Krisengetriebener Realismus Deutschlands und verstärktes Coreper

Stefan Haußner, der an der Universität Duisburg-Essen lehrt und forscht, betrachtet die europäische Ebene während der Corona-Pandemie. Mit welchen Herausforderungen sahen sich die europäischen Institutionen, insbesondere der Rat der EU, konfrontiert? Auch wenn ein physisches Treffen der Ratskonstellationen kaum möglich war, gelang es über den Ausschuss der Ständigen Vertreter und die starke Nutzung informeller Videoformate arbeitsfähig zu bleiben. Dabei lagen große Erwartungen auf der deutschen Ratspräsidentschaft, die letztlich ihre Agenda überarbeiten musste.

Die Europäische Union Ende des Jahres 2019: Nach der Europawahl hat es lange gedauert, bis eine funktionsfähige Kommission die Arbeit aufnehmen konnte. Eine sich verändernde Weltordnung stellt die globale Rolle der EU zwischen Supermächten wie den USA und China in Frage, die Beziehungen zum Weißen Haus sind schwierig. Mit dem Brexit hat sich zum ersten Mal ein Mitgliedsstaat von der Union losgesagt. Expert*innen schien es beinahe unmöglich ein Handelsabkommen binnen Jahresfrist abzuschließen und dementsprechend schwierig gestalteten sich auch die Verhandlungen.

Krisengetriebener Realismus Deutschlands und verstärktes Coreper

Der Rat der EU und die deutsche Ratspräsidentschaft in Zeiten der Distanzdemokratie

Autor

Stefan Haußner, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der statistischen Simulation von Wahlergebnissen bei universeller Wahlbeteiligung sowie der Analyse des europäischen Rechtspopulismus.

Einleitung

Die Europäische Union Ende des Jahres 2019: Nach der Europawahl hat es lange gedauert, bis eine funktionsfähige Kommission die Arbeit aufnehmen konnte. Eine sich verändernde Weltordnung stellt die globale Rolle der EU zwischen Supermächten wie den USA und China in Frage, die Beziehungen zum Weißen Haus sind schwierig. Mit dem Brexit hat sich zum ersten Mal ein Mitgliedsstaat von der Union losgesagt. Expert*innen schien es beinahe unmöglich ein Handelsabkommen binnen Jahresfrist abzuschließen und dementsprechend schwierig gestalteten sich auch die Verhandlungen. Intern streiten die Mitgliedsstaaten über Fragen der Rechtsstaatlichkeit, den Haushalt und den Umgang mit Geflüchteten. Nicht zuletzt herrscht Uneinigkeit oder Unwillen darüber, wie man die fortschreitende globale Erwärmung verlangsamen und zu einem nachhaltigeren Umgang mit endlichen Ressourcen kommen kann.

In diese schwierige Ausgangslage kracht eine globale Pandemie, deren Schwere Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt mindestens an den Rand der Leistungsfähigkeit bringt und zum Teil darüber hinausführt. Die Pandemie ist abermals ein offensichtlich transnationales Problem, vor welches die Europäischen Institutionen gestellt werden. Gerade in grenzüberschreitenden Fragen, die einzelne Staaten nicht alleine lösen können, misst sich die Europäische Union besondere Kompetenz zu. Sie muss sich allerdings auch direkt der Herausforderung stellen, dass Gesundheitspolitik größtenteils in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten liegt. Die ersten Reaktionen sind dann auch von Abschottung gekennzeichnet, bis hin zur Aussetzung essentieller Grundfreiheiten wie der Personenfreizügigkeit. Gleichzeitig werden – wie immer – Rufe nach einer europäischen Lösung laut. Hoffnungen liegen dabei besonders auf der deutschen Ratspräsidentschaft, die das Land turnusgemäß im Juli 2020 übernahm.

Der vorliegende Beitrag untersucht die Anpassungsfähigkeit des Rats der EU an die veränderten Anforderungen an das politische Entscheiden auf Distanz. Zunächst wird dafür auf die Prozesse innerhalb des Rats fokussiert, um die Anpassungen mit den anderen Europäischen Institutionen zu vergleichen. Anschließend wird auf die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft eingegangen und deren Charakter analysiert. Schließlich lagen auf diesem Vorsitz vor allem in Krisenzeiten große Hoffnungen, hatte Deutschland doch bei dessen letzter Präsidentschaft im Jahr 2007 maßgeblich dazu beigetragen, die Europäische Einigung nach dem gescheiterten Verfassungsprozess wieder auf die Bahn zu setzen. Waren die Voraussetzungen im Jahr 2020 auch völlig andere, so führte abermals ein krisengetriebener Realismus zu einer größtenteils erfolgreichen Präsidentschaft.

