Baden-Württemberg im Umbruch

Prof. Dr. Ulrich Eith von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und dem Studienhause Wiesneck, Institut für politische Bildung Baden-Württemberg e.V. wirft noch mal einen Blick auf die Landtagswahlen in Baden-Württemberg vom 14. März 2021. Wie lassen sich die Ergebnisse im landespolitischen Kontext und der jüngeren Vergangenheit einordnen? Wie steht es perspektivisch um die Stellung der Grünen in einem Bundesland, das jahrzehntelang massgeblich von der CDU geprägt wurde?

In den letzten 15 Jahren hat Baden-Württemberg einen zuvor kaum für möglich gehaltenen politischen Wandel erfahren. Über Jahrzehnte hinweg prägte maßgeblich die CDU die Politik des Landes. Von 1953-2011 stellte sie den Ministerpräsidenten, ab 1972 sogar für zwanzig Jahre aus eigener Kraft ohne Koalitionspartner. Und auch für die Liberalen galt der Südwesten in den ersten zwei Jahrzehnten noch als politisches Stammland mit konstant zweistelligen Wahlergebnissen. Seit 2011 jedoch regiert mit Winfried Kretschmann als Ministerpräsident ein Grüner Baden-Württemberg

Baden-Württemberg im Umbruch

Eine Einordnung der Landtagswahl vom 14. März 2021

Autor

Ulrich Eith ist Professor am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Direktor des Studienhauses Wiesneck, Institut für politische Bildung Baden-Württemberg e.V. Zu seinen Forschungsinteressen gehören unter anderem das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, der Föderalismus und das Regieren in Mehrebenensystemen, die vergleichende Kommunal- und Regionalforschung und die Wahl-, Parteien- und Einstellungsforschung.

In den letzten 15 Jahren hat Baden-Württemberg einen zuvor kaum für möglich gehaltenen politischen Wandel erfahren. Über Jahrzehnte hinweg prägte maßgeblich die CDU die Politik des Landes. Von 1953-2011 stellte sie den Ministerpräsidenten, ab 1972 sogar für zwanzig Jahre aus eigener Kraft ohne Koalitionspartner. Und auch für die Liberalen galt der Südwesten in den ersten zwei Jahrzehnten noch als politisches Stammland mit konstant zweistelligen Wahlergebnissen. Seit 2011 jedoch regiert mit Winfried Kretschmann als Ministerpräsident ein Grüner Baden-Württemberg, 2011-2016 zunächst in grün-roter Koalition mit der SPD, seit 2016 zusammen mit der CDU. 2021 stellte sich Kretschmann als amtierender Ministerpräsident und Spitzenkandidat der Grünen erneut dem Wählervotum mit dem Ziel, seine politische Arbeit für eine dritte Amtszeit fortsetzen zu können.

