Manfred Krapf: Von Schröder zu Merkel. Die SPD in den Bundestagswahlen von 1998 bis 2013.

Es ist das Grauen in Zahlen: Bei der Bundestagswahl 2013 erhält die SPD noch gut elf Millionen Stimmen, neun Millionen weniger als noch 1998. Vier Jahre später sind es nicht einmal mehr zehn Millionen Stimmen, ein Verlust von 53 Prozent im Vergleich zum Schröder-Triumph 19 Jahre zuvor. Jetzt nach der vierten Niederlage in Folge, nach drei Wahlergebnissen auf Weimarer Niveau will die SPD endlich ihren Abstieg aufarbeiten: Wie und warum konnte das passieren?

Dr. Timo Grunden hat das Buch „Von Schröder zu Merkel“ von Manfred Krapf gelesen und seine Eindrücke zusammengefasst. Manfred Krapf wolle durch die Aufarbeitung der empirischen Wahlforschung dazu „beitragen“, die sozialdemokratischen Wahlniederlagen „erklärbar“ zu machen.

Manfred Krapf: Von Schröder zu Merkel. Die SPD in den Bundestagswahlen 1998 bis 2013

Tectum, Baden-Baden,  2017, 191 Seiten, ISBN: 978-3-8288-3994-6 , 29,95 Euro

Autor

Dr. Timo Grunden ist Grundsatzreferent der SPD-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen. Die politischen Bewertungen in seiner Rezension sind ausschließlich seine persönlichen.

 

 

Es ist das Grauen in Zahlen: Bei der Bundestagswahl 2013 erhält die SPD noch gut elf Millionen Stimmen, neun Millionen weniger als noch 1998. Vier Jahre später sind es nicht einmal mehr zehn Millionen Stimmen, ein Verlust von 53 Prozent im Vergleich zum Schröder-Triumph 19 Jahre zuvor. Jetzt nach der vierten Niederlage in Folge, nach drei Wahlergebnissen auf Weimarer Niveau will die SPD endlich ihren Abstieg aufarbeiten: Wie und warum konnte das passieren?

Zu welchen Schlüssen die Sozialdemokraten auch kommen mögen, sie werden – wie jede „historische Wahrheit“ – auch das Ergebnis parteiinterner Diskurse, Verhandlungen und Machtverhältnisse sein. Die „Schuldfrage“ darf die Partei nicht spalten. Ihre Flügel und Strömungen, deren Mitglieder dazu neigen, die eigenen politischen Überzeugungen mit brillanter Wahlkampftaktik gleichzusetzen, müssen sich in der Probleminterpretation widerfinden können. Vor allem muss die Analyse dazu dienen, die Parteiführung mit ausreichend Legitimität für programmatische und organisatorische Reformen auszustatten – ganz gleich, ob sich diese Reformen unmittelbar aus den Fehlern vergangener Jahre ableiten lassen oder nicht. Den einen Grund für den Abstieg gibt es ohnehin nicht und Strategien für den Wiederaufstieg sind nicht das Negativ vergangener Fehler, jedenfalls nicht apriori. Programmatische und organisatorische Zukunftskompetenz ist wichtiger als die historisch und empirisch korrekte Analyse der Vergangenheit. Mit anderen Worten: Die parteiinterne Aufarbeitung der Wahlniederlagen wird weit mehr als nur wissenschaftlichen Anforderungen genügen müssen.

Wie es zum Abstieg kommen konnte und wie ein Wiederaufstieg gelingen kann, sind politisch hochsensible, weil konfliktträchtige Fragen, auf die sich nur dann zukunftsweisende, weil einigende Antworten geben kann, wenn die SPD versteht, was ihr in den vergangenen Wahlen eigentlich widerfahren ist. Und genau das leistet Manfred Krapf. Er wolle durch die Aufarbeitung der empirischen Wahlforschung dazu „beitragen“, die sozialdemokratischen Wahlniederlagen „erklärbar“ zu machen. Der bescheiden formulierte Anspruch des Autors ist angemessen und von erfreulicher Aufrichtigkeit. Im Gegensatz zu anderen Autoren widersteht Krapf der Versuchung eines Etikettenschwindels: Viel zu oft wird mit „Erklärung“ geworben, obwohl „nur“ Beschreibung geliefert wird. Echte Erklärungen wären empirisch begründete Kausalitäten, die zum Beispiel benennen könnten, welche Entscheidungen (oder Unterlassungen) welche Wählergruppen abgestoßen haben oder warum bestimmte Programmangebote die Erwartungen bestimmter Wählerschichten enttäuschen. Die Beschreibung von Symptomen ist noch keine Diagnose, geschweige denn eine Therapie. Aber nur durch eine gute Beschreibung können wir wissen, wo nach Ursachen zu suchen ist und wo Lösungen gefunden werden können.