Der Rat der EU in der Corona-Pandemie

Grundsätzlich ist das Verfahren zur Entscheidungsfindung im Rat der EU nicht ausschließlich auf die verschiedenen Sitzungen der Fachminister*innen beschränkt. Ähnlich wie bei anderen Institutionen läuft die interne Entscheidungsfindung im Rat der Europäischen Union hierarchisch ab. Involviert sind hier vor allem drei Ebenen: Die erste Ebene besteht aus unzähligen Arbeitsgruppen und hochspezialisierten Ausschüssen, welche die Entscheidungen vorbereiten. Deren Schlussfolgerungen werden dann auf die Ebene der Coreper weitergeleitet. Dieser Ausschuss der ständigen Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten erreicht bei einem Großteil der Vorschläge eine Einigung. Diese werden als A-items dann meist ohne weitere Diskussion im Rat angenommen. Die unterschiedlichen Ratskonstellationen (je nach Themengebiet), beschäftigen sich dann auf der höchsten politischen Ebene hauptsächlich mit denjenigen Vorschlägen, die auch auf der Ebene des Coreper keine Einigung gefunden haben (B-items) oder aber politisch enorm sensibel sind. In den Ratssitzungen dominiert dabei der Verhandlungsmodus stärker als erneuter Meinungsaustausch. Die institutionelle DNA des Rates ist die der Kompromissfindung und das Verhandeln gegenseitiger Zugeständnisse. Der übliche Weg ist dabei außerdem die mündliche Verhandlung in persönlichen Treffen. In der Geschäftsordnung ist eine rein schriftliche Vorgehensweise („written procedure“) allerdings ebenfalls vorgesehen, muss aber einstimmig beschlossen werden (Russack und Fenner 2020).

Mit diesen Ausgangsvoraussetzungen und der Tatsache, dass Ratskonstellationen immer aus 27 nationalen Minister*innen bestehen, deren grenzüberschreitende Reisetätigkeit ebenfalls auf ein Minimum zurückgefahren wird, hat der Rat etwas schlechtere Ausgangsvoraussetzungen als die Kommission, jedoch deutlich bessere als das Parlament.

Anpassungen

Kontakt- und Reisebeschränkungen machten es für den Ministerrat schnell unmöglich formelle Treffen abzuhalten. Virtuelle Sitzungen sind als formelle Sitzung nicht vorgesehen. Die Ratsagenda wurde noch unter der kroatischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2020 deutlich gekürzt und bezog sich lediglich auf Kerngebiete des Krisenmanagements (öffentliche Gesundheit, Wirtschaft, Finanzen). Arbeitsgruppen, die nicht essenziell für die gekürzte Agenda waren, wurden abgesagt.

Stattdessen rückte der Ausschuss der ständigen Vertreter (Coreper) stärker in den Fokus. Dieser hörte nie auf, sich auch persönlich zu treffen und übernahm so zentrale Aufgaben. Während der Hochphase der Pandemie war das Gremium der Coreper für die Entscheidungsfindung des Rates von entscheidender Bedeutung und schulterte sowohl Vorbereitungsaufgaben als auch politische Entscheidungen stärker als vor der Pandemie (Russack und Fenner 2020).

Obwohl Videokonferenzen nicht als offizielle Sitzung gelten können, wurden diese auf der Ratsebene stark genutzt – aber als informell deklariert. Virtuellen Meetings fehlen jedoch wichtige Dynamiken, die gerade für Verhandlungen wichtig sind und nicht bloßen Meinungsaustausch gewährleisten sollen. Nonverbale Kommunikation, die Möglichkeit informell in Kleingruppen außerhalb des Raumes zu sprechen oder Druck von Minister*innen anderer Mitgliedsstaaten fallen zum größten Teil weg, weshalb die Ratskonstellationen ihrer DNA zu großen Teilen beraubt wurden.