(I.) Der Ausgang der baden-württembergischen Landtagswahl 2021 entspricht ganz gut den demoskopischen Voraussagen, trotz der Unsicherheiten von Corona und eines enorm hohen Briefwähleranteils von 51,4 Prozent der Gesamtwählerschaft. Deutlicher Wahlsieger waren die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Mit 32,6 Prozent erzielten sie ihr bislang bestes Landtagswahlergebnis und können damit gegenüber 2016 um weitere 2,3 Prozentpunkte zulegen. Einen großen Anteil an diesem herausragenden Ergebnis kam Kretschmann zu, der sich einmal mehr mit seinen auch in der Pandemie noch guten Persönlichkeitswerten als erfolgreiche Wahlkampflokomotive bewährte. Demgegenüber verlor die CDU mit Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann 2,9 Prozentpunkte und rutschte nochmals ab. Damit erreichte sie den nun historischen Tiefstand von 24,1 Prozent. Der christdemokratischen Wahlkampfführung war es nicht gelungen, die Herausforderin Eisenmann auf Augenhöhe mit Kretschmann zu positionieren und eine Wechselstimmung zu entfachen. Die SPD schnitt trotz mäßigen Verlusten von 1,7 Prozentpunkten mit 11,0 Prozent als drittstärkste Kraft ab. Bei der Landtagswahl 2016 lagen die Sozialdemokraten noch über 2 Prozentpunkte hinter der damals zum ersten Mal antretenden AfD. Nicht nur in Baden-Württemberg fehlte der Partei vor allem ein überzeugendes Alleinstellungsmerkmal, ein politisch attraktiver Identifikationskern. Die Liberalen verbuchten 2021 Gewinne von 2,2 Prozentpunkte und landeten mit 10,5 Prozent, ihrem zweitbesten Landtagswahlergebnis der letzten Jahrzehnte, auf Platz vier. Ihr Wahlkampf war ganz auf die zukünftige Übernahme von Regierungsverantwortung ausgerichtet, selbst unter Führung der in der Vergangenheit vielfach politisch hart attackierten Grünen. Durchaus erfolgreich war ihre Doppelstrategie, sich einerseits als (Corona-) Protestpartei im demokratischen Spektrum, zugleich andererseits als konstruktive Oppositionspartei zu präsentieren. Die AfD musste Verluste von 5,4 Prozentpunkte hinnehmen und schaffte es mit nur 9,7 Prozent bei dieser Wahl lediglich auf Platz fünf. In absoluten Zahlen bedeutete dies einen Verlust von 41,5 Prozent der Wählerstimmen von 2016. Der im westdeutschen Vergleich weit rechtsaußen positionierte Landesverband konnte von der Corona-Krise auch nicht ansatzweise im selben Ausmaß profitieren wie von der Flüchtlingsthematik 2016. Zudem bestimmten innere Machtkämpfe und die drohende Beobachtung durch den Verfassungsschutz das öffentliche Erscheinungsbild der Partei. Sonstige Parteien wie die Linke (3,6 Prozent), die bei baden-württembergischen Landtagswahlen erstmals kandidierenden Freien Wähler (3,0 Prozent) oder auch die kurzfristig gegründete Klimaliste (0,9 Prozent) erreichten zusammen 5,5 Prozent, blieben einzeln betrachtet aber jeweils deutlich unter der Fünf-Prozent-Hürde.

Der Ausgang der Landtagswahl eröffnete den Grünen mit Ministerpräsident Kretschmann zwei Koalitionsoptionen, sowohl die Fortführung von Grün-Schwarz als auch die Bildung einer sogenannten Ampel Grün-Rot-Gelb mit Sozialdemokraten und Liberalen. Nur wenige Tage nach der Wahl wurden Sondierungsgespräche mit allen potentiellen Beteiligten aufgenommen. SPD und FDP präsentierten sich hierbei auch in der Öffentlichkeit zuversichtlich als künftige Regierungspartner. Die Christdemokraten hingegen enthielten sich aller öffentlichen Äußerungen. Angesichts ihres desaströsen Wahlergebnisses und drohender innerparteilicher Auseinandersetzungen in der Opposition waren sie jedoch im höchsten Maße an der Fortführung von Grün-Schwarz interessiert und entsprechend auch zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Innerhalb der Grünen waren vor allem aus dem Landesvorstand deutliche Präferenzen für die Ampelkoalition zu vernehmen. Die Befürworter erhofften sich von dieser Konstellation die Fortführung der gesellschaftspolitischen Reformagenda von Grün-Rot zwischen 2011 und 2016. Die grün-schwarze Regierungsperiode 2016-2021 hatte gezeigt, dass Gemeinsamkeiten zwischen Grünen und Christdemokraten vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bestehen. In den Politikfeldern Bildung und Schule, Einwanderung, Integration oder auch Verkehr hatten die damals nahezu gleichstarken Koalitionspartner Grüne und CDU deutlich unterschiedliche Vorstellungen.1

