AfD Kompakt – über Volksbelauscher und Zumutungsmut

“Was ist neu und was ist alt am Phänomen der AfD? Was verspricht Auswege?” – Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen untersucht die Zustimmung zur AfD und gibt einen umfassenden Überblick über die Unterstützer-Allianz, die Mobilisierung der Partei als „Profiteur der Angst“ und die Angebotslücken anderer Parteien, die die AfD als Defizitpartei nutzt. Doch es gibt hoffnungsvolle Auswege aus diesem Phänomen, unter anderem die Schaffung einer zuversichtlichen Zukunftserzählung, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte.

Die Zustimmung zur AfD übersteigt in den seriösen Wahlumfragen seit Juni 2023 die Zustimmung zur Kanzlerpartei SPD. Wenngleich dies nur politische Stimmungsmessungen und keine Wählerstimmen sind, verändert die politische Symbolik die Wahrnehmung des Parteienwettbewerbs. Nie zuvor in der Geschichte unserer parlamentarischen Demokratie hat eine Protestpartei die regierende Kanzlerpartei in Umfragen überflügelt. Daher der neue Alarmismus.

 

This text is available in English. The PDF file is available for download here. The English version, translated from the German original by the American Institute for Contemporary German Studies, was published on the website americangerman.institute on July 27th, 2023.

 

AfD Kompakt – über Volksbelauscher und Zumutungsmut

 

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.


Was ist neu am Phänomen der AfD?

  1. Die Zustimmung zur AfD übersteigt in den seriösen Wahlumfragen seit Juni 2023 die Zustimmung zur Kanzlerpartei SPD. Wenngleich dies nur politische Stimmungsmessungen und keine Wählerstimmen sind, verändert die politische Symbolik die Wahrnehmung des Parteienwettbewerbs. Nie zuvor in der Geschichte unserer parlamentarischen Demokratie hat eine Protestpartei die regierende Kanzlerpartei in Umfragen überflügelt. Daher der neue Alarmismus. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass noch nie ein Bundeskanzler bei einer Bundestagswahl ein so geringes Mandat von Wählerinnen und Wählern erhielt wie Olaf Scholz (SPD) mit nur 25,7 Prozent der Wählerstimmen.
  2. Die AfD stellt seit Juni 2023 erstmals einen Landrat. Damit besetzt die AfD zum allerersten Mal ein kommunales Spitzenamt. Der Zusammenschluss aller anderen demokratischen Parteien in Thüringen (Landkreis Sonneberg) hat die Wahl nicht verhindern können, was an anderen Orten zuvor noch gelungen war. In Thüringen wird die AfD vom Verfassungsschutz als „erwiesen rechtsextremistisch“ eingestuft. Die AfD kann in Thüringen offenbar auf eine breite Unterstützer-Allianz setzen, die auch wohlhabende Kreise integriert.
  3. Die AfD mobilisiert auch in Kreisen von Putin-Verstehern. Russland ist in der Wahrnehmung dieser Wählerinnen und Wähler Opfer und nicht Täter des Angriffskrieges – und mit der Gewöhnung an den Krieg relativieren sich auch vermeintliche Opfer-Täter-Fronten. Nur die AfD steht als einzige Partei mit ihrer Programmatik eindeutig an der Seite Russlands und Putins Propagandaerzählung.
  4. Der Verfassungsschutz hat die AfD als Gesamtpartei im Jahresbericht 2022 erstmals als „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ hochgestuft. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass 1/3 der Parteimitglieder zu rechtsextremer Gewalt neigen.
  5. Das Regierungsmanagement der Ampel führte über Monate beim Thema Heizen zu einer extremen Verunsicherung in der gesamten Bevölkerung. Dies lag nicht nur am außergewöhnlich intensiven öffentlichen Diskurs mit Tendenz zum Streit zwischen den Ampel-Parteien. Vielmehr war für die Bürgerinnen und Bürger nicht erkennbar, dass das Regieren konkrete Beiträge zur Problemlösung leistete. Zudem erreichten die Berliner Zumutungen ein besonderes Maß an privater Angst: die Entscheidung über die Art des privaten Heizens. Näher und zumutungsstärker konnte der Klimaschutz nicht kommen.