Da während der Videokonferenzen keine offiziellen Entscheidungen getroffen werden konnten, rückte das schriftliche Verfahren stärker in den Vordergrund. Während dies eigentlich einstimmig beschlossen werden muss, änderte man die Geschäftsordnung nun so, dass in den Politikfeldern, in denen eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung ausreicht, auch das schriftliche Abstimmungsverfahren per qualifizierter Mehrheit beschlossen werden kann (Russack und Fenner 2020). Dadurch erreichte man eine Vereinfachung des Systems, was den Rat entscheidungsfähig hielt, während persönliche Sitzungen ausgeschlossen waren.

Vergleich zu anderen EU-Institutionen

Im Vergleich mit den anderen EU-Institutionen schneidet der Rat der EU auf einem Mittelfeldplatz ab. Dabei ist vor allem interessant, wie stark die Pandemie die geltende Geschäftsordnung und die eingeübten Prozesse der Institutionen verändert, und welchen Einfluss Corona auf die institutionelle DNA hat.

Die Europäische Kommission konnte sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten als erfolgreiche Koordinatorin behaupten. Dabei fiel jedoch immer wieder auf, dass Gesundheitspolitik Sache der Mitgliedsstaaten ist, weshalb die Europäische Kommission um Handlungsmacht ringen musste. Dennoch hatte die Kommission den Vorteil, dass die Institution ausschließlich in Brüssel beheimatet und ihre Arbeit fast vollständig auf einen Ort konzentriert ist. Sie ist demnach wenig betroffen von Reiseeinschränkungen. Darüber hinaus hat sie vor allem gegenüber dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament den Vorteil, dass die Arbeitssprache durchgehend Englisch ist und allenfalls auf die zwei weiteren Hauptsprachen Französisch und Deutsch zurückgegriffen wird. Dadurch ergibt sich kaum Notwendigkeit für Simultanübersetzungen während Videokonferenzen oder anderen Formaten (Russack und Fenner 2020).

Zu Beginn der Pandemie war die Aktivität der Kommission hauptsächlich koordinativer Natur. Als Hüterin der Verträge hatte die Kommission alle Hände voll zu tun, die nationalen Alleingänge einzufangen und an einer gemeinsamen europäischen Lösung mitzuwirken. Diese Anstrengungen waren zunächst nicht unbedingt erfolgreich. Die ersten Reaktionen der EU wirkten mit der unorganisierten Einführung von Lockdowns zunächst unkoordiniert. Das Ausbleiben von Exporten medizinischer Geräte aus EU-Ländern nach Italien vermittelte den Eindruck, dass Protektionismus die Reaktion der EU-Länder dominierte (Wolff und Ladi 2020). Die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen und die Aussetzung der Freizügigkeit durch 17 Mitgliedsstaaten bei völligem Fehlen von Abstimmungsprozessen verdeutlichte die Verschiebung der Machtbalance zu Ungunsten der Europäischen Kommission (Wolff und Ladi 2020).

Während des Sommers konnte die Kommission, ihrer institutionellen DNA entsprechend, vor allem durch eine koordinative Rolle wieder Handlungsmacht zurückgewinnen. Die Europäische Kommission war in der Lage den Kaskadeneffekt der Pandemie auf die Wirtschaft zu antizipieren und konnte ihre Expertise in dem Bereich wirtschaftlicher Hilfen gewinnbringend ausspielen. Gute institutionelle Voraussetzungen gepaart mit einem Modus der Entscheidungsfindung, der im Kollegium der Kommissar*innen weniger auf Kompromiss als auf Meinungsaustausch angelegt ist, verhalfen der Kommission zu einer insgesamt guten Position während der Krise.

