Postmoderne Regierungsbildung: Unkonventionelle Lernprozesse für modernes Politikmanagement?

Unter dem Titel “Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird”, erschienen beim VSA Verlag, zeigt Benjamin-Immanuel Hoff (Hrsg.) die Dynamik und Potenziale von Minderheitsregierungen auf – mit neuen Modellen der parlamentarischen Zusammenarbeit, die zeigen, wie sich das Regieren mit Mehrheit ohne Mehrheit grundlegend verändert hat, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Die Suche nach neuen Kooperationslinien für Zukunftssicherheit prägen die Diskussion um die von Hoff umfassend beschriebenen Mechanismen des Regierens und die Bedeutung öffentlicher Diskurse, so Korte.

Minderheiten kämpfen gegen Ressentiments. Das gilt auch für Minderheitsregierungen. Mit ihnen verbinden die Wähler Chaos und wechselnde Mehrheiten. Instabilität und Politikstau kennzeichnen vorurteilsgeladene Minderheitsregierungen in den Bundesländern. Aktuell erleben wir das in Thüringen, wo sich 2024 eine Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) den Wählern stellen wird. Wenn Wählermärkte und Koalitionsmärkte nicht mehr zusammenpassen und eine Groko rechnerisch nicht ausreicht, kann eine Minderheitsregierung konstruktiv weiterhelfen. Postmoderne Regierungsbildung als Ausweg?

 

Postmoderne Regierungsbildung: Unkonventionelle Lernprozesse für modernes Politikmanagement?

Benjamin-Immanuel Hoff (Hrsg.): Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. VSA Verlag, Hamburg 2023, 258 Seiten

 

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

 

Minderheiten kämpfen gegen Ressentiments. Das gilt auch für Minderheitsregierungen. Mit ihnen verbinden die Wähler Chaos und wechselnde Mehrheiten. Instabilität und Politikstau kennzeichnen vorurteilsgeladene Minderheitsregierungen in den Bundesländern. Aktuell erleben wir das in Thüringen, wo sich 2024 eine Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) den Wählern stellen wird.

Wenn Wählermärkte und Koalitionsmärkte nicht mehr zusammenpassen und eine Groko rechnerisch nicht ausreicht, kann eine Minderheitsregierung konstruktiv weiterhelfen. Postmoderne Regierungsbildung als Ausweg?

Grundsätzlich kann sich ein Minderheits-Experiment als Blockadebrecher erweisen, wenn auch die parlamentarische Mitsteuerung von Regierungen neu definiert wird. Regeln, Prioritäten und Routinen des Parlamentarismus sind von diesem Relaunch im Regierungsformat unmittelbar betroffen. In skandinavischen Ländern gehören Minderheitsregierungen zur regelhaften Regierungspraxis. In Deutschland galten sie bislang als Übergangsregierungen – mit der Ausnahme von Sachsen-Anhalt, wo zwei Minderheitskabinette acht Jahre lang regierten – und nun in Thüringen seit 2019. Immerhin zwei Jahre hielt auch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) in NRW mit einer (rot-grünen) Minderheit durch.

An die Stelle kalkulierter politischer Aktionseinheiten im Minderheitsregime sollen gesetzgeberische Mehrheiten einer abstimmenden, offenen Parlamentsmehrheit treten. Dabei sind zwei Modelle denkbar, wobei offen bleibt, wie viele Parteien sich zu einer Minderheitskoalition der Regierungsverantwortung zusammenschließen. Mit stillen Teilhabern an der Regierungsmacht, etwa durch formalisierte Absprachen mit einer Fraktion, könnte eine heimliche Mehrheitsregierung als Quasi-Koalitionsmodell Entscheidungen treffen. Sie wäre ein formalisierter dritter Partner einer Minderheitskoalition, soweit dies rechnerisch reichen würde: eine Reserve-Mehrheit.

Ein zweites Modell besteht in einzelfallbezogenen Kooperationsverhältnissen mit wechselnden Partnern. In diesem Modell hätten die Ministerpräsidenten die Chance, in einem parlamentarischen System themenbezogene Ad-hoc-Mehrheiten präsidial zu organisieren. Dies kann gelingen, wenn mehrere Fraktionen – und nicht nur eine einzige mit Erpressungspotential – für die jeweilige Mehrheitsfindung zur Verfügung stehen, vor allem in Fragen der Haushaltspolitik. Die Parteien wollen verhindern, dass sogenannte „kontaminierte Stimmen“ – also die Unterstützung durch die Partei der AfD – für Mehrheiten notwendig wären.

Thüringen wählte einen Sonderweg, wie der Chef der Staatskanzlei in Erfurt und Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten in seinem lesenswerten Leidensbericht darlegt. Die CDU bot der rot-rot-grünen Koalitionsregierung einen sogenannten „Stabilitätsmechanismus“ an. Torsten Oppelland thematisiert dies in seinem Beitrag systematisch und problemorientiert. Im Unterschied zu Hoff ist Oppelland als Politikwissenschaftler unterwegs. Hoff zeigt aus der Perspektive der Staatskanzlei, wie sich das Regieren mit Mehrheit ohne Mehrheit fundamental verändert hat. Wir sehen die Mechanismen, die er beschreibt, um steuernd zu gestalten.

