Bewegungsnähe – ein Strukturmerkmal von neuen, erfolgreich etablierten Parteien?

Tanja Arnold, die den Master “Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung” an der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen studiert, analysiert das Wechselverhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen in Deutschland und zieht exemplarisch dazu die Grünen und die AfD heran. Wie viel soziale Bewegung steckt in diesen Parteien, als diese sich neu gründeten? Stellt Bewegungsnähe ein Strukturmerkmal von neuen Parteien dar?

Politische Parteien sind in der repräsentativen Demokratie von besonderer Bedeutung. Sie agieren formell in der parlamentarischen Arena und streben nach parlamentarischem Einfluss, um die von ihnen getragenen politischen Wertevorstellungen als Repräsentant*innen des Volkes im demokratischen Wettbewerb institutionell durch- und umzusetzen. Die etablierten Parteien verzeichnen jedoch seit geraumer Zeit überwiegend Mitgliederschwund, der mit zeitgleichem Verlust ihrer gesellschaftlichen Verankerung einhergeht.

Bewegungsnähe – ein Strukturmerkmal von neuen,
erfolgreich etablierten Parteien?

Eine Annäherung anhand der Fallbeispiele Die Grünen 1980 und der Alternative für Deutschland 2016

Autorin

Tanja Arnold studiert das Masterprogramm “Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung” an der NRW School of Governance am Institut für Politikwissenschaft der UDE. Der Essay ist im Kurs “Digital Activism, Digital Oppostion, Digital Movements, Digital Parties” unter der Leitung von Dr. Kristina Weissenbach entstanden.

Etablierte Parteien und soziale Bewegungen in Deutschland

Politische Parteien sind in der repräsentativen Demokratie von besonderer Bedeutung. Sie agieren formell in der parlamentarischen Arena und streben nach parlamentarischem Einfluss, um die von ihnen getragenen politischen Wertevorstellungen als Repräsentant*innen des Volkes im demokratischen Wettbewerb institutionell durch- und umzusetzen. Die etablierten Parteien verzeichnen jedoch seit geraumer Zeit überwiegend Mitgliederschwund, der mit zeitgleichem Verlust ihrer gesellschaftlichen Verankerung einhergeht und somit häufig in postdemokratischen Kontexten einzuordnen ist (vgl. Niedermayer 2020). Verantwortlich für den Wandel können sowohl parteispezifische, vor allem aber auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen sein. Darunter fallen eine sinkende sozialstrukturelle Bindungs- und Überzeugungskraft von Parteien, wie auch ein gestiegenes Interesse an zeitlich begrenzten, konkreten und direktdemokratischen Beteiligungsformen (vgl. Bukow/Jun 2021).

Auch soziale Bewegungen tragen ihren Teil zum Verlust der gesellschaftlichen Verankerung der Parteien bei, sie fordern dessen Rolle und die eigene Wahrnehmung heraus. „Soziale Bewegungen umfassen Phänomene sozialen Handels, bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer/Schnabel 2017: 16). Sie streben demnach nach Veränderung im öffentlichen, politischen Raum, um so die Nähe zwischen politischer Repräsentation und den Bürger*innen zu stärken. Mitglieder von Bewegungen kommen aus verschiedenen Milieus der Bevölkerung und auch die Anliegen der Protestbewegungen sind von unterschiedlicher Natur. So reichen die Themensetzung von ökologischen Zukunftsfragen (Fridays for Future) über gesellschafts- und identitätspolitische Machtkonflikte (Black Lives Matter) bis zu antipluralistischen, rechtsautoritären oder verallgemeinerten Systemprotesten (Querdenker) (vgl. Bukow/Jun 2021). Zudem variieren auch die Organisationsstrukturen von dezentral bis zentral sowie, von basisdemokratisch bis top-down (vgl. ebd.). Trotz der unterschiedlichsten Ausprägungen und Organisationsstrukturen besteht zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen eine Gemeinsamkeit – das fehlende Vertrauen in etablierte Parteien und Institutionen, verschuldet durch die unzufriedenstellende Repräsentation der Interessen und der Beteiligung am politischen Prozess der Bürger*innen (vgl. Jun 2019).