Der Europäische Rat als Gremium der Staats- und Regierungschef*innen ist im Europäischen Institutionengefüge am wenigsten in das alltägliche Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Seine Aufgabe ist es, politische Leitlinien zu formulieren. Im Normalfall trifft sich der Europäische Rat auch nur zweimal pro Halbjahr, was die Vorbereitung der Gipfel unter den passenden Hygienebedingungen etc. etwas einfacher macht als bei europäischen Institutionen, die auf täglicher Basis arbeiten. Dennoch ist der Europäische Rat oftmals das Gremium in dem die sensibelsten und kontroversesten politischen Entscheidungen abschließend getroffen werden. Die politische Macht liegt oftmals letztlich im Europäischen Rat. Trotz oder gerade aufgrund der politischen DNA des Europäischen Rates als übergeordnete Institution, rückt er gerade in Krisenzeiten medial häufig in den Fokus. Gipfeltreffen und die reine Ansammlung von exekutiver Macht in Form der Staats- und Regierungschef*innen lassen sich hervorragend inszenieren und die konkreten Entscheidungen bieten oftmals mehr Stoff für Aufmerksamkeit erregende Schlagzeilen als das Klein-Klein des europäischen Gesetzgebungsprozesses.

Die Geschäftsordnung erlaubt zwar keine offiziellen virtuellen Sitzungen, allerdings kehrte der Europäische Rat auch schon schnell zu dem normalen Modus physischer Gipfeltreffen zurück. Eine Möglichkeit zur schriftlichen Abstimmung besteht zwar, allerdings machte der Europäische Rat hiervon keinen Gebrauch. Vielmehr deklarierte er virtuelle Treffen als informell und verlieh den Beschlüssen durch gemeinsame Erklärungen sowie den Conclusions of the President durch Ratspräsident Charles Michel einen pseudo-formellen Charakter. Charles Michel rückte somit verstärkt in den Vordergrund, während der Europäische Rat gleichzeitig klarstellt: Krisenpolitik ist Chef*innensache. Der Europäische Rat konnte seine Stellung als Krisenmanager weiterhin erhalten und ausbauen. Dies zieht sich als Konsequenz aus dem Lissabonner Vertrag von 2009 durch sämtliche europäische Krisen der letzten Dekade und wurde in der Corona-Pandemie nochmals wie unter einem Brennglas deutlich.

Die Infrastruktur als Institution mit explizit transnationalem Charakter macht es dem Europäischen Parlament in einer globalen Pandemie potentiell am schwersten, auf die neuen Hürden zu reagieren. Mitglieder des Europäischen Parlaments und deren Teams reisen oft zwischen Brüssel und ihren Heimatländern hin und her. Hinzu kommt die historisch bedingte Teilung des Sitzes des Europaparlaments zwischen Brüssel und Straßburg1 und die vertragliche Notwendigkeit, zwölf Plenarsitzungen in Straßburg abzuhalten, während Ausschussarbeit in Brüssel stattfindet. Schnell ergab sich die Frage nach sicheren Abstimmungsverfahren: Hier wurde durch großzügige Auslegung der Geschäftsordnung – ohne diese allerdings ändern zu müssen – auf die Regelungen zur elektronischen Stimmabgabe zurückgegriffen (Russack und Fenner 2020). Diese macht das Abstimmen der Parlamentarier allerdings deutlich komplizierter und vor allem zeitaufwendig. Es kommt hinzu, dass informelle Gespräche im Restaurant oder auf den Fluren des Parlaments zu den wichtigsten Verhandlungswerkzeugen der Parlamentarier zählen. Auch die informellen Triloge, die in der Vergangenheit zu einer Steigerung der Effizienz des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beigetragen hatten wurden zeitweise ausgesetzt (von Ondarza 2020).

Durch die fehlenden Kompetenzen im Bereich der Gesundheitspolitik wurde das Parlament häufig an die Seitenlinie gestellt und war gerade bei den ersten ökonomischen Gegenmaßnahmen der EU (Europäisches Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage – SURE, Einbeziehung des European Stability Mechanisms – ESM) nicht involviert. Schwierigere Ausgangsbedingungen gepaart mit unzureichender Vorbereitung schnell in den Krisenmodus wechseln zu können, machte das Europaparlament zum institutionellen Verlierer der ersten Pandemiemonate (von Ondarza 2020).

