Der Bundespräsident als Anwalt der Zumutungen: Über die Gestaltungsmacht von Frank-Walter Steinmeier

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

Da Bundespräsidentenwahlen häufig als Vorboten des Wandels für den Parteienwettbewerb interpretiert werden, kam dem 12. Februar 2017 eine besondere Bedeutung zu. Der innere Zusammenhang zwischen dem Ausgang der Bundespräsidentenwahl in der Bundesversammlung und dem die Bundesregierung tragenden Parteienbündnis ist evident. Zumal wenn, wie nur selten zuvor, lediglich sieben Monate beide Wahltermine voneinander trennten. Zwischen der anstehenden Wahl des Bundespräsidenten am 13. Februar 2022 und der zurückliegenden Bundestagswahl liegen diesmal sogar nur fünf Monate.

Aufbruch zu neuen Ufern des Regierens? Anmerkungen zur Ampel-Regierung

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

1. Das Szenario von 2017: Überraschungssieger

Da Bundespräsidentenwahlen häufig als Vorboten des Wandels für den Parteienwettbewerb interpretiert werden, kam dem 12. Februar 2017 eine besondere Bedeutung zu.[1] Der innere Zusammenhang zwischen dem Ausgang der Bundespräsidentenwahl in der Bundesversammlung und dem die Bundesregierung tragenden Parteienbündnis ist evident. Zumal wenn, wie nur selten zuvor, lediglich sieben Monate beide Wahltermine voneinander trennten. Zwischen der anstehenden Wahl des Bundespräsidenten am 13. Februar 2022 und der zurückliegenden Bundestagswahl liegen diesmal sogar nur fünf Monate.

Als legendär gilt die Bundesversammlung von 5. März 1969, im Vorfeld und am Tage selbst. Mit Gustav Heinemann (SPD) wählten die Wahlleute im dritten Wahlgang den ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten in der Bonner Republik. Zusammen mit den Stimmen der FDP strahlte ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 1969 ein koalitionspolitisches Signal – von der ersten Großen Koalition in Richtung sozial-liberal, dem „Stück Machtwechsel“, wie es Heinemann in einem Zeitungsinterview interpretierte. Von der Parteienforschung wird eine generelle koalitionspolitische Signalfunktion jedoch bestritten oder eher relativiert. Doch Anfang 2017 sah es, nach der zugesagten Unterstützung des Unionslagers für den SPD-Kandidaten Frank Walter Steinmeier, durchaus nach einer vorweggenommenen Neuauflage der Großen Koalition für die Bundestagswahlen im September aus.

Der Jahresstart 2017 hätte für die SPD nicht besser sein können: Ein sozialdemokratischer Frühling schien zu erblühen. Eine Stimmungskonstellation, die bereits im Sommer surreal wirkte. Und das hing ursächlich an den Personalrochaden, die im Umfeld der Bundespräsidentenwahl eintraten. Hans-Peter Schwarz formulierte als Zeithistoriker zum Kontext Präsident und Kanzlerwahlen zielsicher: „Zu den Eigentümlichkeiten des deutschen Regierungssystems gehört die Tatsache, dass das Amt des Bundespräsidenten politisch wenig Gewicht hat, gleichzeitig aber die Präsidien aller Bundestagsparteien schon ein gutes Jahr vor jeder fälligen Wahl durch die Bundesversammlung in knisternde Erregung versetzt werden“ (Schwarz 2012: 152). Der SPD-Parteivorsitzende und damals amtierende Bundeswirtschaftsminister Gabriel löste diese „knisternde Erregung“ aus, als er im November 2016 den damaligen Außenminister Steinmeier als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten präsentierte. Vorausgegangen war zunächst die Ankündigung des Bundespräsidenten Joachim Gauck, nicht mehr für eine zweite Amtszeit zu kandidieren (06.06.2016). Die Folgemonate waren dadurch gekennzeichnet, dass mögliche Kandidaten für die Nachfolge ein kräftiges Dementi artikulierten – vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle bis zum Bundestagspräsidenten Lammert, was Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung als „grassierende Verantwortungsvergessenheit“ zum Schaden des Amtes kritisierte. Die vielen Absagen lagen sicher nicht nur an den unklaren Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung.

