte Erneuerung der Partei zeichnet sich nur in ersten Umrissen ab. Zwar hat es im Oktober und November 2017 bereits eine Reihe von Foren für den Mitgliederdialog gege­ben. Was dabei herauskam, scheint bislang kaum über jene Rezepte zur Parteireform hinauszuge­hen, die bereits in der jüngeren Vergangenheit erprobt wurden, ohne allzu viel Wirkung zu erzie­len (Jun 2009). So ist es leichter gesagt als getan, „die „großen Linien“ ihrer Politik stärker herauszuar­beiten“, die „Zukunftsvision“ zuzuspitzen und „die SPD als Alternative erkennbar“ machen; selbst den „Austausch mit den (neuen und alten) Mitgliedern und interessierten Bürgerin­nen und Bürgern“ fortzuführen und zu institutionalisieren, dürfte im politischen Alltag letztlich nicht so einfach sein. Und „die Parteiarbeit auf das digitale Zeitalter auszurichten und attraktive Angebote zur Beteiligung aller bei der Neuaufstellung der SPD zu schaffen“ (alle Zitate aus: https://www.spd.de/spderneuern/), das klingt verdächtig nach dem, was einst auch schon unter Matthias Machnig ins Werk gesetzt wurde, ohne den Trend bei der Entwicklung der Mitglieder­zahlen umdrehen zu können.

Das Dilemma der SPD besteht vor allem darin, dass die vordergründigen und kurzfristigen Probleme sich tatsächlich eher aus der Situation der Opposition lösen lassen würden. Selbstverständ­lich wäre es eher möglich, eine klare Alternative zur Union zu kommunizieren, wenn man in der Opposition zu einer unionsgeführten Regierung stände. Aber die Antworten auf die Fragen nach den strukturellen Veränderungen der Gesellschaft, nach den Veränderungen des Parteienwettbewerbs und nach dem Aufbau attraktiven Spitzenpersonals haben wahrscheinlich wenig damit zu tun, ob man sich in einer großen Koalition oder in der Opposition befindet. Und deshalb ist es für die Partei so schwer, sich zu entscheiden, ob sie in die GroKo gehen soll oder nicht.

Literatur

Jun, Uwe (2009): Organisationsreformen der Mitgliederparteien ohne durchschlagenden Erfolg: Die innerparteilichen Veränderungen von CDU und SPD seit den 1990er Jahren, in: ders., O. Niedermayer, E. Wiesendahl (Hrsg.), Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, S. 187-210.

Walter, Franz (2002): Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin: Alexander Fest Verlag.

Zitationshinweis

Oppelland, Torsten (2018):  Die SPD zwischen Opposition und Großer Koalition, Essay, Erschienen auf: regierungsfor­schung.de, Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-spd-zwischen-opposition-und-grosser-koalition/

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