Der innerparteiliche Entscheidungsprozess bei den Grünen zog sich dann überraschenderweise über mehrere Tage hin. Kretschmann wollte ganz offensichtlich die Fortsetzung der grün-schwarzen Zusammenarbeit mit den eingespielten Kommunikations- und Entscheidungsprozessen, gerade auch in den noch anhaltenden Zeiten der Pandemiebekämpfung. Relevante Teile der baden-württembergischen Grünen jedoch verlangten einen politischen Aufbruch und damit die Ampel. Schließlich setzte sich der erfolgreiche Ministerpräsident durch und präsentierte der Öffentlichkeit zusammen mit dem christdemokratischen Verhandlungsführer und Landesvorsitzenden Thomas Strobl ein schriftliches Sondierungsprotokoll2 mit durchaus ambitionierten Eckpunkten für nachfolgende Koalitionsverhandlungen und die weitere fünfjährige Zusammenarbeit. Kernanliegen dieser Verabredungen ist es, das stark industriell geprägte Baden-Württemberg unverzüglich zu einem Musterland des Klimaschutzes im internationalen Maßstab zu machen und angesichts des fortschreitenden Klimawandels sämtliches Regierungshandeln auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles auszurichten. Weitere zentrale Anliegen sind etwa die Gestaltung des umfangreichen industriellen und wirtschaftlichen Strukturwandels, die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die überfällige Reformierung des Wahlrechts, die Neuausrichtung der Landwirtschaft und eine qualitativ ausgerichtete Bildungspolitik. Die stark grüne Handschrift dieser Verabredungen fand dann zumindest öffentlich auch die Zustimmung der parteiinternen grünen Skeptiker einer Neuauflage von Grün-Schwarz. In den Wahlumfragen von infratest-dimap für die ARD stand Grün-Schwarz bereits am Wahlabend auf Platz 1 der gewünschten Koalitionsmodelle. 47 Prozent aller Wahlberechtigten befanden die Fortführung von Grün-Schwarz für gut und auch unter den Wählern der Grünen fand sich hierfür eine Mehrheit von 61 Prozent gegenüber 43 Prozent, die sich für die Ampel aussprachen.

(II.) Das ganze Ausmaß des gewaltigen Umbruchs im baden-württembergischen Parteiensystem verdeutlicht der Vergleich zur letzten, für die CDU erfolgreichen Landtagswahl von 2006. Vor 15 Jahren erzielten die Christdemokraten mit dem etwa ein Jahr zuvor ins Amt gekommenen Ministerpräsidenten Günther Oettinger noch 44,2 Prozent. Inzwischen ist die CDU auf nahezu die Hälfte (24,1 Prozent) abgestürzt. Die Grünen lagen 2006 noch als drittstärkste Kraft bei 11,7 Prozent. 2021 gelang es ihnen mit 32,4 Prozent bereits zum zweiten Mal, sich vor der Union als stärkste Kraft in Baden-Württemberg zu behaupten. Zugleich mussten die Sozialdemokraten seit 2006 herbe Verluste von über 14 Prozentpunkten auf derzeit 11,0 Prozent hinnehmen. Die Liberalen pendeln zwischen 5 und 10 Prozent und 2016 gelangte die erstmals antretende AfD mit 15,1 Prozent als zunächst drittstärkste Kraft in den Landtag.