Eine klare Mehrheit für den ersten Wahlgang in der 16. Bundesversammlung hatten nur zwei Konstellationen: Union/SPD und Union/Grüne. Die erste Option wäre ein Zeichen für die Fortsetzung der Großen Koalition gewesen, was im Frühjahr 2017 die jeweiligen Parteiführungen angesichts der Kampagnenfähigkeit für das Superwahljahr ausschlossen. Ende 2016 wollte niemand ein großkoalitionäres Zeichen setzen.

Die zweite Option wäre als sichtbare Ansage für eine schwarz-grüne Bundesregierung gewertet worden, was in beiden Lagern kontrovers diskutiert wurde. Unklare Mehrheiten ließen keine Favoriten aufkommen, aber offenbar eine Angst vor unkalkulierbaren Niederlagen. Gleichwohl sollte daran erinnert werden, dass es ehrenvolle Niederlagen gab von Johannes Rau (1994 gegen Herzog), Richard von Weizsäcker (1974 gegen Scheel) und Joachim Gauck (2010 gegen Wulff). Alle kamen bei späteren Wahlen zum Zuge. Offenbar hat sich das Zeitklima verändert: Andere dynamische Zeittaktungen geben mehrmaligen Kandidaturen heute keine Chance mehr. Jede Wahl erfordert offenbar jeweils neue Kandidaten. Eine besondere Ausnahme machte jüngst die dritte Kandidatur zum CDU-Parteivorsitz durch Friedrich Merz. Ebenso gehört zur zeitgeschichtlichen Erinnerung, dass es in der Geschichte der Bundespräsidentenwahlen auch offensive Eigenbewerbungen gab: mehrfach Richard von Weizsäcker und ebenso Walter Scheel und Johannes Rau.

Schließlich ging Gabriel im Oktober 2016 in die Offensive und verkündete, dass Steinmeier der Kandidat der SPD sei. Merkel musste kontern, denn die Union verfügte über die meisten Sitze in der Bundesversammlung und konnte nicht erneut ohne einen eigenen Kandidaten ins Rennen gehen. Sie spielte dabei ganz offensichtlich zwei Optionen hinter den Kulissen. Ein Gespräch mit dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, fand im Kanzleramt statt. Die grüne Karte hätten Merkel und Kretschmann gerne gespielt. Die CSU widersetzte sich jedoch diesem Vorschlag. Der Ministerpräsident und CSU-Parteivorsitzende Seehofer sympathisierte zwar mit dieser Idee, konnte sich damit jedoch nicht in der eigenen Partei durchsetzen. So suchte Merkel weiter. Mit Marianne Birthler, der ehemaligen Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, wollte Merkel den SPD-Vorschlag Steinmeier kontern. Doch Birthler sagte nach Bedenkzeit ab. Sie hätte die Mehrheit von Union und Grünen klar hinter sich bekommen.

Merkels Suche nach Vorzugskandidaten blieb vertraulich. Erst nachdem ihre Kandidaten abgesagt hatten, legte sie sich öffentlich auf die Unterstützung des in der Bevölkerung überaus beliebten Außenministers Steinmeier fest, was durchaus als großkoalitionäres Signal wahrgenommen wurde. Wie so häufig, wenn sie ihre Ziele nicht durchsetzen konnte, stellte sich Merkel urplötzlich an die Spitze der Gegenbewegung und tat so, als wäre sie schon immer von dieser Idee begeistert gewesen. Viele Unionsmitglieder in der Bundesversammlung grollten und ließen sich nur widerwillig zum zweiten Mal hintereinander auf einen Kandidaten ein, den die Union nicht selbst auserkoren hatte.