Was ist alt am Phänomen der AfD?

  1. Die AfD ist passiver Profiteur der Angst und schürt Ressentiments. Sie muss nichts tun, um die unzufriedenen Wählerinnen und Wähler der anderen aufzusammeln. Programmatik, Spitzenpersonal, Harmonie oder Zwist, das sind alles keine Kategorien für Wählerinnen und Wähler der AfD. Sie würde auch gewählt, „wenn es sie gar nicht gäbe“: ein „Denkzettel“, damit „die anderen“ etwas merken. Die AfD ist eine Defizit-Partei, die nur sehr wenige Überzeugungswähler hat, sondern über Misstrauensgemeinschaften enttäuschte Wählerinnen und Wähler der anderen einsammelt. Es gibt mittlerweile vermutlich 10 Prozent Protestwähler, die die AfD als Stammwähler anzieht, egal, was sie inhaltlich oder personell macht. Dazu gehören auch völkisch-extremistische Gruppierungen. Und dann gibt es themenbezogene Aufschichtungen auf diesen Frust-Sockel. Da hat das Thema Geflüchtete eine besondere Bedeutung, völlig unabhängig davon, ob Geflüchtete im Landkreis überhaupt konkret sichtbar sind.
  2. Als Unmutsaufsauger profitieren sie von diffusen Ängsten der Entgrenzung und Entsicherung, wie sie mit der Modernisierung von Gesellschaften einhergehen. Das Unbehagen richtet sich gegen kulturelle Entfremdung. Die Unsicherheit bezieht sich auf Abstiegsängste, antizipierte Erosionen und nicht selbstbestimmte Veränderungszumutungen.
  3. Als Defizitpartei nutzt sie die Angebotslücken der anderen Parteien. Die AfD belehrt nicht und versucht auch nicht zu bekehren. Sie mobilisiert mit Themen, zu denen die anderen Parteien aus Verzagtheit fehlender gemeinsamer Positionen eher schweigen. Damit profiliert sich die AfD als populistischer Volksbelauscher. Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen Verschiedenheit als Ungleichheit wahr. Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie? Wie viel brauchen wir? Welche müssen wir unabänderlich hinnehmen und mit welcher dürfen wir uns niemals abfinden? Verschiedenheit muss demokratisch ausgehandelt sein. Parteien müssen sie thematisieren. Wie viel Heterogenität ist für alle am besten? Zumutungen und Veränderungsangst können zu Heimatlosigkeit in der Demokratie führen. Viele Wählerinnen und Wähler der AfD fühlen sich fremd im eigenen Land und finden in der Programmatik der AfD offenbar eine für sie angemessene Ansprache.
  4. Die Schwäche der Mitte-Parteien macht die AfD groß. Es ist zu einem hohen Prozentsatz die Enttäuschung der Wählerinnen und Wähler – fehlendes Vertrauen, fehlende Glaubwürdigkeit – über die anderen Parteien, welche die AfD im Augenblick groß macht. Und es ist in der Mitte der Legislaturperiode erwartbar, dass die Zustimmungswerte zur jeweiligen Regierung regelmäßig gering sind.
  5. Die größte Gefahr für die Qualitätssicherung der Demokratie geht vom Sickergift der AfD aus. Langsam, aber stetig versäumen es die die Spitzenleute der AfD nicht, die Demokratie zu delegitimieren. Institutionen, Wahlergebnisse und Verfahren werden dabei in Frage gestellt. Neue Wirklichkeiten werden einfach behauptet.
  6. Das größte Wählerreservoir der AfD liegt im Bereich der Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Bei allen zurückliegenden Wahlen profitierte die AfD in besonderem Maße von der Mobilisierung der Nichtwählerinnen und Nichtwähler für den Wahlakt.
  7. Die weiter anhaltenden Nachwirkungen der „Coronakratie“ stärken die AfD. Die Distanz-Demokratie wirkt immer noch nach. Die Krisendichte führte zu Vereinsamungen und gereizter Corona-Kauzigkeit. Veränderungserschöpft zeigen sich viele Bürgerinnen und Bürger. Unter solchen Bedingungen umfassender Transformationsangst wachsen autoritäre Versuchungen, die einfache Antworten und heile Welten versprechen. Die AfD als zukunfts-ängstliche Empörungsbewegung ist eine nostalgische Zeitreisenpartei: Sie verspricht das gute Alte, im Nationalen, im Familiären, im übersichtlich geordneten Homogenen. Und dieses Gesamtpaket nur für Deutsche.