Für den parlamentarischen Alltag im Landtag ergeben sich daraus unterschiedliche Formen der Fraktionsarbeit. Mitglieder der Minderheits-Regierungsfraktionen sind auf die Hilfe anderer Abgeordneter angewiesen, um mehrheitsfähig zu werden. Verbündete für Mehrheiten können in sogenannten Stützfraktionen gefunden werden, mit denen punktuelle und problembezogene Absprachen möglich sein sollten. Tolerierungsfraktionen wiederum, die sich als koalitionsunfähig oder koalitionsunwillig erweisen, nutzen bei Abstimmungen die Enthaltung, um Entscheidungen zu ermöglichen.

Die Kosten des Regierens, möglicherweise sinkende Popularität der amtierenden Regierung, würden dabei nicht der Opposition zugerechnet. Auch langfristige Strategien im Parteienwettbewerb könnten durchaus für wechselnde Gesetzgebungsmehrheiten sprechen, was in Düsseldorf durchaus auch zu beobachten war, nicht jedoch in Erfurt. Denn im Viel-Parteien-System muss man permanent auf Brautschau bleiben. Koalitionsoptionen sichern Auswege aus Patt-Situationen. Neue Bündnisse entstehen nicht abrupt an Wahltagen, sondern brauchen Vorlauf. Allerdings bedeuten Sachkoalitionen der Minderheitsregierung mit einzelnen Oppositionsfraktionen in der Regel eine deutliche Aufwertung der jeweiligen Ad-hoc-Partner. Die kleineren Parteien werden damit automatisch ein Stück weit regierungsfähig werden.

Neue Formate werden auch die parlamentarische Alltagskultur aufbrechen. Viel früher als unter den Bedingungen eines klaren Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition muss parlamentarische Mitsteuerung bereits beim gemeinsamen fraktionsübergreifenden Ideenmanagement ansetzen. Wo könnten die Schnittstellen liegen, die zu Win-Win-Situationen führen? Bereits die Einbringung des Gesetzesentwurfs wird zur Nagelprobe informeller Abstimmungsprozesse. Wer künftig zur Mehrheitsbildung primär auf die Arbeit in den parlamentarischen Ausschüssen setzt, dürfte enttäuscht werden.

Was die Ministerpräsidentendemokratie an Macht verliert, gewinnt der Landtag. Wo früher die Staatskanzlei als Regierungszentrale machtsteuernd eingriff, muss sie unter den Bedingungen einer Minderheitsregierung noch stärker als bisher netzwerkartig koordinieren. Hierarchie verpufft, wenn sie nicht mehr auf eine tradierte Parlamentskultur trifft. Going public wird zum wichtigsten präsidentiellen Instrument der Ministerpräsidenten in einer parlamentarischen Minderheitsdemokratie. Der öffentliche Diskurs kann den parlamentarischen Diskurs beflügeln. Nie waren Debatten wertvoller als in Zeiten offener Willens- und Entscheidungsprozesse. Nie waren die Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten größer als heute. Politische Führung als Kommunikationsaufgabe bekommt eine noch wichtigere Rolle.

Dies setzt allerdings voraus, dass sich alle Abgeordneten des Landtags dieses völlig neuen Formats bewusst werden, seine Chancen und Risiken neu ausloten. Unkonventionelle Lernprozesse können einsetzen, wenn sich Erfahrungsgewinne und ein Orientierungswandel abzeichnen. Das braucht Zeit. Und Fraktionsführungen mit Gespür für modernes Politikmanagement.

Als Wähler müssen wir uns daran gewöhnen, nicht mehr Regierungsstabilität für eine Legislaturperiode als oberstes Ziel zu betrachten, sondern auch Instabilität zu honorieren: Unsicherheitstoleranz. Nicht zuletzt können alle Mehrheitsexperimente nur mit einer professionellen medialen Begleitung gelingen, die mit neuen Maßstäben nicht täglich nur nach Misserfolgen, Dissens und Instabilität sucht. Solche Experimente sind eine vitale Antwort aus der Parteiendemokratie  heraus und gegen den Relevanzverlust von Parlamenten. Eine moralische Überhöhung dieses Experiments ist unangebracht. Aber es bleibt eine Alternative, wenn Mehrheiten nur um den Preis von Allparteien-Koalitionen zu bilden sein könnten.

Für den Wahlkalender 2024 – mit drei Ostwahlen, bei denen es jeweils darum gehen könnte, eine Mehrheitsfraktion der AfD politisch zu umspielen, sind das Government-Perspektiven. Die 18 Beiträge in Hoffs Buch machen allerdings wenig Hoffnung. Die Parteien sind in Erfurt extrem dissonant und in sich wenig stabil. Das Feld scheint verkämpft und gereizt. Wie nach den Wahlen eine stabile Regierung gebildet werden kann, bleibt fraglich. Auch die Minderheitsexperimente der Linken werden sicher nicht über 2024 hinaus tragen. Wo sind neue Kooperationslinien für Zukunftssicherheit?

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): Postmoderne Regierungsbildung: Unkonventionelle Lernprozesse für modernes Politikmanagement?, Benjamin-Immanuel Hoff (Hrsg.): Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/postmoderne-regierungsbildung-unkonventionelle-lernprozesse-fuer-modernes-politikmanagement/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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