Es sah also nach einem SPD-Coup aus, ein Glanzstück von Gabriel, der sich durchgesetzt hatte. Steinmeier erhielt im ersten Wahlgang schließlich 931 von 1.239 gültigen Stimmen. Drei Viertel der Delegierten votierten für ihn. Steinmeier war sich gleichwohl im Vorfeld keinesfalls sicher, dass er eine ausreichende Mehrheit hinter sich versammeln würde.

Ohne an alle Wendungen und tagestaktischen Scharmützel dieses Nominierungsprozesses zu erinnern, wird der Kontext der Präsidentenwahl für den Parteienwettbewerb und den Wählermarkt unmittelbar sichtbar. Einmal mehr wurde auch die 16. Bundesversammlung zum Testgelände für politische Experimente und der Präsidentenpoker ein Katalysator für mögliche neue und alternative Bündnisse. Dass es anders kam war ebenso ein Zeichen, wie man rückblickend erkennen kann. Das großkoalitionäre Zeichen war nicht nur wirkungsmächtig, sondern führte auch zu einer historischen Sonderkonstellation: Nachträglich dankte Steinmeier Merkel indirekt für seine Wahlunterstützung durch die Union mit einer souveränen und aktiven Rolle bei der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl im Herbst 2017.

Die Bundespräsidentenwahl ist ein komplexes politisches Ereignis, wie die vorangestellte Geschichte belegt: Verschiedene Akteure und Institutionen (Parteien, Politiker, Ministerien, Präsidien etc.) interagieren unter nicht-linearen Bedingungen wechselseitig (siehe bspw. die Rolle der Grünen im Prozess der Mehrheitsbildung) bei hohem Risiko (mit Birthlers Ja wären Gabriel, aber auch Steinmeier extrem beschädigt worden und es wäre keine Personalrochade in den Bundesministerien eingetreten), kalkuliertem Nicht-Wissen (Merkels Nominierungsideen blieben geheim) und verdeckten Rückkopplungen (reziproke Konstellation, ohne die Steinmeier nie Kandidat von Merkel geworden wäre). Details (Timing, Vertraulichkeit) lösten Mechanismen aus, die nicht vorhersehbar waren. Insofern kann man für Gabriel und für Merkel unterstellen: Sie besaßen beide hohe Strategiefähigkeit, gemessen am Führungspotenzial zur Antizipation von Erwar­tungsunsicherheit. Beide lieben das Probehandeln im Geiste, das antizipierte Durchspielen von Möglichkeiten, ohne Prognose-Gewissheiten. Antizipation bedeutet auch immer mit der Dialektik von Nebenfolgen und potenziellen Kollateralschäden zu rechnen.

Politische Gestaltung kann sich nur in diesem Raum von Strategiefähigkeit, einer Handlungsfähigkeit für offene Problemsituationen, entwickeln. Beide Parteivorsitzenden, Gabriel und Merkel, besaßen zwar die Macht, Kandidaten vorzuschlagen, konnten sie aber nicht automatisch auch durchsetzen. Parteimacht und politische Führung sind darauf angewiesen, täglich Mehrheiten aus sehr unterschiedlichen Interessengruppen zu schmieden. Es gilt dabei die Sachrationalität der geplanten Maßnahmen – hier die Durchsetzung eines Kandidaten für die Präsidentenwahl – mit der politischen Vermittlungs- und Durchsetzungsrationalität abzuwägen. Politische Führung ist in diesem Sinne eher pragmatische Moderation als hierarchische Steuerung. Die Machtausübung erfolgte unter komplexen Einflüssen, als permanente vertrauliche Kommunikation und Koordination.

Steinmeier war Teil dieses kommunikativen Machtprozesses. Er fuhr nach München, um mit Seehofer, dem damaligen CSU-Vorsitzenden und Bayerischen Ministerpräsidenten, persönlich abzuklären, ob die CSU den SPD-Kandidaten wählen würde – noch bevor er offiziell seine Kandidatur bestätigte. Da Steinmeier offensichtlich keine verlässliche Antwort von Seehofer erhielt, hielt Steinmeier seine Kandidatur weiterhin offen. Seehofer signalisierte, dass Merkel einen eigenen Kandidaten haben könnte. Der Konjunktiv begleitet jedes Machtspiel. Die parteipolitische Macht, als Spiel zwischen Einfluss und täglicher Machtabsicherung, kennzeichnete jede vorausgegangene Vorbereitung einer Bundesversammlung. Daran war nichts Ungewöhnliches. Gestaltungsvielfalt und verschiedene Machtsorten wurden im Umfeld der Bundespräsidentenwahl sichtbar: Ämterrochaden, koalitionspolitische Signale, Nominierungsmacht, parteipolitische Karrierepfade, kalkulierte Nachrichtenwerte, Aufbau von Vertrauens- und Loyalitätsbindungen.

[1] Vergleiche zur Einordnung und Vertiefung der nachfolgenden Argumentation Korte 2019.

 

 2. Der Bundespräsident zwischen präsidentieller Macht und Wiederwahl

Der nominierte und schließlich gewählte Bundespräsident Steinmeier war in den Wochen vor der Bundesversammlung 2017 nur ein Akteur unter wenigen potenziellen Kandidaten. Doch im Moment seiner Wahl wird aus der parteipolitischen – immer relationalen Macht zu anderen Akteuren – eine präsidiale Macht, die andere Quellen hat als diejenigen, die der Machtlogik von Parteien zuzuordnen sind. Die Machtquellen unterscheiden sich zwischen den parteipolitischen Ämtern und dem Präsidialamt. Präsidiale Macht erkennt man nicht an einer weltmeisterlichen Tagesintegrationsleistung. Diese muss der Bundeskanzler täglich aufbringen. Bundespräsidenten setzen keine Regeln durch, verteilen kein Geld und lösen operativ keine Probleme. Wer nicht regiert, braucht die Gefolgschaft nicht permanent zu zählen. Das macht unabhängig und gestaltungsfrei.

Die Unabhängigkeit eines Bundespräsidenten gipfelt im einzigen Eigeninteresse „bella figura“ im Amt zu machen. Der Blick auf die zweite Amtszeit bleibt sicher auch ein leitendes Motiv, manchmal sogar eine Frage des Prestiges. Die Resonanz auf die jeweiligen zweiten Amtszeiten von Heuss, Lübke, von Weizsäcker und Köhler waren bescheiden, gemessen an den ersten. Viel spricht insofern dafür, die Amtszeiten der Bundespräsidenten zu verlängern – ohne Wiederwahl-Option. Der Ausbau der persönlichen Autorität im Amt hängt unmittelbar auch mit der ausstrahlenden Unabhängigkeit und Souveränität des Amtsinhabers zusammen. Wie frei, unabhängig, mahnend, ermunternd, kritisierend fallen die Reden aus, wenn jede Aussage auch auf ein Wiederwahlszenario ausgerichtet sein könnte? Die mögliche Wiederwahl ist in der Regel machtstrategisch abgesichert, schlicht durch Mehrheiten der Parteifarben, die den Amtsinhaber ins Amt gehievt hatten. Das war 2021 noch nicht absehbar, als Steinmeier früh seine erneute Kandidatur für eine zweite Amtszeit in den Ring warf.

Dennoch, ein Verdacht bleibt: Könnte eine Antizipation der spezifischen Gestimmtheit der Bundesversammlung Auswirkungen auf die Redevorbereitung als Bundespräsident haben? „Antizipationen sind Ausgriffe ins Unsichere“ (Luhmann 2017: 461), wie uns die Systemtheorie lehrt. Die berühmte Schere im Kopf könnte der Formulierung des Konsenses Vorschub leisten und das Widerständige vernachlässigen. Sind auch so Steinmeiers Einlassungen zur Klimapolitik, der er seit einiger Zeit besondere Bedeutung beimisst, einzuordnen?

Machterhalt mit Wiederwahlabsicht gehört sicher nicht zu den Hauptantriebsmomenten der Bundespräsidenten. Ihnen geht es mehr um den Erhalt von Autorität, Aura und Prestige als um parteipolitisch motivierte Machterneuerung. Präsidiale Macht als Gestaltungspotenzial hängt keineswegs von der Höhe der Zustimmung in der Bundesversammlung oder gar der Anzahl der Wahlgänge ab. Eher sind langfristige Loyalitätsbindungen an diejenigen, die einen ins Amt gebracht haben, zu berücksichtigen. Das Potenzial bleibt darüber hinaus immer abhängig vom politischen Aktualitätsdruck, der beispielsweise bei instabilen Mehrheiten den Präsidenten unweigerlich auf den Plan ruft.

 

3. Die Besonderheiten der 17. Bundesversammlung 2022: Wählen  auf mehreren Ebenen

Wenn am 13. Februar 2022 in Berlin die Bundesversammlung zusammentritt, dann ist das ein Nachspiel zur fünf Monate zurückliegenden Bundestagswahl. Um nicht im parteipolitischen Wettbewerb unterzugehen, nominierte Steinmeier sich selbst im Mai 2021 für eine zweite Amtszeit. Solche Bewerbungen für zweite Amtszeiten waren nie ungewöhnlich, wenn eine klare Mehrheit bereits erkennbar schien. Aber noch nie ist ein Bundespräsident für eine zweite Amtszeit angetreten, ohne eine realistische Vorstellung davon zuhaben, auf welche Mehrheit er sich stützen kann. Steinmeiers Kalkül ging auf. Die neue Ampel-Koalition unterstützt seine Kandidatur und auch die Unionsparteien werden zum dritten Mal hintereinander keinen eigenen Kandidaten ins das Rennen schicken. Die Grünen hatten lange gehadert, ob nicht doch mit einer Kandidatin ein besonderes Zeichen gesetzt werden sollte. Frauen waren bislang immer in der Geschichte der Bundesversammlungen nur Zählkandidatinnen. Sie wurden nominiert, ohne dass jeweils eine realistische Chance auf eine Mehrheit bestand. Mit der Nominierung einer Frau hätten die Grünen ein Zeichen gesetzt, in Abgrenzung zu Steinmeier, den sie 2017 noch unterstützten. Ein schwieriges Unterfangen. Es wäre ohne Aussicht auf Mehrheit erneut eine Art von Pseudofeminismus gewesen. Zumal: Wie würde die erste Wahl nach der Bundestagswahl eingeordnet, wenn die Ampel nicht einheitlich votieren würde? Wieviel an Startatmosphäre ginge verloren, wenn sich die Ampel nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag hätte einigen können? Insofern ist von einer sehr breiten Mehrheit bereits im ersten Wahlgang bei der kommenden Bundespräsidentenwahl auszugehen.

Zu den Besonderheiten gehört zweifellos das Wählen in der Pandemie. 1.472 Wahlfrauen und Wahlmänner sind für den 13. Februar 2022 im Reichstag nicht unterzubringen, wenn man das Corona-Ansteckungsrisiko minimieren möchte. Es ist die größte Bundesversammlung in der Geschichte der Bundesrepublik, was mit der gewachsenen Größe des Bundestags zusammehängt. Erstmals findet die Wahl deshalb auf fünf unterschiedlichen Etagen des Paul-Löbe-Hauses statt.

Zwei Amtszeiten gehören zu den Ausnahmen bei den bislang zwölf Bundespräsidenten. Nur Heuss, Lübke, von Weizsäcker und Köhler traten zweimal an. Köhler gab jedoch bereits ein Jahr nach der Wiederwahl auf. Steinmeier wäre somit der fünfte Bundespräsident mit einer zweiten Amtszeit. Der erste Wahlgang reichte bislang aus für Heuss (Wiederwahl), Lübke (Wiederwahl), Scheel, Carstens, von Weizsäcker (bei beiden Wahlen), Köhler (bei beiden Wahlen), Gauck und Steinmeier (vermutlich für beide Wahlen).