Derart gravierende Veränderungen über nur 15 Jahre hinweg haben in der Regel vielfältige Ursachen. Im Falle von Baden-Württemberg überlagern sich die Einflüsse von zeitgeschichtlichen Ereignissen mit Persönlichkeitseffekten der Spitzenkandidierenden und grundsätzliche Veränderungen der Konfliktkonstellation mit dem strategischen Verhalten der Parteien und Spitzenakteure. Aus dieser Perspektive erschließt sich dann auch der Stellenwert und die längerfristige Bedeutung der Landtagswahl 2021. Eine entscheidende Zäsur stellt zunächst aber die Landtagwahl vom 27. März 2011 dar, die aus heutiger Sicht durchaus als „critical election“, im Sinne von Valdimer O. Key Jr., als Wahl des Umbruchs und einer sich herausbildenden Neustrukturierung des politischen Wettbewerbs in Baden-Württemberg gelten kann.3

Die Landtagswahl vom 27. März 2011 fand vor dem Hintergrund der Ereignisse um Stuttgart 21 und der Reaktorkatastrophe in Fukushima statt, was in der Konsequenz das ohnehin schon schlechte Ansehen des damaligen, etwa ein Jahr im Amt befindlichen CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus weiter sinken ließ. Für den massiven Einsatz von Wasserwerfern gegen friedliche Demonstrierende am 20. September 2010 in Stuttgart wurde in der Öffentlichkeit Mappus verantwortlich gemacht, der gegenüber den Protesten stets eine harte Linie vertreten und wenig Kompromissbereitschaft hatte erkennen lassen. Der dann kurz vor der Landtagswahl von Bundes- und Landesregierung verkündete Atomausstieg wurde insbesondere im Falle des bisherigen Atomkraftbefürworters Mappus von vielen Wählerinnen und Wählern als höchst unglaubwürdig angesehen. Hinzu kam, dass die CDU über Jahre hinweg das vorherrschende Lebensgefühl im Land, insbesondere bei Frauen und in den größeren Städten, immer weniger traf und in politische Konzepte umsetzte. Die CDU wirkte in Teilen fast schon abgekoppelt, zumindest zu sehr auf innerparteiliche Macht- und Positionskämpfe konzentriert. Von der sich ausbreitenden Wechselstimmung4 profitierten vor allem die Grünen, die spätestens nach den Ereignissen von Fukushima in den Umfragen stabil vor der SPD lagen und denen bei der Landtagswahl am 27. März 2011 zusammen mit den Sozialdemokraten dann erstmals eine Mehrheit gegen die CDU gelang. Nach 58 Regierungsjahren wurde die amtierende christdemokratisch angeführte Landesregierung abgewählt, die CDU musste auf die Oppositionsbänke.

Dem neu ins Amt gewählten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann gelang es dann sehr schnell, in die Rolle des weit über grüne Wählerkreise hinaus geschätzten Landesvaters hineinzuwachsen. Sein bürgerliches Auftreten und seine pragmatisch gehandhabte Politikausrichtung, Baden-Württembergs Zukunft als Industriestandort mit einem hohen Anteil von Automobil- und Maschinenbau durch die nachhaltige Verbindung von Ökonomie und Ökologie zu sichern und den industriellen Strukturwandel einzuleiten, überzeugte weithin. Hinzu kam gerade nach den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 ein verändertes Verhältnis von Politik und Bürgerschaft durch den Ausbau von dialogischer Bürgerbeteiligung und Bürgermitentscheidung in bewährten und neuen Formaten.

