Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen wirft einen Blick in das neue Buch von Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Die Grundthese lautet, dass das Digitale bereits vorhandene, komplexe Strukturen abbildet und sich die Gesellschaft dadurch neu erfindet. Dabei argumentiert Nassehi – trotz einiger Widersprüche – stets klug, ideenreich, anwendungsbezogen.

 

Die Bewegungen auf den Wähler-, Parteien und Koalitionsmärkten sind gerahmt von tiefgreifenden Umwälzungen des politischen Systems. Wenn Risiko zum Regelfall der Politik mutiert, hat zukunftsfähige Politik auch Konsequenzen auf die Struktur der Entscheidungen. Netzwerke minimieren grundsätzlich Faktoren der Unsicherheit und des Nichtwissens. Sie reduzieren nicht die Quellen der Unsicherheit, wie zum Beispiel Komplexität, sondern sie mindern die Risikoeinschätzung der Konsequenzen. Die Mitglieder des Netzwerkes geben dem einzelnen Akteur Sicherheit und können die Einschätzung der Konsequenzen in positiver, aber auch in negativer Hinsicht beeinflussen.

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft

C.H.Beck, München, 2019, 352 Seiten, ISBN: 978-3-406-74024-4, 26,00 Euro

Autor

Prof. Dr. Karl‐Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg‐Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg‐Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs‐, Parteien‐ und Wahlforschung.

 

 

Muster des Digitalen und die Formate des Politischen

Die Bewegungen auf den Wähler-, Parteien und Koalitionsmärkten sind gerahmt von tiefgreifenden Umwälzungen des politischen Systems. Wenn Risiko zum Regelfall der Politik mutiert, hat zukunftsfähige Politik auch Konsequenzen auf die Struktur der Entscheidungen. Netzwerke minimieren grundsätzlich Faktoren der Unsicherheit und des Nichtwissens. Sie reduzieren nicht die Quellen der Unsicherheit, wie zum Beispiel Komplexität, sondern sie mindern die Risikoeinschätzung der Konsequenzen. Die Mitglieder des Netzwerkes geben dem einzelnen Akteur Sicherheit und können die Einschätzung der Konsequenzen in positiver, aber auch in negativer Hinsicht beeinflussen. Doch die Schlussfolgerungen könnten noch weiter gehen: Zukunftsfähigkeit könnte darin bestehen, grundsätzlich lernend, fehlerfreundlich und somit stets reversibel zu handeln.  Die Qualität von Entscheidungsprozessen kann sich dadurch verbessern, weil die Fehlerfreundlichkeit von Entscheidungen kommuniziert werden müsste. Krisenbewältigungsroutinen kann es inhaltlich nicht geben, wenn die Vorannahmen über Komplexität zutreffen. Aber die ergebnisorientierte Mitwirkung der Bürger im Sinne einer modernen Partizipation (Einbindung von Nichtwissenskulturen und Gestaltungsöffentlichkeiten, institutionelle Fantasien in der Verzahnung parlamentarischer und außerparlamentarischer Prozesse) sichert nicht nur langfristig die Legitimität der Entscheidung – insbesondere die Input-Legitimation. Gleichsam steigt so die Qualität der Entscheidung (Output-Legitimation), wenn nicht nur über Wissen, sondern über Partizipation und Teilhabe neue Akteure mit eingebunden werden. Die Entscheidungszumutungen gegenüber den Politikern werden – wenn sich unterschiedliche Kreise in differenzierten Formaten darin wiederfinden – „erträglicher“ für die politischen Akteure. Wenn Krisenmanagement gravierende tägliche Entscheidungen verlangt, nutzt die diskursive Rückbindung an Öffentlichkeiten der Feinjustierung plebiszitärer Bedürfnisse. Risikokompetenz der Akteure in einer Regierung würde mithin im Prozess des Verkoppelns prozessualer Logiken bzw. unterschiedlicher Entscheidungsarenen bestehen, die solche plebiszitären Kontexte einbeziehen.

Eine Konsequenz betrifft unmittelbar den Faktor Zeit. Zeitarmut ist das Kennzeichen einer digitalen, beschleunigten Demokratie. Spitzenakteure müssen noch schneller in Echtzeit handeln. Beschleunigte ad hoc-Entscheidungen werden häufiger notwendig oder eingefordert – über populäre direkte und demoskopiegetriebene Verfahren ebenso wie mit online- und „gefällt-mir“ Abstimmungen, welche die Politik zunehmend antreiben. So dominiert mittlerweile das dezionistische Prinzip, das primär nur das schnelle Entscheiden, das Regieren im Minutentakt zum Ziel hat. Digitale Formate, wie sie auch die Piraten benutzen, sind dabei die neuen Taktgeber der Politik.