Obwohl in der Parteien- und Bewegungsforschung die Beziehung von Parteien und sozialen Bewegungen zunächst als gegensätzlich betrachtet wurde, besteht ein komplexes Verhältnis, geprägt von Rivalität, Abgrenzung und Argwohn; ebenso aber auch gekennzeichnet durch Zusammenarbeit, Interaktion und Empathie (vgl. Rucht 1987, Hensel 2021). Parteien und Bewegungen bilden Intermediäre im öffentlichen Raum, sie dienen als Bindeglied zwischen Gesellschaft und staatlichen Institutionen. Während soziale Bewegungen tendenziell stärker in der Lebenswelt und Zivilgesellschaft verankert sind und somit im expressiven Handlungsbereich betrachtet werden, sind Parteien durch ihre Etablierung mit dem staatlichen System im instrumentalen Handlungsbereich und in der systemadaptierten Funktionalität zu finden (vgl. Rucht 1993). Sowohl Parteien als auch Bewegungen artikulieren (neue) gesellschaftliche Interessen und Konflikte, sie handeln jedoch auf unterschiedlichen politischen Böden, mit unterschiedlichen strukturellen Anforderungen, Handlungsbedingungen und Handlungslogiken (ebd.). Da sich die Potenziale des Einen mit den Defiziten des Anderen decken können, neigen besonders Parteien und Bewegungen mit den gleichen politischen Grundgedanken zur Interaktion (vgl. Hensel 2021). Bewegungen können somit auf die Agenda etablierter Parteien und auf das institutionelle politische System einwirken und gleichzeitig können Parteien von dem geschaffenen Druck resultierend aus Protesten im politischen Wettbewerb profitieren.

Es lässt sich also die theoretische Annahme treffen, dass die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Etablierung von neuen Parteien steigt, wenn die bisherigen etablierten Parteien der Repräsentation wichtiger Bedürfnisse und den Interessen der Bevölkerung nicht oder nur unzureichend nachkommen. Anders formuliert: Ein längeres Überdauern einer sozialen Bewegung dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihrer Institutionalisierung führen. Gleichzeitig kann somit angenommen werden, dass sich neue, erfolgreich etablierte Parteien aus sozialen Bewegungen bilden bzw. zumindest die Bewegungsnähe ein Strukturmerkmal darstellt.

Mit Blick auf die Parteienforschung wird nachführend auf das Wechselverhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen in Deutschland, exemplarisch anhand der zu ihrem Zeitpunkt der erfolgreichen Etablierung neu gegründeten Parteien Die Grünen 1980 und der Alternative für Deutschland (nachfolgend AfD) 2016, eingegangen. Die zu untersuchenden Parteien wurden angesichts der Neugründung mit zeitgleichen ersten Etablierungserfolgen ausgewählt. Festgemacht wurde die erfolgreiche Etablierung an den ersten Wahlerfolgen.1 Das eigentliche Gründungsjahr der jetzigen AfD wird auf 2015 festgelegt. Die erste AfD wurde im Jahr 2013 durch Bernd Lucke geründet. Die Partei durchlebte jedoch 2015 eine tiefe Spaltung. Mit dem Wechsel der Vorsitzenden zu Frauke Petry, änderten sich auch die wesentlichen Wertevorstellungen der Partei und kann daher als neue Gründung angesehen werden. Auf eine Betrachtung der Partei Die Linke wurde nachfolgend verzichtet. Zwar verzeichnete die Partei unmittelbar nach ihrer Gründung 2007 Wahlerfolge, entstand jedoch aus einer Fusion mit bereits existierender Wählerschaft. Daher kann sie zum Zeitpunkt der erfolgreichen Etablierung, im Sinne der Verfasserin, nicht als gänzlich neu definiert werden.

Der Annäherungsversuch wird anhand der Grundsatzprogramme durchgeführt. Zusätzlich soll ein Blick auf sowohl die innere Organisation als auch die eigene Wahrnehmung der Parteien die genannte These bestärken, um abschließend eine parteiübergreifende Bewegungsnähe als Strukturmerkmal für neue, erfolgreich etablierte Parteien empirisch zu belegen und somit weitere Forschungen anzuregen.

Die frühen Grünen und die Umwelt-, Friedens- und Antiatomkraftbewegung

Die Grünen von 1980 verstehen sich als Interessenvertreter*innen der Umwelt-, Friedens- und Antiatombewegung. Gleich zu Anfang in ihrer Präambel des Grundsatzprogrammes 1980 bezeichnen sie sich als „die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ (Grüne 1980: 4).

Die Grünen streben eine Umgestaltung des wirtschaftlichen, staatlich-politischen und kulturellen Lebens der Gesellschaft an. Dieses Ziel soll erlangt werden durch eine neue Form der Beteiligung der Bürger und ihrer Initiativen an politischen und parlamentarischen Planungs- und Entscheidungsprozessen (vgl. Anan 2021).