Der Ausgang der Landtagswahl vom 13. März 2016 belegt, dass der Machtwechsel keineswegs nur ein Betriebsunfall infolge der Ereignisse von Fukushima war, als den ihn manche CDU-Politiker angesehen haben. In den Augen einer überwiegenden Mehrheit der Wahlberechtigten in Baden-Württemberg hatte die grün-rote Regierung unter Kretschmann in dieser ersten Legislaturperiode bewiesen, dass sie das Regierungshandeln beherrscht. Insbesondere dem Regierungschef Kretschmann bescheinigten die Demoskopen hervorragende Zustimmungs- und Kompetenzwerte.5 Erneut wurde die Landtagswahl überlagert durch ein polarisierendes Thema, nämlich durch die bundesweiten Auseinandersetzung um die im Herbst 2015 sprunghaft angestiegenen Flüchtlingszahlen und die damit verbundenen enormen Herausforderungen für die Kommunen, kurzfristig die Unterbringung und Versorgung der Neuangekommenen sicherstellen zu müssen. Strategisch hat es sich für die CDU nicht ausgezahlt, dass ihr Spitzenkandidat Guido Wolf öffentlich als Kritiker der Flüchtlingspolitik der christdemokratischen Kanzlerin Angela Merkel wahrgenommen wurde. Ganz im Gegenteil eröffnete diese Positionierung dem amtierenden grünen Ministerpräsidenten Kretschmann die Chance, den öffentlichen Schulterschluss mit Merkels Regierungspolitik zu demonstrieren, zugespitzt in dem legendären Satz: „Ich bete jeden Abend für Angela Merkel.“6 Zusammen mit seinen hohen Beliebtheits- und Kompetenzwerten konnte Kretschmann damit bei großen Teilen auch der liberal-bürgerlichen Wählerinnen und Wähler punkten. Die Grünen gewannen 46 von 70 Wahlkreisen und lagen in der Endabrechnung zum ersten Mal über 3 Prozentpunkte vor der CDU.

Darüber hinaus stand die Flüchtlingsthematik für eine grundsätzliche Strukturveränderung des Parteienwettbewerbs, fügt sich diese Thematik doch bestens ins Bild der neuen politischen Konfliktlinie, kosmopolitische versus nationale Politikgestaltung, wie sie sich seit einigen Jahren zunehmend herausgebildet und das Parteiensystem auch in Baden-Württemberg neu ausgerichtet hat.7 Parteipolitisch besetzen in Deutschland am deutlichsten Grüne und AfD die entgegengesetzten Pole. Die AfD erzielte bei der Landtagswahl 2016 aus dem Stand heraus zwei Direktmandate in Mannheim und Pforzheim und landete auf dem dritten Platz noch vor der SPD. Die Grünen mit Ministerpräsident Kretschmann profitierten von der ambivalenten Positionierung des christdemokratischen Spitzenkandidaten in diesem Themenfeld und konnten im bürgerlich-liberalen Bevölkerungssegment als ernstzunehmende Wahlalternative weiter an Profil gewinnen.

Die Landtagswahl vom 14. März 2021 erscheint in mehrfacher Hinsicht als Fortsetzung der Situation 2016. Mit der amtierenden Kultusministerin Susanne Eisenmann nominierte die CDU erneut eine Spitzenkandidatin, die zu keinem Zeitpunkt zu den Beliebtheits- und Kompetenzwerten von Kretschmann aufschließen konnte. Ganz im Gegenteil bekundete eine überwiegende Mehrheit der CDU-Wählerschaft noch kurz vor der Landtagswahl, bei einer hypothetischen Direktwahl des Ministerpräsidenten für Kretschmann stimmen zu wollen.8 Und wiederum verspekulierte sich die christdemokratische Herausforderin auf der fast schon krampfhaften Suche nach zündenden Wahlkampfthemen gegen den populären Ministerpräsidenten. Vor Weihnachten 2020 drängte Frau Eisenmann massiv auf die Öffnung der Schulen, ganz im Gegensatz zur stets vorsichtig agierenden Bundekanzlerin. Erneut konnte sich der grüne Ministerpräsident im Endeffekt als derjenige in Baden-Württemberg präsentieren, der in entscheidenden Punkten der Politik der Bundeskanzlerin näherstand als die Landes-CDU. Und schließlich bleibt es unverständlich, warum die CDU nach der Wahlniederlage von 2016 auch im Wahlkampf 2021 auf die Präsentation eines inhaltlich breit aufgestellten Kompetenzteams verzichtete. Ein Persönlichkeitswahlkampf gegen den routinierten Amtsinhaber war nicht zu gewinnen, eine Wechselstimmung zu keinem Zeitpunkt erkennbar. So gewann die CDU in der Endabrechnung gerade noch 12 von 70 Wahlkreisen. Der einstmals schwarze Südwesten hat sich inzwischen flächendeckend grün eingefärbt, die Grünen konnten ihre Positionen auch in kleinstädtisch-ländlichen Kontexten ausbauen.