Manfred Krapfs Studie ist ein Schadensbericht, wohltuend nüchtern und emotionslos, ohne die herablassende Besserwisserei, mit der sich so viele Publizisten und Politikwissenschaftler über die SPD beugen wie Fräulein Rottenmeier über ein ungezogenes Kind. Krapf zerlegt das Wählerverhalten von 1998 bis 2013 in die klassischen Kategorien der Wahlforschung: Wahlbeteiligung, Wahlgeographie und Sozialdemographie (Geschlecht, Alter, Religion, Berufsgruppen usw.) sowie Parteikompetenzen, Kandidatenimages und Wählerwanderungen. Er erhebt keine eigenen Daten sondern dokumentiert und vergleicht die Daten der Nachwahlbefragungen von Infratest und der Forschungsgruppe Wahlen sowie weiterer Analysen zu den einzelnen Bundestagswahlen. Diese kompakte Darstellung ist ein Wert für sich, erleichtert sie doch ungemein die Beschreibung und Einordnung von Wahlniederlagen, um die sich nun auch so mancher SPD-Referent auf Landesebene zu kümmern hat.

Dass der bisherige Tiefpunkt von 2017 nicht in den Untersuchungszeitraum der Studie fällt, mindert nicht den Erkenntnisgewinn der Lektüre. Denn bei Krapf wird eines sehr deutlich: Wenn die Sozialdemokraten verstehen wollen, was ihnen in den Wahllokalen der letzten Jahre widerfahren ist, sollten sie vor allem eine Wahl analysieren: die Bundestagswahl von 2009. Sie ist die „critical election“, die Wahl nach der nichts mehr so war wie zuvor. Diese Wahl war der Höhepunkt und vorläufige Schlusspunkt aller sozialdemokratischen Verluste seit 1998: vor allem an die Nichtwähler, an die Union und die Linkspartei. Alle Verluste und leichten Gewinne in 2013 und 2017 sind – gemessen in absoluten Stimmen – nur noch statistische Zuckungen. Seit 2009 ist die SPD eine Partei ohne Eigenschaften:

  • erstens im Hinblick auf das Elektorat, weil sie in fast allen Gruppen – ganz egal, ob man sie nach Milieus oder Sozialdemographie sortiert – gleich stark (oder besser: gleich schwach) abschneidet; „Unser Stammklientel“, von dem in der SPD noch immer die Rede ist, gibt es nicht mehr.
  • zweitens im Hinblick auf die ihr zugeschriebenen Kompetenzen: nichts sticht im Vergleich mit anderen Parteien hervor, von Kompetenzdefiziten im Vergleich zur Union abgesehen. Dass sie auf dem Feld „Soziale Gerechtigkeit“ doch noch vorne liegt, kann niemanden trösten, denn zum einen ist diese Kategorie der kommerziellen Wahlforschung überaus abstrakt und zielt eher auf Haltung als auf Problemlösungskompetenz. Zum anderen schlägt sich dieser Vorsprung auf konkreten Politikfeldern nicht nieder, weder bei Rente oder der Gesundheitspolitik, noch in der Steuer- oder Arbeitsmarktpolitik.

Die SPD, einst die Partei des  „Sowohl-als-auch“ (Willy Brandt) ist schon viel zu lange eine – eine „Weder-noch-Partei“ (Franz Walter). Sie steht weder ausreichend deutlich für soziale Gerechtigkeit noch für Wirtschaftskompetenz; weder ausreichend deutlich für liberale Bürgerrechte noch für Sicherheit; weder für Weltoffenheit noch für die Interessen jener Wählerschichten, die in Globalisierung, Einwanderung und Digitalisierung keine „Chancen“ für sich ausmachen können. Dabei ist die AfD kein besonderes Problem für die Sozialdemokratie. Denn Manfred Krapf kann anhand seiner vielen Datenvergleiche zeigen, dass „der sozialdemokratische Abstieg (…) lange vor dem Auftreten der neuen rechtspopulistischen Bewegung begann“ (S.7).

Und was folgt nun daraus? Anstatt am Ende die bekannten Plattitüden deutscher Parteienforscher zu rezipieren („Stammklientel mit Mittelschichten verbinden“; „Markenkern erneuern“, „Meinungsführerschaften zurückgewinnen“), hätte Krapf genügend Material gehabt, um das Hauptproblem der Sozialdemokratie stärker herauszuarbeiten: der fehlende Mut zu programmatischen Angeboten, die profilieren und polarisieren. Je schlechter die Umfragedaten in den vergangen Jahren wurden, desto mehr erstarrte die Partei in Taktik-Diskussionen. Sie wollte allen ein bisschen von allem bieten, aber niemanden erschrecken, keinen verprellen, keinesfalls anecken. Ein Bruch mit der Austeritätspolitik der Kanzlerin? Ende der Zweiklassenmedizin? Gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Uni? Ein sozialer Arbeitsmarkt für eine Million Langzeitarbeitslose? Für all das fühlte man sich nicht stark genug. Das Risiko, noch mehr Wähler zu verlieren, schien zu groß. Am Ende, so hörte man es oft in der SPD, wählen uns nur noch zwanzig Prozent.

Zitationshinweis

Grunden, Timo (2017) Manfred Krapf. Von Schröder zu  Merkel. Die SPD in den Bundestagswahlen von 1998 bis 2013., Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de, Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/manfred-krapf-von-schroeder-zu-merkel-die-spd-in-den-bundestagswahlen-von-1998-bis-2013/

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld