Demokratiegefährdungen durch Bildungsungleichheiten

Dr. Philipp Legrand, der an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen und am Niedersächsischen Studieninstitut für kommunale Verwaltung tätig ist, nimmt die ungleichen Bildungschancen im deutschen Schulsystem in den Blick. Der sozioökonomische Status der Eltern wirkt sich auf die Bildungschancen der Kinder aus und hat nicht jedes Kind die gleichen Chancen auf den Kompetenzerwerb. Da diese Kompetenzen sich auch aus die politische Partizipation auswirken, ist die Verteilung von Bildungschancen auch aus demokratischer Perspektive hochrelevant.

Gesellschaftliche Partizipationsasymmetrien, eine geringe Wahlbeteiligung, die Zunahme an nationalistisch-populistischen und verschwörungsideologischen Bestrebungen gefährden ein demokratisches Zusammenleben, und katalysieren eine sich fragmentierende Gesellschaft. Dass die politische Partizipation sozial verzerrt ist, zeigen Studien zur Partizipationsforschung. Der sozioökonomische Status wirkt sich demnach auf die individuelle Partizipationsbereitschaft aus.

Demokratiegefährdungen durch Bildungsungleichheiten

Partizipationsasymmetrien im deutschen Schulsystem

Autor

Dr. Philipp Legrand, Diplom-Sozialwissenschaftlicher, arbeitet als Dozent an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen und am Niedersächsischen Studieninstitut für kommunale Verwaltung. Schwerpunkte seiner Lehre sind sozialwissenschaftliche Themen. Forschungschwerpunkte von Legrand sind die Politikdidaktik, Partizipation und das Bürgerbewusstsein.

Einleitung

Gesellschaftliche Partizipationsasymmetrien, eine geringe Wahlbeteiligung, die Zunahme an nationalistisch-populistischen und verschwörungsideologischen Bestrebungen gefährden ein demokratisches Zusammenleben, und katalysieren eine sich fragmentierende Gesellschaft (Blais 2006). Dass die politische Partizipation sozial verzerrt ist, zeigen Studien zur Partizipationsforschung (Lijphart 1997). Der sozioökonomische Status wirkt sich demnach auf die individuelle Partizipationsbereitschaft aus. Je höher der sozioökonomische Status ist, desto höher ist auch die Bereitschaft politisch zu partizipieren (Geißel 2015, 37–46; Lijphart 1997). So konstatiert Lijphard (2012: 1), dass Beteiligung stets zugunsten privilegierter Bürger ausfällt. Aus diesem Grund wird bereits in den siebziger Jahren von Dahl (1971: 81 ff.) der Einbezug sozial Benachteiligter als eine der zentralen Herausforderungen des demokratischen Zusammenlebens benannt.

Bildungsgrad, Einkommen und Schichtzugehörigkeit wirken sich auf das Beteiligungsverhalten aus. Es besteht eine Korrelation zwischen den individuellen Ressourcen und der Beteiligung. Bildungsferne und sozial benachteiligte Schichten beteiligen sich immer seltener an Wahlen und ebenso an anderen Beteiligungsformen (vgl. Geißel 2015: 37). Zur Bundestagswahl 2013 haben lediglich 31 Prozent der unteren sozialen Schicht den Vorsatz, wählen zu gehen (vgl. Petersen u. a. 2013: 8). Im Gegensatz dazu geben 68 Prozent aus oberen Schichten an, dass sie wählen gehen (vgl. Petersen u. a. 2013: 8). Während diejenigen der obersten Einkommensschicht im Zeitraum zwischen 1972 bis 2009 einen ähnlich hohen prozentualen Anteil im Hinblick auf die Wahlbeteiligung ausmachen, sinkt die Beteiligung bei der unteren Einkommensschicht rapide ab (vgl. Geißel 2015: 39). Auch bei nicht-institutionalisierten Partizipationsformen, wie zum Beispiel Demonstrationen, ist ein ähnlicher Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund beziehungsweise Bildungsnähe und Beteiligungsverhalten erkennbar. Individuen mit einem hohen Bildungsniveau partizipieren politisch in höherem Maße (Schäfer 2010: 143). „Je höher die Anforderungen von Partizipation in Bezug auf Zeit, Fähigkeiten und Ressourcen sind, desto seltener werden bildungsferne und einkommensschwache Personen teilnehmen“ konstatiert Geißel (2015: 41). Nach Schäfer liegt „die Wahrscheinlichkeit, zur Gruppe der besonders Aktiven zu gehören – definiert als diejenigen, die gewählt und mindestens zwei weitere politische Beteiligungsformen genutzt haben –, für Geringverdiener mit geringer Bildung bei einem Viertel der ressourcenreichsten Gruppe“ (Schäfer 2010: 143). Individuen, die sich nicht an Wahlen beteiligen, partizipieren auch sonst kaum bei anderen Beteiligungsformen. Personen mit geringer Bildung bringen also immer seltener ihre Interessen in politische Prozesse ein (Geißel 2015: 40). Damit einher geht, dass insbesondere Menschen aus den unteren Bildungs- und Einkommensschichten meinen, dass ihre Interessen nicht durch die hiesigen Politiker vertreten werden und sie keinerlei Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Politik wird von ihnen eher als ein Betätigungsfeld der oberen sozialen Schicht und Beteiligung als sinnlos wahrgenommen. So konstatiert Geißel (2015: 43), dass Demokratien langfristig instabil werden, sofern große Teile der Bevölkerung nicht partizipieren. Um eine Reduktion von Partizipationsasymmetrien im Hinblick auf politische Partizipation zu erzielen, lassen sich nach Geißel (2015: 46) drei Vorschläge anführen: Abbau sozioökonomischer Ungleichheit, Implementierung von Maßnahmen, die die Inklusion bildungsferner Schichten bei den unterschiedlichen politischen Partizipationsformen fördern und eine politische Bildung, die die Aktivierung von Menschen dieser Schichten als eine ihrer zentralen Aufgaben betrachtet.

Da die Schule zentral für die weiteren Entwicklungswege und die Ausbildung von Motivation zur Partizipation der Kinder ist, sollten Schülerinnen und Schüler unabhängig ihrer Herkunft möglichst ähnliche Chancen erhalten, erfolgreich am Schulsystem zu partizipieren und ein hohes Kompetenzniveau zu erlangen. Die Chancengleichheit der Kinder, am Bildungssystem gleichermaßen zu partizipieren, ist an deutschen Schulen nicht gegeben.

Im vergangenen Jahrhundert hat sich hierzulande die Bildungsbeteiligung insgesamt erhöht. Trotzdem weisen Bildungsforscher immer wieder darauf hin, dass nicht allen Kindern der Zugang zu Schulformen gleichermaßen offensteht.

Durch die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse (PISA: Programme for International Student Assessment) gewann das Thema soziale Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und dem Kompetenzerwerb signifikant an Bedeutung in der bildungssoziologischen und -politischen Debatte. Im Rahmen der PISA-Studie wurde der sozioökonomische und kulturelle Hintergrund der Schüler1 erfasst und in Verbindung mit den erlangten Kompetenzen gesetzt. In Deutschland zeigte sich insbesondere bei den Erhebungen zu den PISA-Studien, dass zwischen der sozialen Herkunft und dem erlangten Kompetenzniveau ein besonders enger Zusammenhang im Vergleich zu anderen OECD-Staaten besteht.

Bei der Betrachtung von Familien im generationsübergreifenden Kontext fällt auf, dass ein bestimmter sozioökonomischer Status über Generationen hinweg bestehen bleibt und somit zu einer stringenten Reproduktion der Sozialstruktur führt. Die schulische Ausbildung prägt maßgeblich die weitere soziale und berufliche Entwicklung sowie die politische Partizipationsbereitschaft und tatsächliche Beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Es gibt viele Belege für den ausgeprägten Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und den schulischen Kompetenzen (z. B. Davis-Kean: 2005). Dennoch ist nicht ausreichend erforscht, wie diese Korrelation erklärt werden kann. Vermutet wird, dass dieser Zusammenhang über verschiedene Faktoren und Kontexte (z. B. Schule, Familie, Nachbarschaft) entsteht (vgl. z. B. Aikens; Barbarin, 2008; Bronfenbrenner, 1979). Es gibt Hinweise dafür, dass verschiedene Aspekte im Kontext Schule, z. B. die Wirksamkeit der Lehrer und die Qualität der Schule den Zusammenhang in Teilen erklären können (z. B. Martins; Veiga, 2010). Ferner scheint auch das häusliche Umfeld eine Rolle beim Einfluss der sozialen Herkunft auf die Schulleistungen zu spielen (z. B. Magnuson, 2007).

In diesem Beitrag wird dargestellt, weshalb das Schulsystem soziale Ungleichheiten reproduziert und nicht jeder Schüler dieselben Chancen auf Kompetenzerwerb hat. Dazu werden die Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien (IGLU: Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) herangezogen sowie mit den theoretischen Überlegungen von Bourdieu zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten verknüpft. Ferner wird erarbeitet, wie diesem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erreichtem Kompetenzniveau entgegengewirkt werden kann, um Partizipationsasymmetrien zu reduzieren. Nachfolgend wird zunächst untersucht, weshalb sich die Sozialstrukturen reproduzieren.

Weshalb reproduzieren sich soziale Ungleichheiten?

Mit der Reproduktion sozialer Ungleichheiten hat sich Bourdieu auseinandergesetzt und sowohl empirisch als auch theoretisch dazu gearbeitet. Zu Beginn der 60er Jahre beschäftigte sich Bourdieu mit dem französischen Bildungssystem und untersuchte, inwieweit es auf die Reproduktion sozialer Disparitäten Einfluss hat (Bourdieu 1971). Schwerpunkt seiner Überlegungen zu sozialen Unterschieden ist die Habitustheorie. Sie liefert Ansätze, um die Ursachen für soziale Gegebenheiten und deren Reproduktion begründbar zu machen.

Erfahrungen, auf denen der Habitus beruht, schlagen sich in der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweise von Individuen nieder. Lebensstile, Verhaltensweisen, Kleidung, Geschmack und Sprache – das gesamte Auftreten einer Person basiert auf dem Habitus als ein System von sozialen Handlungsformen und verinnerlichten Verhaltensmustern. „Die Lebensstile bilden also systematische Produkte des Habitus“ (Bourdieu 1982: 281). In unterschiedlichen Situationen handelt man habitusbedingt ähnlich. Der Habitus ist begrenzend und wird aufgrund von Lebensumständen und der sozialen Herkunft determiniert. Analog ist er gestalterisch und generativ – so können unbegrenzt viele Handlungen hervorgebracht werden (Bourdieu 1982: 279, 281). Verhaltensweisen sind darüber hinaus von Dispositionen geprägt (Bourdieu 1982: 278, 279). Der Habitus selbst entwickelt sich gesellschaftsspezifisch und ist nicht angeboren. Er tendiert dazu bestimmte Verhaltensmuster herauszubilden, die sich in verschiedenen Situationen wiederholen. Der Habitus ist starr und sucht nach Gegebenheiten, die bekannt sind, weil er sie einzuschätzen vermark (Bourdieu 1982: 187). Der Habitus ist träge und sucht sich Situationen, die denen seiner Genese gleichen beziehungsweise die er bereits kennt. In der Konsequenz verbleiben Individuen zumeist in den sozialen Milieus, in denen sie sich sozialisiert haben. Die Milieuzugehörigkeit determiniert den Habitus (Bourdieu 1982: 175ff.).

Gesellschaft setzt sich aus unterschiedlichen Milieus zusammen. Innerhalb eines Milieus sind bis zu einem gewissen Maße Gegebenheiten ähnlich. Entsprechend bilden Mitglieder eines Milieus einen ähnlichen milieubezogenen Habitus aus. Bourdieu selber unterteilt Gesellschaft in Klassen, in denen homogene Bedingungen vorherrschen, und spricht vom Klassenhabitus, der sich herausbildet. Dieser bedingt, dass Individuen einer Klasse (oder eines Milieus) ähnlich handeln (Bourdieu 1982: 175, 686ff.).

Das Individuum besitzt soziale, kulturelle und ökonomische Ressourcen, die durch den Habitus reproduziert werden. Ökonomische Ressourcen beinhalten Waren, die direkt in Geld umwandelbar sind, wie beispielsweise Grundbesitz, Wertpapiere oder Schmuck (Bourdieu 1992: 52). Soziale Ressourcen kann man auf Grundlage sozialer Beziehungen erhalten, wie zum Beispiel Hilfeleistungen, Anerkennung und Wissen. Die Grundlage von sozialen Ressourcen bilden Tauschgeschäfte (Bourdieu 1992: 63). Bourdieu unterteilt kulturelle Ressourcen in inkorporierte, objektivierte und institutionalisierte. Die inkorporierten Kulturressourcen bezeichnen Verinnerlichtes, das in der Regel nur durch einen erheblichen Zeitaufwand – zum Beispiel in Form von Bildung – weitergegeben werden kann. „Inkorporiertes kulturelles Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus geworden ist“ (Bourdieu 2001: 114). Soziale Disparitäten zeigen sich hier lediglich unterschwellig, da sie als gegeben erscheinen. Objektivierte kulturelle Ressourcen sind materiell übertragbar und können beispielsweise Bilder, Kunstgegenstände und Bücher darstellen. Titel, das Renommee einer Arbeitsstelle, Schul- und Universitätsabschlüsse können als institutionalisierte kulturelle Ressourcen bezeichnet werden. Ökonomische Ressourcen sind für den Erwerb kultureller Ressourcen entscheidend. Durch ökonomische Ressourcen kann man zum Beispiel eine bessere Ausbildung erlangen. Dies schlägt sich später in der Regel in Form eines höheren Einkommens nieder, wodurch wiederum kulturelle Ressourcen generiert werden können (Bourdieu 1992: 55ff.). Menschen, die über große ökonomische Ressourcen verfügen, können eher kulturelle Ressourcen erwerben. Kulturelle Ressourcen, beispielsweise in Form einer hochwertigen Ausbildung begünstigen den Erhalt eines guten Arbeitsplatzes mit hohem Einkommen und führen schließlich zur Umwandlung kultureller in ökonomische Ressourcen.

Die ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Eltern haben maßgeblichen Einfluss auf Sozialisationsprozesse und die Ressourcengenerierung ihrer Kinder. Investieren die Eltern in die Bildung ihrer Kinder und helfen beim Aufbau sozialer Beziehungen erhöhen sich die Chancen auf einen hohen sozioökonomischen Status (Vgl. Bos u.a. 2007: 225, 226). Weiterhin konstatiert Bourdieu, dass materielle Ressourcen immer auch kulturelle Ressourcen beeinflussen. Familiäre Ressourcen prägen Werte, Tugenden und Kompetenzen und legitimieren Zugehörigkeiten zu gesellschaftlichen Milieus (Bourdieu 1982: 136, 137).

Menschen bewegen sich auf unterschiedlichen Feldern und Subfeldern, auf denen verschiedene Regeln maßgebend sind. Partizipationschancen und -möglichkeiten auf den Feldern sind akteursspezifisch geregelt (wie z.B. auf dem Subfeld Schule). Auf den jeweiligen Feldern existiert ein Wettbewerb um Ressourcen und Positionen. Die Relevanz der jeweiligen Ressourcen ist dabei von Feld zu Feld unterschiedlich ausgeprägt (Bourdieu 1993: 107ff.). Dem Subfeld Schule wird nachfolgend Aufmerksamkeit geschenkt (zur Dynamik der Felder vgl. Bourdieu 1982: 355ff.). Es wird angelehnt an die Überlegungen von Bourdieu, das deutsche Schulsystem kurz skizziert und untersucht, inwieweit sich soziale Ungleichheiten aufgrund der schulischen Strukturen reproduziert.

Das deutsche Bildungssystem ist selektiv und fördert soziale Disparitäten

In diesem Abschnitt wird das deutsche Schulsystem im Hinblick auf Selektionsmechanismen betrachtet. Ferner wird untersucht, inwieweit soziale Disparitäten im Schulsystem katalysiert werden.

Das deutsche Schulsystem gliedert sich nach der Grundschule zu Beginn der fünften Jahrgangsstufe in das Gymnasium und in weitere Schulformen. Weitere Schulformen divergieren je nach Bundesland z.B. in die Gesamt-, Ober-, Haupt- oder Realschule. Nach der vierten Klasse findet eine Selektion entsprechend dem Leistungsniveau der Schüler statt. Neben dem Selektionsinstrument der unterschiedlichen Schulformen finden sich weitere Selektionsmechanismen im deutschen Bildungssystem: die Zurückstellung der Einschulung und das Wiederholen einer Jahrgangsstufe. Diese Selektionen dienen der Homogenisierung von Lerngruppen. Es findet eine, im Vergleich zu anderen OECD-Staaten, restriktive Sortierung und Kategorisierung der Schüler entsprechend des jeweiligen Leistungsstandes statt. Grundlage dieser Maßnahmen ist die Annahme, dass Lernen und Unterrichten in homogenen Gruppen den größeren Lernerfolg erzielt (Baumert u. a. 2006: 95; Krohne, Meier 2004: 117).

Die sozialen Verhältnisse, in denen Kinder aufwachsen, haben einen erheblichen Einfluss auf den Schulerfolg. Die PISA-Studien von 2000, 2003, 2006 und 2009 haben ergeben, dass im deutschen Bildungssystem die soziale Herkunft der Kinder bzw. der sozioökonomische Status der Eltern ein entscheidender Faktor für den Kompetenzerwerb der Lernenden ist. Schüler, deren Eltern einen hohen sozioökonomischen Status aufweisen, erlangen insgesamt ein höheres Kompetenzniveau als diejenigen, deren Eltern einen niedrigen sozioökonomischen Status aufweisen (vgl. die Ergebnisse der PISA-Studien 2000, 2003, 2006, 2009; Klieme u.a. 2010: 232ff., 249f.).

Die Kopplung von sozialer Herkunft und der Generierung von Kompetenzen konnte entsprechend der PISA-Ergebnisse von 2000 und 2009 vermindert werden, dennoch haben Kinder aus bildungsfernen Milieus nach wie vor weit weniger Chancen auf eine erfolgreiche Schullaufbahn (Klieme u.a. 2010: 250).

Die erzielten Unterschiede zwischen den PISA-Studien 2000 und 2009 sind im Hinblick auf die Schichtzugehörigkeit und den Bildungsgang gering (siehe Abbildungen 1 und 2). Die nachfolgenden Abbildungen 1 und 2 zeigen die EGP-Klassen (Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassen)2 und die besuchte Schulform. Es ist deutlich erkennbar, dass Kinder, deren Eltern einen hohen sozioökonomischen Status aufweisen, wesentlich häufiger eine höherqualifizierende Schulausbildung absolvieren.

Abbildung 1: Prozentuale Anteile der 15-jährigen Schüler nach Schichtzugehörigkeit und Bildungsgang bei PISA 2000, eigene Darstellung (Daten entnommen aus Klieme u.a. 2010: 248).3

Abbildung 2: Prozentuale Anteile der 15-jährigen Schüler nach Schichtzugehörigkeit und Bildungsgang bei PISA 2009, eigene Darstellung (Daten entnommen aus Klieme u.a. 2010: 248).

Zweifelhaft ist, ob wirklich eine nachhaltige Verringerung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und erlangtem Kompetenzniveau, wie die PISA-Ergebnisse andeuten, stattgefunden hat (zu den PISA-Ergebnisse 2000, 2003, 2006, 2009, vgl. Klieme u.a. 2010: 250). Am deutschen Schulsystem hat sich in der Dekade 2000 bis 2010 wenig verändert, das auf eine Reduktion dieser Korrelation schließen lässt. Denkbar ist es, dass nach dem schlechten Abschneiden bei PISA 2000 und 2003 im Schulunterricht gezielt „pisatypische Aufgaben“ trainiert wurden und es somit zu einer Verbesserung der Ergebnisse bei den nachfolgenden PISA-Studien kam. Die PISA-Studie verweist auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb. Es wäre ein vorschneller Um­kehrschluss anzunehmen, dass ein verbessertes Abschneiden von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen bei PISA gleichbedeutend mit einer Abnahme des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und erreichten Kompetenzerwerb sei.

Allerdings ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, aufgrund von Sozialisation in einer sozioökonomisch benachteiligten Familie ein niedrigeres Kompetenzniveau zu erlangen, von vornherein größer, sondern Kinder sozioökonomisch benachteiligter Eltern sind auch bei gleichen Kompetenzen gegenüber sozioökonomisch besser gestellten Kindern benachteiligt. Die IGLU-Studie von 2006 hat ergeben, dass es für Kinder aus sozioökonomisch bessergestellten Familien bei gleichem Kompetenzniveau wahrscheinlicher ist, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als für Kinder, die sozioökonomisch benachteiligt sind (Bos, u.a. 2004).

Während Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien ein wesentlich höheres Kompetenzniveau erreichen müssen, um eine Gymnasialempfehlung ausge­sprochen zu bekommen, reicht Kindern aus wohlhabenden Familien eine deut­lich geringere Kompetenzstufe.

Abbildung 3: Gruppenspezifische Standards für die Gymnasialpräferenzen der Lehrkräfte in Bezug auf die Lese-kompetenzen 2006 und 2001 (Daten entnommen aus Bos, u.a. 2007: 287, 288).

Abbildung 3 zeigt, dass Schüler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien eine wesentlich höhere Punktzahl in dem Bereich Lesekompetenz beziehungs­weise wesentlich höhere Lesekompetenzen aufweisen müssen, um von den Lehrkräften eine Gymnasialpräferenz nach der Grundschulzeit zu erhalten, als dies bei sozioökonomisch nicht benachteiligten Kindern der Fall ist. Die Zahlen belegen, dass sich dieser Zusammenhang im Zeitraum von 2001 bis 2006 sogar leicht verschärft hat.

Anhand dieser Ergebnisse hinsichtlich der Selektionsmechanismen im Bereich der schulischen Bildung ist eine erhebliche Benachteiligung von Lernenden aus sozial benachteiligten Milieus erkennbar, welche die Reproduktion sozialer Ungleichheiten maßgeblich katalysiert.

Aktuelle Befunde – PISA 2018 und IGLU 2016

Die Ergebnisse der PISA-Studie 2018 zeigen, dass im Vergleich zu anderen OECD-Staaten der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Lesekompetenz in Deutschland weiterhin besonders stark ausgeprägt ist (Weis u.a. 2018:158). Die Ergebnisse belegen, dass es nach wie vor sehr starke soziale Disparitäten in der Lesekompetenz in Deutschland gibt. Sowohl die mittlere Lesekompetenz als auch die Vorhersagbarkeit der Lesekompetenz durch den sozioökonomischen und -kulturellen Status liegen über dem OECD-Durchschnitt. Andere Staaten wie beispielsweise Estland, Kanada und Finnland zeigen eine überdurchschnittliche mittlere Lesekompetenz bei einem geringen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz. Somit besteht in Deutschland nach wie vor die Herausforderung, die Korrelation zwischen der Lesekompetenz und der sozialen Herkunft zu reduzieren (Weis u.a. 2018:158). So konstatieren Weis u.a.: „Da der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz multiple Ursachen zu haben scheint und nicht auf einen Kontext beschränkt werden kann, sollten zielgerichtete Interventionen entwickelt werden, welche die wechselseitigen Verknüpfungen zwischen den Kontexten sowie multiple Risikofakto­ren berücksichtigen“ (Weis u.a. 2018: 158).

Die nachfolgende Tabelle zeigt die Lesekompetenz der befragten fünfzehnjährigen Jugendlichen und die soziale Herkunft in den EGP-Klassen an. Ersichtlich ist, dass diejenigen Kinder, deren Eltern der oberen Dienstklasse zugeordnet sind, den höchsten Mittelwert im Bereich Lesekompetenz aufweisen. Den geringsten Mittelwert im Bereich der Lesekompetenz weisen die Kinder, deren Eltern der Gruppe der Routinedienstleistungen, Handel und Verwaltung sowie un- und angelernte Arbeiter bzw. Landarbeiter zuzuordnen sind, auf (vgl. Weis u.a. 2018:146).

Abbildung 4: Mittelwerte der Lesekompetenz differenziert nach EGP-Klassen (Bezugsperson) bei PISA 2018 (Da-ten entnommen aus Weis u.a. 2018: 146).

Der Anteil Fünfzehnjähriger ohne Zuwanderungshintergrund, die ein Gymnasium besuchen, ist um 13 Prozentpunkte höher als der Anteil der Gleichaltrigen mit Zuwanderungshintergrund. An den nicht gymnasialen Schulen ist der Anteil der Fünfzehnjährigen mit Zuwanderungshintergrund um 14 Prozentpunkte höher als der Anteil der Fünfzehnjährigen ohne Zuwanderungshintergrund. Dieser Unterschied ist besonders deutlich bei Jugendlichen der ersten Generation erkennbar, von denen insgesamt nur 16 Prozent ein Gymnasium besuchen. Positiv ist, dass der Anteil der Jugendlichen der zweiten Generation, die ein Gymnasium besuchen, im Jahr 2018 im Vergleich zu PISA 2009 um zehn Prozentpunkte angestiegen ist (Reis u.a. 2018: 11).

Abbildung 5: Prozentuale Anteile 15-jähriger Schüler mit und ohne Zuwanderungshintergrund an Gymnasium und nicht gymnasiale Schularten (Daten entnommen aus Weis u.a. 2018: 154).

Die soziale Herkunft ist bei Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte ein zentraler Faktor, um Disparitäten in der Lesekompetenz zu erklären. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind die Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungshintergrund hierzulande ausgeprägter. Gegenüber der PISA-Studie von 2009 zeigt sich, dass die Gruppe der Schüler mit Zuwanderungsgeschichte heute heterogener geworden ist. Bei den Zugewanderten der ersten Generation ist die Lesekompetenz geringer ausgeprägt als bei der zweiten Generation Zugewanderter. Gegenüber den Ergebnissen der PISA-Studie von 2009 kann konstatiert werden, dass die Lesekompetenz im Durchschnitt bei der ersten Generation Zugewanderter gegenüber den Ergebnissen der PISA-Studie von 2018 abgenommen hat, wohingegen sie bei denjenigen der zweiten Generation Zugewanderter zugenommen hat. Die Ergebnisse der PISA-Studien offenbaren Handlungsbedarf, um fruchtbare Integrationsprozesse zu initiieren und Leistungsdisparitäten zu reduzieren (Weis u.a. 2018: 158-160).

Weiterhin ist eine konstant hohe Korrelation zwischen der sozialen Herkunft der Schüler und den Schullaufbahnpräferenzen zu konstatieren. So zeigen die IGLU-Studien von 2016 wiederum diesen ausgeprägten Zusammenhang. Das nachfolgende Diagramm offenbart, dass Kinder von un- und angelernten Arbeitern sowie Landarbeitern durchschnittlich eine sehr viel höhere Lesekompetenz aufweisen müssen, um eine Gymnasialpräferenz am Ende der Grundschulzeit ausgesprochen zu bekommen.

Abbildung 6: Gruppenspezifische Standards (‚kritische Werte‘) für eine Gymnasialpräferenz der Lehrkräfte (Da-ten entnommen aus Stubbe u.a. 2017: 246).