Was verspricht Auswege?

  1. Die AfD hat nur wenige Überzeugungswähler. Eine Parteibindung der Wählerinnen und Wähler existiert im Osten nicht. Wählerische Wählerinnen und Wähler sind für die demokratischen Parteien mobilisierbar. Jeder kann im Parteienwettbewerb selbst stark und attraktiv werden. Die Parteien der politischen Mitte sollten sich dabei zurückhalten, die Wählerinnen und Wähler zu belehren, die AfD zu kopieren oder vermeintlich unangenehme Themen zu verschweigen. Sie können diejenigen, welche die AfD aus Transformationsangst wählen, aber als Mittewähler erreichbar sind, zurückgewinnen.
  2. Die bisherigen Eindämmungsstrategien sind gescheitert. Weder hat eine Brandmauer der Ausgrenzung standgehalten, noch hat die demokratische Allianz funktioniert: alle gegen einen. Die Konturen des Neuen setzen auf demokratischen Trotz: Wie lassen sich Demokratie- und Freiheits-Erlebnisse schaffen, die leidenschaftlich begeistern und Solidarität auslösen? Wählerinnen und Wähler sind auch Fans des Erfolgs. Nichts begeistert mehr als die Aussicht auf einen Wahlsieg. Warum soll das neuerdings nur für die AfD gelten?
  3. Wählerinnen und Wähler lieben die Zukunft. Sie lieben Zuversicht. Die Demokratie ist verbunden mit der Idee, dass es ein Recht auf Zukunft gibt. Und Wahlen sind ein Gradmesser für das Vertrauen in dieses Versprechen. Man kann sagen: Auf Wählermärkten wird Zukunft gehandelt. Die Frage ist also: Wer bietet Veränderungszuversicht an? Die allermeisten wollen auf Fossiles verzichten. Aber es muss eine plausible Aussicht auf einen funktionierenden Ersatz geben.
  4. Es existiert in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger eine doppelte Gesprächsstörung: Viele fühlen sich weder von „der Politik“ noch von „den Medien“ ausreichend repräsentiert. Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen den Eindruck, dass die politisch-mediale Mitte nicht deckungsgleich mit der politisch-gesellschaftlichen Mitte ist. Störgefühle führen dazu, sich anderen Medien und der AfD zuzuwenden, weil dort scheinbar Resonanzbeziehungen über Themen hergestellt werden. Insofern sollten die Parteien der Mitte wieder zu guten Gastgebern, Kümmerern und Gestaltern mit Begegnungsräumen und Aufenthaltsqualität werden. Wer gute Erfahrungen mit Parteien oder Erlebnissen macht, erzählt es weiter. Die Beziehungspflege zur Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger ist der Schlüssel für alle Mobilisierungen. Erst wenn sich diese verstanden fühlen, kann der Diskurs beginnen. Die dann kommunizierten Lösungen für Alltagsprobleme müssen durch harte Gesprächsarbeit in der politischen Mitte verankert werden. Parteien sind auch Lebensstil-Bastionen. Sie wirken über ihre Protagonisten dann erfolgreich, wenn sie mit ihren Themen und ihrem Stil aktiv die Lebensnähe der Bürgerinnen und Bürger suchen.