 

4. Perspektive 2025

Auch Der Bundespräsident repräsentiert nach innen und außen, wofür Deutschland als Ganzes steht. Ein Solitär, der frei und einsam wirkt. Das Grundgesetz hat ihn formell mit Kompetenzarmut ausgestattet. Sie prädestiniert ihn, Repräsentationsaufgaben als Symbol der staatlichen Einheit effektvoll wahrzunehmen. Als Ausdruck zeremonieller Würde des Staates nutzt der Bundespräsident Symbole und Rituale. Das Protokoll übersetzt mit reduziertem Formenkanon die Aura des Präsidenten. So entsteht nonverbale Gemeinschaft ohne Kommunikation. Sie steht radikal unter Druck in Zeiten der Digitalmoderne. Denn das Leben in Echokammern forciert eine Kommunikation ohne Gemeinschaft (vgl. Han 2019). Das Echo des Selbst folgt in der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) dem Individualwohl. Bundespräsidenten müssen von Amtswegen Resonanzgemeinschaften schaffen, die Gemeinwohl konstituieren. Das ist extrem schwierig. Wie erzählt sich Demokratie? Der Bundespräsident verfügt über enorme Potenziale für politische Gestaltungsmacht – abseits der formellen Anordnungen und Verfügungen[2] –, gerade wenn zum elitär wahrgenommenen kosmopolitischen Liberalismus auf der einen Seite und zum neuen radikalen völkischen Autoritarismus auf der anderen Seite verstärkt Geschichten zum Minimal-Konsens unserer Demokratie überall wirkungsmächtig erzählt werden müßten.

In der Pandemie ist das Trommeln für den Gemeinsinn geradezu lebensrettend.[3] Wenn das gemeinsame öffentliche Handeln in einer Demokratie über so lange Zeit nicht möglich ist, brauchen wir umso mehr Institutionen, die sich für Gemeinsinn hauptberuflich einsetzen. Sorge und Schutz als zentrale Aufgaben des Staates und der Regierung sind wieder ins Zentrum gerückt. Der Bundespräsident agiert für die Fürsorge füreinander und miteinander, er arbeitet am sozialen Band. Nie war das so wichtig wie in der Coronapolitik. Denn nur solidarisch handelnd bestand die Chance zum gemeinsamen Überleben. Das blieb selbstverständlich immer auch umstritten. „Wir-heit“ ist in partikularen, aufgewühlten Gesellschaften nicht leicht herstellbar.

Zivilisierter Streit ist auch notwendig, wenn zu klären ist, wie wir Marktmacht für Zwecke des Gemeinwohls zukünftig limitieren. Damit sind nicht nur Phänomene des Datenkapitalismus gemeint, sondern auch potenzielle Enteignungs- und Vergemeinschaftungsideen, wie es das Grundgesetz durchaus vorsieht. Auch eine politische Wende zum Weniger, für die immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bereit sind, um das Leben enkelfähig zu erhalten, bedarf einer Gemeinwohlorientierung. Gesellschaftliche Umbruchphasen gelingen nur mit transparenter Verständigung darüber, wie eine Transformation gerecht zu gestalten ist. Der Bundespräsident könnte die Kosten und Nutzen dieses Umbaus benennen.

Gemeinwohl ist nicht statisch. Es ist Leitschnur für ein Handeln, das nicht nur das eigene, sondern immer auch das Wohlergehen der anderen zum Ziel hat.[4] Gemeinwohl stiftet demokratischen Zusammenhalt. Sie ist die Orientierungsidee jeder Res publica: das republikanische Wir. Dabei bleibt offen, worauf sich das Wir bezieht. Wo endet das gemeinsame Wir? Das ist die Schlüsselfrage für das Regieren in der Einwanderungsgesellschaft (vgl. Bieber u.a. 2017). Über die Arten der Belastungen moderner Solidarität muss gestritten werden. Der Bundespräsident könnte eine inspirierende Integration durch organisierten Dissens einbringen.