Mit ihrem egalitaristischen und antihierarchischen Konzept der Basisdemokratie wollen sie eine „Parteiorganisation neuen Typs schaffen, deren Grundstrukturen in basisdemokratischer und dezentraler Art verfasst sind“ (Grüne 1980: 5). Durch die Verknüpfung des Rätesystems mit einem basisdemokratischen Gedankengut gelingt die Trennung zur klassischen repräsentativen Demokratie. Kerngedanke der Basisdemokratie ist „die ständige Kontrolle aller Amts- und Mandatsinhaber und Institutionen durch die Basis (Öffentlichkeit, zeitliche Begrenzung) und die jederzeitige Ablösbarkeit, um Organisation und Politik für alle durchschaubar zu machen und, um der Loslösung einzelner von ihrer Basis entgegenzuwirken“ (Grünen 1980: 5). Um dies in der innerparteilichen Willensbildung umsetzen zu können, verankerten die Grünen Vorschriften in der Parteisatzung, die für ihre Repräsentant*innen in Ämtern und Mandaten als Schutzvorrichtungen gegen Identitätsverlust und Systemintegration dienen sollten (vgl. Hoffmann 1988). Zu den basisdemokratischen Besonderheiten gehörten u.a. die Mehrfachspitze (heutige Doppelspitze), das imperative Mandat, welches die unmittelbare Anbindung der Abgeordneten an Parteitagsbeschlüsse und ihre ständige Kontrolle durch die Parteibasis vorsah, sowie die Inkompatibilität von Amt und Mandat (eine Ämterhäufung auf Bundes- und Landesebene war ausgeschlossen) (vgl. Zeuner 1985). Ziel dieser Maßnahmen ist es, einer möglichen Machtkonzentration präventiv entgegenzuwirken.

Für eine Dezentralisierung der Macht und für eine Stärkung der direkten Demokratie sprechen zudem auch die gestellten Forderungen nach der Einführung des Volksbegehrens und des Volksentscheids, sowie die Abschaffung der Fünfprozenthürde (vgl. Grüne 1980: 29). Weitere Bewegungsnähe geht aus den Forderungen nach Streichungen des Strafgesetzbuches hervor. Hier möchten die Grünen der zunehmenden Einschränkung von Grundrechten durch eine Reihe von strafrechtlichen Bestimmungen entgegenwirken. Darunter fallen § 88a ff StGB Gewaltbefürwortung, § 90a StGB Staatsverunglimpfung und § 130a StGB Anleitung zu Straftaten (vgl. Grüne 1980: 28). Auch möchten sie eine Aufhebung aller Urteile gegen Atomkraftgegner (vgl. Grüne 1980: 30), diese Forderung kann als direkte Verbindung zu der damaligen Antiatomkraftbewegung gekennzeichnet werden. Der Höhepunkt der Bewegung lag in den später 1970er Jahren (vgl. Radkau 2011). Somit erhärtet sich der Verdacht, dass diese Bewegung, u.a. als Vorläufer der Partei gedient hat.

Darüber hinaus enthält das Grundsatzprogramm mehrfache, direkte Verweise auf Bewegungen und Bemühungen zur Vermittlung des Teilhabegefühls: „Hervorgegangen sind wir aus einem Zusammenschluss von grünen, bunten und alternativen Listen und Parteien. Wir fühlen uns verbunden mit all denen, die in der neuen demokratischen Bewegung mitarbeiten: den Lebens-, Natur- und Umweltschutzverbänden, den Bürgerinitiativen, der Arbeiterbewegung, christlichen Initiativen, der Friedens- und Menschenrechts-, der Frauen- und Dritte-Welt-Bewegung. Wir verstehen uns als Teil der grünen Bewegung in aller Welt“ (Grüne 1980: 4).

Auch halten die Grünen eine stärkere Interaktion zwischen Partei und Bewegung für notwendig und möchten: „[…] die Aktivitäten außerhalb des Parlaments durch die Arbeit in den Kommunal- und Landesparlamenten sowie im Bundestag [zu] ergänzen. Wir wollen dort unseren politischen Alternativen Öffentlichkeit und Geltung verschaffen. Wir werden damit den Bürger- und Basisinitiativen eine weitere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Anliegen und Ideen eröffnen“ (Grüne 1980: 4).

Das Grundsatzprogramm wie auch die eigene Wahrnehmung und die innere Struktur, mit dem Grundgedanken der Basisdemokratie, verweisen gemeinsam auf die Bewegungsnähe der Partei. Somit bestärkt das Fallbeispiel Die Grünen die These der Bewegungsnähe als Strukturmerkmal von neuen, erfolgreich etablierten Parteien.

Die AfD – eine Bewegungspartei?