Der Rat der EU war vor diesem Hintergrund mit schwierigen, aber nicht den schwierigsten institutionellen Voraussetzungen in die Zeit der Pandemie gestartet. Es gab Vorkehrungen in der Geschäftsordnung, welche eine schnelle Adaption an die neuen Verhältnisse zuließen. Der modus operandi der Verhandlung wurde erschwert, blieb allerdings aufgrund der überschaubaren Menge der Akteure einfacher als beispielsweise im Europäischen Parlament. Die Zeit der Krise ist auch die Zeit der Regierungen, was sowohl dem Europäischen Rat als auch dem Rat der EU zugutekam. Gegenüber dem großen Bruder – dem Europäischen Rat – sah sich der Rat der EU allerdings häufig bereits vor vollendete Tatsachen gestellt und nimmt somit eine Mittelposition bei Verlierern und Gewinnern ein. Der Europäische Rat konnte seine Macht behaupten, wenn nicht sogar ausbauen. Das Europäische Parlament ist klarer Verlierer der neuen Distanzanforderungen und Kommission und Rat der EU haben Anpassungsfähigkeit gezeigt, konnten ihre Handlungsmacht allerdings auch nicht ausbauen.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft

Den Vorsitz im Rat der EU übernimmt halbjährlich rotierend ein anderer Mitgliedsstaat. Turnusgemäß zum ersten Mal seit 2007 fiel diese Rolle seit dem 1. Juli 2020 Deutschland und dessen Regierung zu. Von Juli bis Dezember hatten die deutschen Minister*innen offiziell den Vorsitz in den verschiedenen Ratskonstellationen, diktierten die Tagesordnung und moderierten die Verhandlungen. Als größter Mitgliedsstaat und ökonomisches Powerhouse Europas waren die Erwartungen, die an die deutsche Ratspräsidentschaft gestellt wurden, dabei enorm. So hatte Deutschland es während der letzten Ratspräsidentschaft 2007 geschafft, die Europäische Einigung nach dem gescheiterten Verfassungsprozess wieder in produktive Bahnen zu lenken (Lübkemeier und von Ondarza 2020). Die letzte Präsidentschaft unter einer Kanzlerin Angela Merkel stimmte viele Beobachter hoffnungsvoll, dass auch politisch sensible und große Themen angegangen würden, da die Kanzlerin nur noch wenig Rücksicht auf eine mögliche Wiederwahl und Dergleichen nehmen muss.

Der allgemeine Hintergrund der Präsidentschaft lässt schon erahnen, wie schwierig es werden würde, die Erwartungen zu erfüllen: Eine vergangene Dekade, in der der europäische Einigungsprozess zum Beispiel durch die Eurokrise, populistische Tendenzen und den Brexit stetig im Krisenmodus war, eine sich in Veränderung befindliche globale Ordnung mit schwelenden Konflikten zwischen Großmächten wie den USA und China und nicht zuletzt die globale Pandemie bildeten die Problemlage, in die die deutsche Ratspräsidentschaft fiel (Lübkemeier und von Ondarza 2020). Die konkreten Erwartungen sind fast unzählbar. Zu ihnen gehören Großprojekte wie die ökonomische und soziale Erholung während und nach der Pandemie, Klimawandel und Nachhaltigkeit und die Umsetzung des von der Kommission vorgeschlagenen Green Deals, die Stärkung der allgemeinen Resilienz des EU-Projekts, die Kräftigung der globalen Rolle der EU (Pirozzi et al. 2020a), die EU-Beziehungen gegenüber China, der Brexit, der Abschluss der Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU, die Erneuerung der Migrations- und Asylpolitik, der Start der von der Kommission angekündigten Conference on the Future of Europe und noch unzählige mehr. Letztlich waren diese Erwartungen übertrieben und konnten auch nicht dadurch bewältigt werden, dass die deutsche ständige Vertretung um fast das Doppelte an Mitarbeiter*innen aufgestockt wurde (Beisel et al. 2020).

Zusätzlich zu den hohen Erwartungen wurde häufig die veränderte Rolle einer Ratspräsidentschaft übersehen. Seit dem Lissabonner Vertrag gibt es einen ständigen Präsidenten des Europäischen Rats, einen mächtigeren Außenbeauftragten und ein deutlich gestärktes Europaparlament. Das hat in den letzten Jahren zu Beständigkeit und Verlässlichkeit europäischer Politik geführt, bedeutet allerdings auch deutlich mehr Abstimmungsarbeit zwischen den Institutionen. Die Ratspräsidentschaft bedeutet ja eben nicht eine EU-Präsidentschaft Deutschlands, sondern den Vorsitz im Rat der Europäischen Union, dessen Modus und institutionelle DNA die Verhandlung und die Kompromissfindung sind. Ratspräsidentschaften seit Lissabon haben daher eher den Charakter von „Dienstleistern“, die die Ratsgeschäfte gut führen und dabei eigene thematische Schwerpunkte setzen können. Im Europäischen Rat hingegen blieb Kanzlerin Merkel beispielsweise ein ganz gewöhnliches Mitglied – so wie eben die Regierungschefin des wirtschaftlich stärksten Mitgliedsstaats gewöhnlich sein kann (Lübkemeier und von Ondarza 2020). Die hohen Erwartungen an die Ratspräsidentschaft passten bereits vor der Pandemie nicht unbedingt zu der veränderten Machtbalance im europäischen Institutionengefüge.

Die Pandemie zwang die deutsche Regierung dann allerdings dennoch zur kompletten Überarbeitung ihrer Agenda. Bereits im April warnte EU-Botschafter Michael Clauß eindringlich, dass die Präsidentschaft nicht wie geplant stattfinden und ablaufen könne. Weder die Infrastruktur in Brüssel gäbe das Pensum an virtuellen Meetings her, wie sie physisch geplant waren, noch seien einige politische Themen weiterhin hoch auf der Tagesordnung anzusiedeln. In der Folge veränderte sich die deutsche Agenda auch hin zu einem krisengetriebenen Realismus (Parkes 2020). Die Eindämmung und die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie standen im Mittelpunkt, während andere Themen einen geringeren Stellenwert hatten oder gar ganz wegfielen. Schlussendlich konnten bis zum Ende der Präsidentschaft schätzungsweise nur 30 Prozent der geplanten Sitzungskapazitäten ausgeschöpft werden (Riegert 2020), was in vielen Politikfeldern zu einer deutlichen Verlangsamung des Entscheidungsprozesses führte.

Neben dem Krisenmanagement und dem Streit um den Haushalt blieb wenig Raum für andere Themen (Pistorius und Grüll 2020). Die letztlichen Erfolge, die Verhandlungen, um den mehrjährigen Finanzrahmen zu einem Abschluss zu bringen, ein Abkommen mit Großbritannien zu erreichen und innerhalb der Fördergelder eine Konditionalität zur Rechtsstaatlichkeit miteinzubringen, wurden als Glanzstücke der Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft gesehen. Eine Vielzahl dieser Entscheidungen fiel schließlich allerdings nicht im Rat der EU selbst, sondern wurde aufgrund der politischen Wichtigkeit im Europäischen Rat entschieden. Als Paradigmenwechsel deutscher Europapolitik (Schwarzer 2020) und „make or break“-Moment der Präsidentschaft wird vielfach der Juli-Gipfel der Staats- und Regierungschef*innen gesehen. Diesem war die gemeinsame Initiative von Frankreich und Deutschland vorausgegangen, zur Bewältigung der Coronakrise gemeinsame Schulden aufzunehmen. Eine Position gegen die sich Deutschland die gesamte vorhergehende Dekade mit allen Mitteln gewehrt hatte. Die Höhe der Schulden ist verschwindend gering und Finanzminister Scholz und Kanzlerin Merkels Einordnung des Rettungsfonds als einmaliges Projekt für extreme Umstände wie Covid-19 macht seine Grenzen deutlich (Copelovitch 2020). Die Zeit wird zeigen, ob man hier einen Moment sich nachhaltig vertiefender Integration erlebt hat oder nicht. Was durch diesen Vorschlag allerdings bereits gelungen ist, ist den deutsch-französischen Motor europäischer Integration wieder in den Fokus zu rücken und das entstandene Bild Deutschlands während vergangener Krisen direkt zu Beginn der Ratspräsidentschaft zu korrigieren (Demesmay et al. 2020), was die Rolle der Ratspräsidentschaft als „ehrlichen Makler“ stärkte.

Andere Themen sind hingegen völlig auf der Strecke geblieben: Zwar konnte kurz vor Jahresende eine Grundsatzeinigung mit China über ein Investitionsabkommen verkündet werden; der EU-China-Gipfel als einer der ursprünglich vorgesehenen Höhepunkte der Ratspräsidentschaft wurde allerdings zunächst verschoben und schließlich komplett abgesagt. Bei den bereits langwierigen Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien konnte keinerlei Fortschritt erzielt werden, auch weil Bulgarien die Gespräche weitgehend blockiert. Die Konferenz zur Zukunft Europas, welche institutionelle Veränderungen der Europäischen Union nach sich ziehen soll, ist bisher nur ein mehr oder weniger vages Gebilde am Horizont (Pirozzi et al. 2020b). Horst Seehofers Ambitionen, während der Ratspräsidentschaft eine Reform des europäischen Asylsystems auf den Weg zu bringen, sind ebenfalls keinen Schritt vorwärtsgekommen (Riegert 2020). Trotz des Erfolgs kurz vor Jahresende noch ein neues Klimaziel verkünden zu können, müssen auch hier noch zahlreiche Dinge implementiert und umgesetzt werden.

Die deutsche Ratspräsidentschaft ist vor schwierige Herausforderungen gestellt worden, die Erwartungen an sie waren übermächtig. Insgesamt resümiert auch Michael Clauß, der Ständige Vertreter Deutschlands in der EU: „We succeeded, but we succeeded narrowly.“ Die Corona-Pandemie machte die deutsche Ratspräsidentschaft zu einer Corona-Präsidentschaft, belohnte Berlin aber auch mit einer konkreten Aufgabe und der Möglichkeit eine positive Wiederaufbauagenda zu setzen. Die Präsidentschaft wäre sonst Gefahr gelaufen, dass es ihr stark an Vision und Richtung gemangelt hätte (Parkes 2020). Der Ratspräsidentschaft und dem letztlich positiven Fazit, kam zugute, dass sich Berlin auf krisengetriebene Fakten konzentrieren musste und eine umfassende Strategie weniger gefordert war.

Fazit und Diskussion

„We succeeded, but we succeeded narrowly“: Dieser Ausspruch kann wohl nicht nur Fazit für die deutsche Ratspräsidentschaft sein, sondern ist aus Sicht des Rats der EU auch Fazit der institutionellen Machtverschiebungen zwischen den Europäischen Institutionen. Der Rat der EU zeigte sich anpassungsfähig, konnte auf bestehende Ausnahmeregelungen in der Geschäftsordnung zurückgreifen und erwies sich in der Krise durchaus als handlungsfähig. Viele Themen mussten allerdings von der Agenda weichen, groß angelegte Projekte wurden gekürzt oder ganz abgesagt. Während gerade gegen Jahresende noch einige wichtige Verhandlungen zum Abschluss gebracht werden konnten, verblieben die Themen Asylpolitik oder die China-EU-Beziehungen weitgehend auf der Strecke.

Jede Krise hat ihre Gewinner und ihre Verlierer. Der Überblick über die Europäischen Institutionen und deren Adaption und Reaktion auf die globale Corona-Pandemie hat dies abermals deutlich gezeigt. Während der Krise war es vor allem der Europäische Rat, der seine Stellung festigen konnte und als Machtzentrum und Ankerpunkt reüssierte. Aber auch der Rat der Europäischen Union konnte nach dem etwas holprigen Krisenbeginn erst unter der Präsidentschaft Kroatiens und dann unter der deutschen Ratspräsidentschaft Akzente setzen.

Institutionell trat dabei vor allem die zweite Reihe der Coreper in den Vordergrund. Der ständige Vertreter Deutschlands Michael Clauß führte eine Vielzahl von Verhandlungen selbst, was nicht nur wohlwollend aufgenommen wurde. Viele Entscheidungen wurden allerdings auch an den Europäischen Rat weitergegeben. Für die Ratspräsidentschaft Deutschlands hatte die Pandemie gar strategische Vorteile. Sie wandelte eine etwas richtungslose Agenda, auf der (zu) viele Erwartungen lasteten, in eine erfolgreiche, von einem krisengetriebenen Realismus durchzogene Führungsrolle des ökonomisch stärksten Mitgliedsstaates. Die deutsche Ratspräsidentschaft setzte damit das um, was seit dem Lissabonner Vertrag von Ratspräsidentschaften gefordert ist: erfolgreiche Verwaltung der Ratsgeschäfte. Dennoch bleibt weiterhin eine Art Vakuum in der Europastrategie Deutschlands (Parkes 2020). So ist es abermals nicht gelungen, dass Deutschland auf die Vorschläge von beispielsweise Emmanuel Macron reagiert, welche bereits seit Jahren auf dem Tisch liegen, oder die angekündigte Conference on the Future of Europe als treibende Kraft auf die Tagesordnung zu setzen. Die Nicht-Umsetzung dieser Vorhaben nur auf die Pandemie zu schieben, wäre letztlich zu einfach.