(III.) In dieser Rückschau auf die letzten Wahlentscheidungen wird weiterhin deutlich, dass sich das baden-württembergische Parteiensystem in mehreren Punkten von der bundesweiten Ausprägung unterscheidet. So ist zum einen die Südwest-CDU nach wie vor weit konservativer ausgerichtet als die Bundes-CDU. Erkennbar ist dies auch an dem klaren Votum der Landesspitze für Friedrich Merz als Nachfolger von Angela Merkel im Januar 2021 oder an der öffentlichen Unterstützung der Ambitionen von Markus Söder auf die Kanzlerkandidatur im April 2021 durch mehrere baden-württembergische Bundestagsabgeordnete. Der letztlich erfolgreiche gesellschaftspolitische Modernisierungskurs von Bundeskanzlerin Merkel – als Stichworte seien der Ausbau der Kleinkinderbetreuung, die Aussetzung der Wehrpflicht, eine verbesserte Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder auch der Atomausstieg genannt – hat in der Landes-CDU keine allzu große Unterstützung gefunden. Vorherrschend ist bei vielen Christdemokraten bislang immer noch die Vorstellung, durch eine traditionell-konservative Profilierung zu alter Stärke als Volkspartei zurückfinden zu können. Dass die Union damit Gefahr läuft, ihre liberalen Wählergruppen dauerhaft zu verlieren, haben die letzten Landtagswahlen eindrücklich gezeigt. Ihr frühere Stellung als dominierende politische Kraft Baden-Württembergs haben die Christdemokraten jedenfalls zwischenzeitlich an die Grünen verloren.

Zum anderen sind auch die Grünen im Südwesten schon immer weitaus realpolitischer ausgerichtet als auf der Bundesebene. In Baden-Württemberg liegen ihre Wurzeln stärker als anderswo in der Anti-Atomkraft- und in der Umweltschutz-Bewegung – und in beiden Fällen sind die bürgerlichen Hintergründe und Überschneidungen deutlich auszumachen.9 Und in diesem Kontext ist es dann eben auch Winfried Kretschmann – der heute im Übrigen mit mancherlei bürgerlichen Attributen bis hin zu seiner christlichen Verwurzelung ausgestattet ist – gelungen, eine in Teilen durchaus wertkonservative Umwelt- und Klimaschutzpolitik mit dem bürgerlich-liberalen Mainstream politisch erfolgreich zu verbinden und ökonomische, ökologische und sozialpolitische Gesichtspunkte zeitgemäß und mehrheitsfähig miteinander zu verknüpfen. Dass er in den Augen vieler Baden-Württemberger sowohl zunächst mit der SPD als dann auch mit der CDU erfolgreich regieren konnte, unterstreicht seine überragende Stellung in der aktuellen Landespolitik und seine Fähigkeit frei nach Niccolò Machiavelli, die sich bietenden Gelegenheiten mit Geschick und Fortune entschlossen zu nutzen. Es entbehrt nun allerdings nicht einer gewissen Ironie, dass Kretschmann durch seine Entscheidung, in der kommenden Legislaturperiode erneut mit der arg gebeutelten CDU unter dem Leitmotiv „Baden-Württemberg als führendes Klimaschutzland in Deutschland“ zu koalieren, den Christdemokraten nun von außen zu dem Erneuerungsimpuls verhilft, den sie aus eigenen Stücken in den letzten zehn Jahren erkennbar versäumt und in Teilen sicherlich auch nicht als notwendig angesehen haben.