Auf die Zeitkrise des Politischen – entschleunigte Beratung in Parlamenten auf der einen Seite und beschleunigte Entscheidung auf der anderen Seite – muss Politik reagieren. Dies gilt auch bezüglich der Transparenz von Entscheidungsvorbereitungen in den Parteien und Fraktionen. Die moderne Parteien- und Regierungsforschung kann zeigen, wie sich unter den Bedingungen der Beschleunigung, die notwendige Balance zwischen Formalität und Informalität verschiebt. Wenn Zeit fehlt, dominiert Informalität jede Vorbereitung von politischen Entscheidungen in allen Gremien. Die Legitimität des Verfahrens ist dadurch bedroht.

Das sind Beispiele aus dem Kontext der Regierungsforschung, die darauf schließen lassen, dass in der digitalen Gesellschaft die machtpolitischen Spielregeln als Skript einer Demokratie neu überschrieben werden. Mehr noch: das Internet ist eine gewaltige Macht-Umkehr-Maschinerie. Wir nutzen aktiv oder passiv das neue politische Betriebssystem, ohne zu merken, dass es auf das institutionelle Setting der Hardware der parlamentarischen Demokratie nur noch ansatzweise passt.

Nassehi spürt in seinem Buch dem neuen Muster nach, bestreitet allerdings, dass sich machtpolitisch dadurch was ändert. Denn die Grundthese des Buches lautet, dass das Digitale gesellschaftliche Muster abbildet, die schon da sind. Er kennzeichnet die Moderne: „Die Verhältnisse werden unübersichtlicher, es etablieren sich unterschiedliche Ordnungsformen nebeneinander, das Differenzierungsprinzip ermöglicht Parallelstrukturen, und damit entzieht sich die Struktur der Gesellschaft einer deutlichen, klaren Sichtbarkeit“ (S. 319). Indem Nassehi das Digitale als Instrument interpretiert, die Strukturen der komplexen Gesellschaft abzubilden, entdeckt sich die Gesellschaft neu. Darin liegt die Überraschung seiner Grundthese.

Nassehi geht geradezu hochschuldidaktisch vor. Er ist Lehrer und nimmt die Schüler an die Hand. Dabei lässt er nicht aus, welchen Beitrag er selbst innovativ mit der ersten Theorie des Digitalen leistet. Das Vorgehen ist legitim, aber manchmal wirkt es anmaßend. So bekommt man ein Kompendium an einführender Soziologie, historischer Philosophie und gesellschaftspolitischer Analyse. Er argumentiert stets klug, ideenreich, anwendungsbezogen. Das Buch sprüht vor Außeralltäglichkeit. Gleichzeitig wachsen die eigenen Notizen an den Rändern der neuen Kapitel, um Widerspruch zu markieren.

Wenn sich die Kulturtechniken der Demokratie ändern – wir organisieren, informieren, kommunizieren anders und erinnern uns komplett neu – dann wandelt sich auch die Qualität der Demokratie. Es sind insofern nicht nur Muster, die jetzt digital sich abbilden, sondern neue Machtstrukturen, die sich herausbilden. Uns fehlt im Zeitalter der Frühdigitalisierung – und anders kann man das im Vergleich zur Rezeption von TV, Hörfunk und Zeitungen nicht bezeichnen – eine adäquate Medienmündigkeit, um machtpolitisch mitzuhalten bzw. gegenzusteuern. Die Formate des Politischen wandeln sich unter dem Druck des Digitalen. Antworten darauf fehlen uns – und finden sich auch nicht im Buch von Nassehi. Aber das wollte die soziologische Theorie auch keinesfalls einlösen.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2020): Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/armin-nassehi-muster-theorie-der-digitalen-gesellschaft/

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  1. Raul Praatz

    Ich stimme der Rezension in ihrer Beobachtung der Form darin zu, dass Nassehi an Dutzenden Stellen eine tour d’horizon unternimmt, als sei es Ausschweifung eine Lesegenuss. Zum Inhalt des Buchs finde ich die Rezension auch super. In Teilen scheint mir Nassehi einen Strohmann aufzubauen. Diesem Strohmann weist er zu, Digitalisierung als Verlust von Demokratie zu beschreiben, und dann hat er Spass daran, diesen Strohmann zu erklären, dass er sich irre und es mit der Demokratie in Zeiten der Digitalisierung grad so weitergehe wie bisher. Deshalb fehlt mir im Buch eine Bereitschaft, Dinge mehrdeutig zu lassen.

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