Der rasante Aufstieg der AfD 2016 kann als direkte Reaktion auf die Euro- und Finanzkrise sowie auf die Flüchtlingskrise 2015 begriffen werden. Mit ihrer Forderung nach einer Auflösung des Euro-Währungsgebiets und einer Begrenzung der europäischen Integration verfügte die AfD im politischen Wettbewerb über ein Alleinstellungsmerkmal bzw. stellte für die Bürger*innen eine grundlegende Alternative dar, da die bereits etablierten Parteien pro-europäisch eingestellt waren (vgl. Niedermayer 2015).

Bereits der Name der Partei verweist schon auf die eigene Wahrnehmung der grundlegenden Alternative. In der Präambel ihrer Bundessatzung 2015 spricht die AfD ausdrücklich von „Alternativen zu einer angeblich alternativlosen Politik“ (AfD 2015: Präambel). Sie sieht sich als Sprachrohr des Volkes und verleiht das Image von Bodenhaftung, Offenheit, Energie und Dynamik, das üblicherweise Bewegungen anhaftet und diese von dem Formalismus und Bürokratismus abhebt, welcher üblicherweise den Parteien zugeschrieben wird (vgl. Rucht 2017). Trotz der verschiedenen Strömungen aus Zivilgesellschaft und Parteipolitik, die sich in der AfD vereinen, fehlen in ihrem Vorfeldnetzwerk typische Bewegungsmerkmale, beispielsweise eine übergreifende kollektive Identität oder größere Protestereignisse (vgl. Hensel 2021).

Der Blick auf die Organisationsstruktur der Partei zeigt ein basisdemokratisches Gedankengut, durch bspw. die Doppelspitze. Wobei sie nicht wie üblich als Vorsitzende, sondern als Bundessprecher bezeichnet werden (vgl. AfD 2015: § 13). Die abweichende Bezeichnung, wie auch die Aufteilung des Amtes, bestärken das bewegungstypisches Misstrauen gegen Machtkonzentrationen. Die basisdemokratische Organisationsstruktur kontrastiert jedoch mit der ansonsten klaren repräsentativen Demokratie der innerparteilichen Verfassung (vgl. Anan 2021). Zum Beispiel das freie Mandat, das Recht auf innerparteiliche Opposition und das Verbot jeglicher Quoten und bestimmter Vereinigungen auf Grundlage von „Abstammung, Nationalität, sexuelle[r] Orientierung oder Geschlecht“ niedergeschrieben (vgl. AfD 2015: § 7, § 11, AfD 2015: § 17, Absatz 2).

In den Forderungen der AfD können zudem ebenfalls direktdemokratische Elemente gefunden werden. So sollten Volksentscheide nach dem „Schweizer Vorbild“ eingeführt werden, dieses Recht sollte „präventiv mäßigend“ auf die Gesetzgebung wirken (AfD 2016: 9). Auch forderte die AfD die „Allmacht der Parteien“ zu beenden (AfD 2016: 11). Hierunter wird eine verringerte Amtszeitbegrenzung auf 16 Jahre, die Direktwahl des Bundespräsidenten und die Einführung von Kumulieren und Panaschieren auf Bundesebene verstanden (vgl. Anan 2021).

Eine soziale Bewegung, welche bedingt durch ähnliche Forderungen und Interpretationen des Status Quo der AfD als Vorläufer zugeordnet werden könnte, wäre die Pegida-Bewegung. Sie hielt einen aggressiven Appel zur Rettung des europäischen Abendlandes vor der drohenden Gefahr einer Islamisierung an die Bevölkerung. Da diese durch ihre radikalen Positionen auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD gelistet ist, hat sich der AfD-Bundesvorstand offiziell distanziert, vor Ort zeigten sich jedoch früh personelle Verflechtungen und die Bewegung erfuhr von AfD-Funktionären symbolische und organisatorische Unterstützung (vgl. Hensel 2021.). Rein formal kann die AfD der Pegida-Bewegung nicht zugeordnet werden, jedoch kann die Theorie aufgestellt werden, dass die AfD als inoffizielle parteipolitische Repräsentantin dient.

Auf der einen Seite weist das Grundsatzprogramm keinen direkten Bezug zu einer Bewegung auf. Jedoch rückt es auf der anderen Seite sowohl den „freien Bürger“ (AfD 2016: 6) als auch ein zum Handeln aufgefordertes „Staatsvolk“ (AfD 2016: 8) in den Fokus. Immer wieder scheint es, als würde die AfD durch ihr Grundsatzprogramm an eine Volksbewegung appellieren. Die Beantwortung nach der Bewegungsnähe muss daher im Hinblick auf die AfD ambivalent beurteilt werden. Die Partei weist zwar Bewegungsnähe auf und ist auch durch bewegungstypische Merkmale gekennzeichnet, jedoch kann ihr offiziell keine Bewegung als Vorläufer zugeschrieben werden.