  5. Veränderungspatriotismus kann auch anstecken! Gleichzeitig muss die Erzählung deutlich machen: Welchen Nutzen haben die Wählerinnen und Wähler, welchen Zukunftsnutzen haben sie von der vorgeschlagenen Problemlösung? Das kann ein egoistischer Nutzen sein, ein besserer ÖPNV, grünere Städte. Es kann aber auch ein altruistisch sein, ein enkelfähiger. Mit einer zuversichtlichen Zukunftserzählung ist es möglich, zunächst Unpopuläres mehrheitsfähig zu machen. Zumutungsmut ist notwendig. Man hält das aus, wenn die Zumutungen effektiv kommuniziert werden, wenn alle Maßnahmen transparent auch alle treffen. Die Wende zum Weniger kann mehrheitsfähig werden, wenn der Rettung eine Richtung gegeben wird. Nicht die Zumutungen führten zu Habecks schlechten Umfragewerten, sondern das Fehlen einer zuversichtlichen Zukunftsperspektive, die er im Krisenwinter perfekt vermittelte.
  6. Wohin eine Gesellschaft driftet, entscheidet sich nicht an den Rändern, sondern in der politischen Mitte. Der Aufstand der Ränder sollte nicht zu einer Radikalisierung der Mitte führen. Ganz im Gegenteil. Welche Tonalität setzt die Mitte selbst? Welches Vokabular nutzt sie? Die Mitte hat eine große Verantwortung, für den Erhalt des sozialen und gesellschaftlichen Friedens auf hohem Freiheitsniveau. Die Parteien der Mitte haben es selbst in der Hand, wie sich das politische Klima verändert.
  7. Zum Erfolg der Parteien der Mitte gehört die Problemlösung. Der sogenannte „outcome“ zählt. Wenn die Regierungsparteien sichtbar und ideenreich Alltagsprobleme der Bürgerinnen und Bürger lösen, stärken solche Gesetze das Vertrauen in demokratische Prozesse. Eine Koalition der Empörten wird zur Restgröße. Macherparteien werden gewählt.
  8. Panikstimmung und mieses Karma nützen nur der AfD als Nein-Sager-Partei. Die Demokratie muss dem Verbitterungsmilieu gelassen und selbstbewusst begegnen. Wählerbeschimpfungen steigern den Trotz, die AfD zu wählen. Bei Hauptwahlen (Landtags- und Bundestagswahlen) existieren an der Wahlurne andere Muster als bei Nebenwahlen. Verlässlich haben die Deutschen bislang, selbst in großen Krisenmomenten, die politische Mitte gestärkt und die Ränder links wie rechts marginalisiert. Warum sollte dieser deutsche Sonderweg jetzt enden – zumal in einer lernenden Demokratie, die Protest braucht, um sich immer wieder neu zu justieren.

Weiterführende Literaturhinweise des Autors

„Flucht vor dem Frust“ – Ein Gespräch mit Tina Hildebrandt, in: Die ZEIT vom 7. Juni 2023, Nr. 25, Seite 2.

Identitätsfragen als neue demokratische Herausforderung des Politikmanagements, in: Christoph Bieber u.a. (Hrsg.), Regieren in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2017, S. 9-17.

Das Politikmanagement in der Transformationsgesellschaft, in: K.-R. Korte u.a. (Hrsg.), Regieren in der Transformationsgesellschaft, Wiesbaden 2023, S. 5-15.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): AfD Kompakt – über Volksbelauscher und Zumutungsmut, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/afd-kompakt-ueber-volksbelauscher-und-zumutungsmut/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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