Der Vergleich zu den Ergebnissen der IGLU-Studien von 2001 und 2006 zeigt, dass sich die Chancen, eine Gymnasialpräferenz ausgesprochen zu bekommen, für Kinder von un- und angelernten Arbeitern sowie Landarbeitern gegenüber Kindern, deren Eltern der oberen Dienstklasse zugeordnet sind, bis heute weiter verringert haben. Im Vergleich mit früheren Erhebungen ist der durchschnittliche kritische Wert für eine Gymnasialempfehlung gesunken: von 581 beziehungsweise 580 in den Jahren 2001 und 2006 auf 562 bei IGLU 2016. Dies hat jedoch nicht zu einer Verringerung von Chancenungleichheiten beigetragen. Gegenteiliges ist der Fall: Es haben sich bis heute Chancenungleichheiten in Bezug auf die Gymnasialpräferenz weiter erhöht. So lag der kritische Wert für die oberste Berufsgruppe 2001 bei 551, sank 2006 auf 537 und 2016 auf 518. Analog stieg der kritische Wert bei Kindern von un- und angelernten Arbeitern von 601 2001, auf 614 2006 und auf 620 2016. Die Zahlen zeigen, wie ungleich die Chancen für eine Gymnasialpräferenz in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft verteilt sind. Die Chance eines Schülers aus der oberen Dienstklasse, eine Gymnasialpräferenz der Lehrkraft zu erhalten, ist heute 5.18-mal (2011: 4.71-mal, 2006: 3.97-mal, 2001: 4.42-mal) so hoch wie die eines Arbeiterkindes (Bos u.a. 2017: 23).

Diese Selektionen beziehungsweise Klassifikationen haben weit reichende Folgen für den weiteren Schulverlauf der Kinder. Schüler, die selektionsbedingt eine niedrigere Schulform mit leistungsschwächeren Schülern be­suchen, werden in vielerlei Hinsicht dauerhaft benachteiligt: Die psychologische Belastung aufgrund von zum Teil schlechteren Lernbedingungen und dem Gefühl, vermeintlichen Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein, einem weniger anspruchsvollen Unterricht, einem geringerwertigen Schulabschluss, einem mitunter herausfordernderen sozialen Schulgefüge und dem schlechteren Ansehen der niedrigeren beziehungsweise geringerwertig empfundenen Schulform kann erheblich sein. Jugendliche, die eine höhere Schule besuchen, erreichen bei gleicher Ausgangskompetenz mit der Zeit in der Regel einen höheren Leistungsstand. Sowohl zwischen den Schulformen als auch innerhalb einer gehen die Kompetenzunterschiede mit der sozialen Herkunft einher. Nach Bourdieu besteht lediglich eine formale Gleichheit bezüglich des möglichen Bildungserfolgs. Ein Grund dafür ist, dass Kinder unterschiedlicher Milieus verschiedene Bildungsvoraussetz­ungen in die Schule mitbringen. Die durch das Schulsystem vermittelten Inhalte und didaktischen sowie methodischen Techniken stimmen eher mit dem Wissen der privilegierten Kinder als mit denen aus bildungsbenachteiligten Milieus überein. Nach Bourdieu ist das Bildungssystem ein wesentliches Element zur Reproduktion der Klassengesellschaft (Bourdieu 2001: 10).

Die Kinder sind im Hinblick auf ihren sozioökonomischen Status ungleich auf die verschiedenen Schulformen verteilt. Sehr viel mehr Schüler, die eine niedrigere Schulform besuchen, kommen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, während sehr viel mehr derjenigen, die ein Gymnasium besuchen, nicht sozioökonomisch benachteiligten Familien angehören.

Durch die Homogenisierungsbestrebungen im deutschen Schulsystem findet eine Klassifizierung der Schüler auch entlang sozialer Linien statt. Parallel zur sozialen Benachteiligung der Schüler, deren Eltern aus sozioökonomisch benachteiligten Milieus kommen, führt die Aufgliederung des Schulsystems dazu, dass sich die Schulen dem Einzelnen gegenüber weniger verantwortlich fühlen, da leistungsschwache Schüler „abgeschoben“ werden können. Der sozioökonomische Status und das Bildungsniveau der Eltern sind entscheidende Faktoren für den Erfolg von Kindern in der Schule.

Das Bildungswesen in einer komparativen Perspektive

Im internationalen Vergleich ist die soziale Herkunft in Deutschland besonders entscheidend für den Kompetenzerwerb und Schulerfolg. Bei der Suche nach den Ursachen für die Divergenzen hinsichtlich der Kopplung von sozioökonomischem Hintergrund und dem Erreichen eines Kompe­tenzniveaus müssen andere Schulsysteme näher betrachtet werden. Eine wesentlich stärkere Entkopplung dieser Korrelation findet beispielsweise in den Ländern Finnland, Kanada, Neuseeland und Australien statt (Klieme u.a. 2010: 232ff.). In Staaten, in denen der sozioökonomische Hintergrund der Eltern einen geringen Vorhersagewert für das Erreichen eines Kompetenzniveaus hat, erlangen die Jugendlichen im Durchschnitt höhere Kompetenzen.

In Finnland lernen die Schüler in kleinen heterogenen Gruppen. Leistungs­schwache Schüler erzielen höhere Kompetenzen in heterogenen Lern­gruppen, während leistungsstarke in homogenen Lerngruppen etwas bessere Ergebnisse erzielen. Im Verhältnis kann in heterogenen Lern­gruppen insgesamt allerdings ein höheres Leistungsniveau erzielt werden.