Was charakterisiert die präsidiale Gestaltungsmacht des Bundespräsidenten, die er zur Formung des Gemeinwohls einsetzen könnte? Das erste Gesicht der Macht bezieht sich auf instrumentelle Möglichkeiten – „hard power“, die man auch gegenüber anderen durchsetzen kann. Das zweite Gesicht blickt auf strukturelle Dimensionen – viele Arten von Nicht-Entscheidungen. Der Präsident kann mit weicher Macht Wirkungen entfalten, auch ohne konkrete Entscheidungen zu treffen. Das dritte Gesicht der Macht kreist um smarte, diskursive Macht. Sprachgewinn ist Machtgewinn. Auch für Bundespräsidenten, zumal das Hauptinstrumentarium für Gestaltung kommunikativ angelegt ist: die Präsidentenrede. Die Dosis der drei Machtsorten variiert. Präsidentielle Gestaltungspotenziale erwachsen aus der Unsicherheit unter Regierungsmitgliedern, Parlamentariern oder Journalisten, ob der Präsident bereit ist, Gestaltungsmacht einzusetzen. Sie ist latent und potenziell vorhanden. Sie kann sich paradoxerweise erst dann voll entfalten, wenn die Weisheit den Amtsinhaber vor unmittelbarem Gestaltungsdrang schützt. Möglichkeitsmacher schaffen Gestaltungsräume, welche die exekutive Politik für operative Maßnahmen nutzen kann. Präsidiale Gestaltungsmacht steigert im Idealfall die Qualität der Demokratie. Sie spiegelt sich in der Bibel des Verfassungsstaates, dem Grundgesetz. Der Verfassung gilt die Haupt- und Leitverantwortung des Bundespräsidenten. Er verkörpert das Primat der Politik. Die Wiedergewinnung des Politischen sollte ihn antreiben: abseits vom Mainstream, befreit vom Parteienhader, losgelöst von Einzelinteressen, unabhängig von Mehrheiten, frei von Sachzwängen. Eine aufklärende Suche nach dem Verbindendem, dem Gemeinwohl, ohne die Vielfalt und die Legitimität von Einzelinteressen zu ignorieren.

Die vielen Möglichkeiten dieses „Ein-Mann-Organs“ reizen die politische Phantasie. Es wirkt so aus der Zeit gefallen. Kann man mit Reden einer chronisch verunsicherten Bevölkerung neue Zuversicht geben? Ist es dem Bundespräsidenten möglich, dem demokratischen Verfassungsstaat eine spirituelle Aura zu verleihen, die Halt und Orientierung gibt?

Präsidiale Macht speist sich zu einem großen Teil aus Mutmaßungen. Mitspieler der Berliner Republik behandeln den Bundespräsidenten so, als ob er formale Macht hätte, wohlwissend, dass dies nur eingeschränkt gilt. Andernfalls müsste er sich vor Marginalisierung schützen, denn im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Macht würden sie versuchen, ihn klein zu halten. Da er aber nur wenig zu entscheiden hat, sind sie bereit, ihm unvoreingenommen zuzuhören: ein wechselseitiges Wohl-Wollen. Als-ob-Macht ist nicht metrisch. Sie verbleibt im politischen Möglichkeitsraum. Präsidenten sind Beziehungsgrößen, stellen Verbindungen her, gründen Narrativ- und Diskursallianzen. Präsidenten gehören zur Deutungselite, deren Vertreter sich nur punktuell in das Tagesgeschäft der Entscheidungselite und ihrer machtbewehrten Interessendurchsetzung einmischen. Aber prinzipiell können und sollten sie es, wenn die demokratische Kultur beschädigt oder gar die demokratische Ordnung des Grundgesetzes angegriffen wird. Die verschiedenen Gesichter der Macht ermöglichen Reden mit einer eigenen, einer anderen Verbindlichkeit. Bundespräsidenten sind Politiker aus eigenem Recht.

In welchen Rollenmustern drückt sich die kommunikative Gestaltungsmacht aus, die zur Bildung von Gemeinwohl genutzt werden könnte?