Bezeichnenderweise spiegeln sich diese Umbrüche der baden-württembergischen Parteienlandschaft auch in den Wählerwanderungsbilanzen 2021 wider, die infratest-dimap für die Wahlberichterstattung der ARD errechnet hat. Die CDU hat demnach große Stimmenkontingente an die Gruppe der Nichtwähler, an die Grünen sowie in etwas geringerem Umfang an die FDP verloren. Nettogewinne gelangen lediglich bei ehemaligen AfD-Wählern. Dieser Spagat – Verluste an Grüne, FDP und Nichtwähler sowie Gewinne von der AfD – unterstreicht auch aus dieser Perspektive sehr deutlich die Schrumpfung der christdemokratischen Wählerklientel auf eine eher konservative Kernwählerschaft, während die Grünen auch 2021 erneut hohe Nettogewinne bei ehemaligen CDU-Wählern verzeichnen konnten. Dass ihre Integrationsfähigkeit inzwischen allerdings auch an Grenzen kommt, belegen die ebenfalls nennenswerten Verluste der Grünen an Sonstige, also an Gruppierungen wie die Klimaliste oder konsequent ökologisch ausgerichtete Kleinparteien. Ins Bild passen in diesem Zusammenhang auch die enorm hohen Verluste der AfD an die Nichtwähler sowie die beachtlichen Zugewinne der FDP von einerseits der CDU und andererseits der AfD, Ausdruck der bereits ausgeführten Doppelstrategie als zugleich demokratische Protest- und konstruktive Oppositionspartei.

(IV.) So stellt sich abschließend die Frage nach der Dauerhaftigkeit der aufgezeigten strukturellen Veränderungen, gerade auch in einer zukünftigen Nach-Kretschmann-Ära. Immerhin hat er mit seiner Persönlichkeit in hohem Maße zu diesem Umbruch beigetragen. Haben sich also die Grünen inzwischen als neue Baden-Württemberg-Partei fest etabliert? Die enormen Zugewinne über nunmehr drei Landtagswahlen hinweg deuten zunächst einmal darauf hin. Hinzu kommt, dass die Grünen auch auf Bundesebene als politische Hoffnungsträger und zukünftige Regierungspartei gelten. Die fast schon ritualisierten innerparteilichen Flügelkämpfe sind – zumindest öffentlich – seit Jahren nicht mehr wahrnehmbar, die Parteispitze verfolgt erfolgreich einen realpolitisch-pragmatischen Kurs und Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich beide eine hohe persönliche Reputation erworben. In Zeiten von Klimawandel ist der Zeitgeist weithin grün, die Grünen surfen derzeit auf einer politischen Welle.

Und dennoch lehrt das analytische Instrumentarium der Cleavage-Theorie, dass sich Strukturvorteile nicht automatisch in politische Erfolge oder gar Dominanz ummünzen. Stets bedarf es dazu des geschickten strategischen Handelns der politisch Verantwortlichen.10 Es sind Menschen, die Vertrauen und politische Kompetenzen erwerben, es ist das politische Spitzenpersonal, das aktuelle Themen und Probleme immer wieder aufs Neue konzeptionell und mehrheitsfähig formulieren und mit strukturellen Besonderheiten verknüpfen muss. Und es braucht heute mehr denn je politische Kommunikationstalente, die Wählerinnen und Wähler ernst nehmen und politische Entscheidungen auch allgemeinverständlich erklären können.