Übersteigt die Anzahl der Lerngruppe 20 Schüler, wird dem Lehrer in Finnland unterstützend ein Assistent zur Seite gestellt. Auch im angel­sächsischen Sprachraum finden sich wesentlich kleinere Lerngruppen. Im finn­ischen Schulsystem wird sich unter der Prämisse, dass kein Schüler im Unterricht allein- oder zurückge­lassen wird, um alle Schüler gleichermaßen bemüht. Während in Deutschland zu häufig eindimensional unterrichtet wird – alle Schüler werden gleichzeitig mit demselben Lernstoff konfrontiert –, findet in Finnland eine individuell orientiertere Förderung statt. Die Schüler werden binnendifferenziert unterrichtet. Dies vermindert die Unter- oder Überfor­derung von Schülern innerhalb einer Lerngruppe. Im angelsächsischen Raum finden sich ebenfalls viele individuelle Förderprogramme.

Zusätzlich zu den Assistenten verfügen finnische Schulen über Speziallehrer, die lernschwächere Kinder in bestimmten Stunden aus der Lern­gruppe herausnehmen und ihnen Einzelunterricht erteilen, bis sie den Anschluss an den Klassenverband gefunden haben. Der Klassenlehrer wiederholt in dieser Zeit lediglich mit der Lerngruppe. Durch diese Förderung kommt es nur sehr selten zum Sitzenbleiben. Studien zufolge ist das Wiederholen einer Jahrgangsstufe ohnehin wenig erfolgsversprechend (vgl. Tillmann, Maier 2001). Insgesamt weist das Schulsystem in Finnland mehr Personal pro Schüler auf. Außerdem kümmern sich Schulschwestern, Kuratorinnen und Psychologen um die Lernenden. Keinem PISA-Teilnehmerland gelingt eine vollständige Entkopplung von sozialer Herkunft und dem Erreichen eines Kompetenzniveaus, allerdings unterscheidet sich die Dimension der Zusammenhänge beider Faktoren zwischen den Ländern erheblich.

Die Niederlande und Belgien verfügen über ein dreigliedriges Schulsystem, haben allerdings im Vergleich zu Deutschland besser bei der PISA-Studie abgeschnitten. Hier erfolgt die Selektion erst später als im deutschen Schulsystem.

Aufgrund unterschiedlicher sozialer und kultureller Strukturen der jeweiligen Länder ist eine komparative Betrachtung nur bedingt aussagekräftig. So besteht in Finnland beispielsweise eine lange Lesetradition aufgrund der langen dunklen Winter. Außerdem liest sich finnisch leichter, da lediglich ein Buchstabe jedem Laut entspricht. Des Weiteren werden ausländische Filme in der Regel nicht synchronisiert, sondern mit Untertiteln versehen. Bezüglich der Sozialstruktur weist Finnland eine niedrige Ausländerquote auf. Lehrkräfte werden bedarfsgerecht eingestellt. Der Schulunterricht ist insgesamt sehr sprachenlastig. Eine erste Fremdsprache wird in der zweiten Klasse eingeführt, eine zweite in der fünften Jahrgangsstufe und eine dritte in der siebten Klasse.

Allerdings können die Faktoren mehr Personal, heterogene Lerngruppen, individuelle Förderprogramme und stärkere Binnendifferenzierung, sodass alle Schüler entsprechend dem jeweiligen Leistungsniveau und der Lern­geschwindigkeit gefördert werden, sowie die Intention, dass kein Lernender im Klassenverband zurückgelassen wird, sich ungeachtet der Sozialstruktur des jeweiligen Landes begünstigend auf den Lernerfolg auswirken.

Wie kann die Reproduktion der Sozialstruktur vermindert werden?

In diesem Abschnitt soll diskutiert werden, wie die Reproduktion sozialer Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem vermindert werden kann. Ausgangspunkt sind die theoretischen Überlegungen von Bourdieu und die Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien.

Die Schule als Institution hat die Aufgabe, zur interkulturellen und sozialen Befreiung des einzelnen beizutragen (Bourdieu 2001: 20). Dies wird im deutschen Schulsystem nicht zufriedenstellend erreicht, wie die Studien von PISA und IGLU bestätigen.

Die Schule – als Institution für die Mittelschicht – verlangt nach einem Habitus, wie dieser für gewöhnlich in Mittelschichtfamilien herausgebildet wird. Bestandteil dieses Habitus sind schulrelevante Interessen, Fähigkeiten und Kenntnisse, die infolge von Austauschaktivitäten von Eltern und Kindern sowie durch das elterliche Vorbild vermittelt werden. Als Beispiel kann hier das Interesse am Lesen erörtert werden. Das Lesen ist ein wesentlicher Faktor, um kulturelle Ressourcen vermitteln, und weitere Kompetenzen erlangen zu können (Baumert u. a. 2006: 22).

Da der Habitus träge ist und neue Situationen vom ihm tendenziell gemieden und als unangenehm empfunden werden, weisen Kinder, deren Eltern aus bildungsbenachteiligten Familien kommen, an Schulen oftmals Integrationsprobleme auf. Schule als Institution wird von der Mittel- und Oberschicht gestaltet. Entsprechend sind die Strukturen so ausgelegt, dass Kinder, deren Eltern einer Mittel- oder Oberschicht angehören, die geforderte Verhaltensnorm zuhause bereits erlernt haben und so einen Vorteil aufweisen (vgl. Bourdieu 2001: 41).