Literaturverzeichnis

Beisel, Karoline Meta; Finke, Björn; Kolb, Matthias (2020): Die Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft kann sich sehen lassen. Hg. v. Süddeutsche Zeitung. Online verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/europaeische-union-deutsche-ratspraesidentschaft-bilanz-1.5160801.

Copelovitch, Mark (2020): No, this isn’t Europe’s ‘Hamiltonian moment’. Washington Post. Online verfügbar unter www.washingtonpost.com/politics/2020/05/28/no-this-isnt-europes-hamiltonian-moment/.

Demesmay, Claire; Rappold, Julian; Kirch, Anna Lena; Traczyk, Adam (2020): Deutschlands Corona-Präsidentschaft. Erwartungen der europäischen Partner an die deutsche Führungsrolle. Hg. v. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP Policy Brief, 12).

Lübkemeier, Eckhard; von Ondarza, Nicolai (2020): A Corona Presidency in the Coronavirus Crisis? The Dual Task of the German Presidency: Containing the Crisis and Giving a Lasting Impetus to European Solidarity and Autonomy. Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP Comment, 2020-33).

Parkes, Roderick (2020): The Problem with Germany’s Masterful Crisis Presidency. Hg. v. German Council on Foreign Relations (DGAP Commentary, 35).

Pirozzi, Nicoletta; Tekin, Funda; Toygür, Ilke (2020a): A Plea for the German Presidency: investing boldly and smartly in the future. Hg. v. TEPSA – Trans European Policy Studies Association (TEPSA PrePresidency Recommendations). Online verfügbar unter http://www.tepsa.eu/wp-content/uploads/2020/06/TEPSA-Recommendations-EU2020DE.pdf.

Pirozzi, Nicoletta; Tekin, Funda; Toygür, Ilke (2020b): The Portuguese Presidency: Striking the balance between finishing unfinished business. Hg. v. TEPSA – Trans European Policy Studies Association (TEPSA PrePresidency Recommendations). Online verfügbar unter http://www.tepsa.eu/wp-content/uploads/2020/11/TEPSA-Recommendations-to-the-Portuguese-Presidency.pdf.

Pistorius, Magdalena; Grüll, Philipp (2020): Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft: Merkel musste es richten. Hg. v. Euractive. Online verfügbar unter https://www.euractiv.de/section/deutsche-eu-ratspraesidentschaft/news/bilanz-der-deutschen-ratspraesidentschaft-merkel-musste-es-richten/.

Riegert, Bernd (2020): Germany gets mixed scorecard for EU presidency. Hg. v. dw.com. Deutsche Welle. Online verfügbar unter https://www.dw.com/en/germany-gets-mixed-scorecard-for-eu-presidency/a-56078412.

Russack, Sophia; Fenner, Drew (2020): Crisis Decision Making. How Covid-19 has changed the working methods of the EU institutions. CEPS – Centre for European Policy Studies (Policy Insights, 2020-17).

Schwarzer, Daniela (2020): Auf dem Weg in die Post-Covid-Welt. Drei Beobachtungen aus dem Krisenjahr 2020. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP Kommentar, 36).

von Ondarza, Nicolai (2020): The European Parliament’s Involvement in the EU Response to the Corona Pandemic. A Spectator in Times of Crisis. Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP Comment, 2020-45).

Wolff, Sarah; Ladi, Stella (2020): European Union Responses to the Covid-19 Pandemic: adaptability in times of Permanent Emergency. In: Journal of European Integration 42 (8), S. 1025–1040. DOI: 10.1080/07036337.2020.1853120.

Zitationshinweis:

Haußner, Stefan (2020): Krisengetriebener Realismus Deutschlands und verstärktes Coreper, Der Rat der EU und die deutsche Ratspräsidentschaft in Zeiten der Distanzdemokratie, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/krisengetriebener-realismus-deutschlands-und-verstaerktes-coreper/

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  1. Oder gar Dreiteilung, wenn man das Generalsekretariat des Parlaments mit Sitz in Luxemburg mit einbezieht. []

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