Bewegungsnähe – ein Strukturmerkmal von neuen, erfolgreich etablierten Parteien?

In den vorausgehenden Ausführungen wurden unter Nutzung der jeweiligen Grundsatzprogramme Bezüge der Parteien Die Grünen und der AfD zu sozialen Bewegungen hergestellt. Des Weiteren wurden die eigenen Wahrnehmungen erörtert. Dabei sollte festgestellt werden, ob sie sich als grundlegende Alternative zu den bisherig etablierten Parteien im Parteiensystem zum Zeitpunkt ihrer erfolgreichen Etablierung sahen. Auch sollte unterstützend herausgefunden werden, ob sie sich offiziell als eine parteipolitische Repräsentantin einer Bewegung betrachteten. Und zuletzt sollte die Organisationsstruktur Aufschluss darüber geben, ob bewegungstypische Merkmale vorliegen.

Zugegebener Weise variiert die offensichtliche Bewegungsnähe der verglichenen Parteien stark. Daher fällt es schwer eine verallgemeinerbare Aussage zu treffen, welche parteiübergreifend empirisch belegbar wäre. Gleichwohl kann ein Annäherungsversuch anhand der Fallbeispiele getroffen werden. Daher sollte der Bewegungsnähe bei neuen, erfolgreich etablierten Parteien, welche anhand der Fallbeispiele festgestellt werden konnten, Ausdruck verliehen werden.

Durch dieses Ergebnis wird die theoretische Vorannahme bestätigt, dass die erfolgreiche Etablierung von neuen Parteien steigt, wenn die bisherigen etablierten Parteien die Repräsentation wichtiger Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung nicht zufriedenstellend nachkommen. Um sich zu etablieren, ist es selbstverständlich hilfreich, sich an populären Positionen der Zeit zu bedienen und diese in der eigenen Organisationsstruktur, den inhaltlichen Dimensionen, der eigenen Wahrnehmung und in die Grundsatzprogrammatik mit aufzunehmen und somit Anhänger*innen zu gewinnen.

Im Falle der Grünen scheinen jegliche Kriterien einer bewegungsnahen Partei erfüllt zu werden. Die ihr zugrunde liegenden Bewegungen – die Umwelt-, Friedens-, und Antiatomkraftbewegung – scheinen ganz offensichtlich als Vorläuferinnen der daraus resultierenden Partei gedient zu haben. Aber auch die AfD weist einige bewegungstypische Merkmale auf. Wie bereits oben genannt, kann sie offiziell nicht als Vertreterin einer sozialen Bewegung betitelt werden. Es lässt sich aber die Vermutung aufstellen, dass sie als inoffizielle parteipolitische Repräsentantin für die ihr untergeordnete(n) Bewegung(en) diente.

Grundsätzlich scheint eine weitere Untersuchung nach Bewegungsnähe bei neuen, erfolgreich etablierten Parteien ein aussichtsreiches Forschungsfeld zu sein. Da eine Untersuchung innerhalb Deutschlands, bedingt durch die wenigen erfolgreich etablierten neuen Parteien in jüngerer Zeit, nur begrenzt möglich ist, sollte eine Untersuchung auf europäischer Ebene durchgeführt werden. Der Annäherungsversuch der These von Bewegungsnähe als Strukturmerkmal kann zunächst unter der Prämisse, dass weitere Untersuchungen nötig sind, um parteiübergreifende empirische Belege zu finden, als erfolgreich bewertet werden.

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Zitationshinweis:

Arnold, Tanja (2022): Bewegungsnähe – ein Strukturmerkmal von neuen, erfolgreich etablierten Parteien?, Eine Annäherung anhand der Fallbeispiele Die Grünen 1980 und der Alternative für Deutschland 2016, Student Paper, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/bewegungsnaehe-ein-strukturmerkmal-von-neuen-erfolgreich-etablierten-parteien/

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  1. Grünen Landtagswahlen 1980: 5,3 Prozent Baden-Württemberg; AfD Landtagswahlen 2016: 12,6 Prozent Rheinland-Pfalz, 15,1 Prozent Baden-Württemberg, 14,2 Prozent Berlin, 20,8 Prozent Mecklenburg-Vorpommern, 24,3 Prozent Sachsen-Anhalt. []

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