Für die mittelfristige Stabilisierung der herausgehobenen Stellung der Grünen spricht, dass sie auf zwei zentralen Konfliktfeldern klar positioniert sind. Zum einen stehen sie unbezweifelbar für eine ökologische Ausrichtung von Gesellschaft und Wirtschaft. Seit Jahren werden ihnen im Bereich Umwelt- und Klimaschutz hohe Kompetenzwerte attestiert. Wenn es der neuen Regierung zudem gelingt, Baden-Württemberg weithin anerkannt zu einem Klimaschutzland zu transformieren, hat dies eine hohe Signalwirkung – und spricht unter anderem auch einmal mehr für das politische Geschick und die handwerkliche Kompetenz der Grünen im Regierungsalltag. Zum anderen stehen sie aus Sicht der neuen Konfliktlinie kosmopolitische versus nationalstaatliche Politikausrichtung sehr klar für offene Grenzen, gesellschaftliche Vielfalt und multilaterale Abkommen angesichts der Auswirkungen von Klimawandel und fortschreitender Globalisierung. All dies sind gute Voraussetzungen für die Grünen, im politischen Wettbewerb durch eine klare Profilierung bestehen zu können. Gegen die Grünen spricht in Baden-Württemberg allerdings, dass die CDU trotz ihres Absturzes bei den letzten Landtagwahlen noch immer über starke Verwurzelungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verfügt. Wer über Jahrzehnte in bestimmender Position das Land regiert hat, hatte ausreichend Gelegenheiten, den vorpolitischen Raum nach eigenen parteipolitischen Gesichtspunkten auszurichten und zu strukturieren. Und überdies ist eigentlich zu erwarten, dass sich die CDU angesichts der Erfahrungen aus den letzten Wahlen zukünftig personell und thematisch breiter aufstellen wird. Ob sie damit die „politische Brise“ wirklich drehen und die vergangenen Verluste wieder wettmachen kann, bleibt allerdings abzuwarten. Kurzum, es wird bei den Grünen in ein paar Jahren dann ganz entscheidend auf das politische Geschick der Generation nach Kretschmann ankommen. Seine Fußstapfen sind schon heute groß – und die anvisierte Umsetzung einer ambitionierten Klimaschutzpolitik im „Autoland“ Baden-Württemberg liegt erst noch vor ihm.

Zitationshinweis:

Eith, Ulrich (2021): Baden-Württemberg im Umbruch, Eine Einordnung der Landtagswahl vom 14. März 2021, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/baden-wuerttemberg-im-umbruch/

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  1. Vgl. Eith, Ulrich (2021): Baden-Württemberg unter grüner Führung. Bilanz zweier Regierungsperioden unter Winfried Kretschmann, Notes du Cerfa, Nr. 159, Ifri Paris, März 2021. []
  2. Vgl. https://www.gruene-bw.de/wp-content/uploads/2021/04/2021.04.03-Sondierungsergebnis-GrueneBW-und-CDU-BaWue.pdf?fbclid=IwAR33LFPqjTWwpChH7WyZ99JC1j2DzJmGp33mfhL7neXbZ_fFDT6ggpt9368. []
  3. Vgl. Eith, Ulrich (2020): Baden-Württembergs Parteiensystem im Wandel, in: Bürger & Staat 4/2020, S. 261-269. []
  4. Vgl. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2011-03-27-LT-DE-BW/. []
  5. Vgl. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2016-03-13-LT-DE-BW/. []
  6. Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/winfried-kretschmann-im-interview-ich-bete-jeden-tag-fuer-angela-merkel/12900668.html. []
  7. Vgl. etwa Merkel, Wolfgang (2017): Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst et al (Hg.): Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy, Wiesbaden, S. 9-23. []
  8. Vgl. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-03-14-LT-DE-BW/index.shtml. []
  9. Vgl. Eith, Ulrich (2015): Von Wyhl bis Karlsruhe – Bürgerproteste, Neue Soziale Bewegungen und die Gründung der Grünen, in: Philipp Gassert, Reinhold Weber (Hg.): Filbinger, Wyhl und die RAF. Die Siebzigerjahre in Baden-Württemberg, Stuttgart, S. 113-135. []
  10. Vgl. Eith, Ulrich (2001): Zur Ausprägung des politischen Wettbewerbs in entwickelten Demokratien. Zwischen gesellschaftlichen Konflikten und dem Handeln politischer Eliten, in: ders, Gerd Mielke (Hg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien, Opladen, S. 17-33. []

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