Die Schule zwar kann keinen Einfluss auf die jeweiligen akkumulierten ökonomischen Ressourcen nehmen, jedoch auf das Ressourcenpotenzial, also das Potenzial, ökonomische Ressourcen zu akkumulieren. Durch eine gerechte Bildungsbeteiligung kann sich das Ressourcenpotential der Schüler, auch über soziale Herkunftsgrenzen hinweg, erhöhen.

Da der Kompetenzerwerb in der Schule mit der sozialen Herkunft korreliert, ist die Gliederung des deutschen Schulsystems zwischen dem Gymnasium und den nichtgymnasialen Schulformen auch eine soziale Segregation. Die Beurteilungen über Gymnasialpräferenzen in der vierten Klasse und die soziale Segregation ab der fünften Klasse setzen zu früh ein, wie der Vergleich zu anderen Ländern zeigt. Das Lernumfeld ist ein entscheidender Faktor für den Lernerfolg und auch die psychologischen Konsequenzen solcher Selektionen können negative Folgen für die Initiierung fruchtbarer Lernprozesse haben.

Um soziale Disparitäten des Kompetenzerwerbs und der Bildungsbeteiligung zu reduzieren, sollten Maßnahmen, die Schüler fördern, früh einsetzen, um kumulative Auswirkungen gering zu halten. Bereits am Ende der vierten Klasse lassen sich ausgeprägte Unterschiede sozialer Disparitäten in den Leistungsniveaus erkennen (Klieme u.a. 2010: 250).

Da das deutsche Schulsystem rigide ist, trägt es maßgeblich dazu bei, dass soziale Ungleichheiten dauerhaft anhalten als sei dies normbedingt. Ohnehin scheint die Prädisposition auch heute noch zu den gern gewählten Argumenten zu zählen, um die Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu erläutern. Derartige Aussagen katalysieren letztlich Vorverurteilungen und begünstigen, dass Lernschwierigkeiten und Misserfolge der Schüler von Lehrern als unumgängliche Tatsache interpretiert werden. Durch das Inkorporieren solcher Argumentationsmuster ist die Gefahr gegeben, dass der gemeinhin wohlwollende Pädagoge resignierend dem vermeintlich unvermeidlich begrenzten Kompetenzerwerb einer mangelnden Intelligenz seines Schülers zuschreibt. So hat auch Bourdieu festgestellt: „Von unten bis ganz nach oben funktioniert das Schulsystem, als bestünde seine Funktion nicht darin auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind“ (Bourdieu 2001: 21). „Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleichbehandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur“ (Bourdieu 2001: 39).

Für die Reduktion der Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem sind kleine heterogene Lerngruppen, eine gezielte früh einsetzende individuelle Förderung, stärkere Binnendifferenzierung im Unterricht und mehr Schulpersonal entscheidend. Die Verteilungsstruktur der Schüler innerhalb eines Klassenverbands sollte ausgewogen sein, sodass die gesellschaftlichen Verhältnisse im Klassenraum wieder zu finden sind. Außerdem scheinen die Vorstellungen des Pädagogen hinsichtlich der vermeintlichen Korrelation von sozialer Herkunft eines Schülers und den damit verbundenen Chancen des Kompetenzerwerbs ein nicht unerheblicher Faktor der Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu sein.

Die aus dieser Bildungsungleichheit resultierenden Partizipationsasymmetrien gefährden das demokratische System. Daher muss die Reduktion von Partizipationsasymmetrien zentrales Ziel einer angemessenen Bildungspolitik sein. Damit einher geht auch eine politische Bildung in der Schule, die Heranwachsende befähigt und motiviert, sich als mündige Bürger gesellschaftlich einzubringen. Politische Bildung zielt auf die Ausbildung einer politischen Analyse-, Urteils- und Handlungsfähigkeit ab. So könnten beispielsweise Mechanismen der Inklusion und Exklusion im Schulsystem selbst Bestandteil einer kritischen politischen Bildungsarbeit an der Schule sein. Eine solche Sensibilisierung kann einen Beitrag zur Reduktion von Partizipationsasymmetrien leisten. Sofern Heranwachsende ein Bewusstsein für Demokratiegefährdungen in Form von gesellschaftlichen Partizipationsasymmetrien, einer geringen Wahlbeteiligung, einer Zunahme an nationalistisch-populistischen und verschwörungsideologischen Bestrebungen und einer sich fragmentierenden Gesellschaft entwickeln, können sie im Rahmen von politischer Bildung gezielt demokratiestärkende Fähigkeiten und Aktivitäten entwickeln und im sozialen Umfeld umsetzen. Dafür braucht es neben der politischen Bildung auch Freiräume in Schulen, Vereinen, Einrichtungen der kommunalen Jugendpflege usw., die den Heranwachsenden ermöglichen, eigene Initiativen zu initiieren und zu erproben.

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Zitationshinweis

Legrand, Philipp (2022): Demokratiegefährdungen durch Bildungsungleichheiten, Partizipationsasymmetrien im deutschen Schulsystem, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/demokratiegefaehrdungen-durch-bildungsungleichheiten/

  1. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag lediglich die männliche Form verwendet. Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Verwendung der männlichen Form alle Formen sexueller Identität gemeint sind. []
  2. Bei der Einteilung in die EGP-Klassen handelt es sich um eine Klassifikation der Berufe. []
  3. Anmerkung zu den verwendeten Abkürzungen der Abbildungen 1 und 2
    : HS: Hauptschule, RS: Realschule, GYM: Gymnasium, IGS: Integrierte Gesamtschule, die Kategorie „Andere“ umfasst berufsbildende Schulen, Sonder- und Förderschulen []

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