 

Meinungsbildner

Bundespräsidenten können öffentliche Meinungen prägen. Jede tagespolitische Einmischung ist dabei eine Meinungsäußerung. Wenn sich Bundespräsident Steinmeier auf dem DGB-Kongress 2018 gegen das bedingungslose Grundeinkommen aussprach, dann ist das eine Parteinahme. Ob daraus Meinungsführerschaft erwächst, hängt von medialen Resonanzverstärkern ab, die nicht kalkulierbar sind. Wer auf kurzfristigen Interventionsruhm aus ist, verliert dabei. Meinungsbildung als präsidiale Aufgabe bedeutet keineswegs nur, den vorhandenen Meinungskonsens abzubilden. Präsidiale Meinungsführerschaft verläuft auch über Deutungsautorität, die mit den großen, vielbeachteten Reden, wie der zum 8. Mai 1985 von Bundespräsident Weizsäcker oder auch der sogenannten „Ruck“-Rede von Bundespräsident Herzog, erfolgten. Orientierende Meinungsbildung stiftete beispielsweise auch der Satz von Joachim Gauck im Zuge der Flüchtlingsdebatte: „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich.“

Meinungsbildner sind auch immer in der Lage, die Urteilsfähigkeit mit komplexen Argumenten zu stärken. Präsidenten haben die Chance, das Rationalitätsniveau der öffentlichen Diskurse zu heben. Dabei bleibt die schlichte, aber schwer zu beantwortende Frage jeder Meinungsbildung: Wie erzählt sich Demokratie?

Gestaltungsmacht der Meinungsbildner setzt Glaubwürdigkeit der Amtsinhaber voraus. Als Meinungsbildner sind sie immer auch zugleich Debattenöffner. Steinmeier hat bislang keine so markante öffentliche Rede gehalten, die sich mit Versatzstücken für Geschichtsbücher verselbständigte. Aber zur Meinungsbildung hat er vor allem auch in der Pandemie mit Taten beigetragen, um das Spektrum unterschiedlicher Betroffenheiten offen zu halten. Auch der Gedenktag für die Opfer der Pandemie ging auf seine Initiative zurück. Die erste öffentliche Video-Ansprache des Bundespräsidenten an Ostern 2020 – unabhängig von seiner Weihnachtsansprache – setzte Akzente, um die Bürger weiterhin zu Zusammenhalt und Geduld aufzufordern.

 

Versöhnungsstifter

Als Symbol der Einheit des Staates muss der Bundespräsident Integrations- und Repräsentationsaufgaben wahrnehmen. Er ist Interpret des Gemeinwohls, trotz radikaler Pluralität in einer ausdifferenzierten Gesellschaft mit einer extrem fragmentierten Öffentlichkeit. Die Rahmenbedingungen hatten sich durch die Pandemie sowohl formal als auch inhaltlich grundlegend verändert. Ein reisender Bundespräsident, der im permanenten Austausch mit den Bürgern steht, war durch die Pandemie ausgebremst. Er mußte Trost via Videobotschaften streamen. Eine volllkommen neue Rolle im Alltag des Bundespräsidenten. Steinmeier sah sich zu Beginn der Pandemie seiner wichtigsten Wirkungsmöglichkeiten beraubt. Auch die Themenpalette änderte sich in der „Coronakratie“ (Florack/Korte/Schwanholz 2021) maßgeblich. Für Impfen werben und gleichzeitig die Impfgegner nicht selbst radikal ausgrenzen, ist eine schwierige Aufgabe. Steinmeier hat offensiv diejenigen bekämpft, die sich in seiner Amtszeit gegen die liberale Demokratie gestellt haben. Gleichzeitig ist er, soweit es möglich war, dorthin gefahren, wo die Kritiker sitzen oder Minderheiten attackiert wurden. Er hat Einladungsformate im Schloss Bellevue kreiiert, die viel Resonanz und Beachtung fanden.

Der Bundespräsident ist Brückenbauer zwischen Politik und Bürgern, zwischen denen offensichtlich Gesprächsstörungen bestehen. Er sollte für einen demokratischen Grundkonsens werben. Je polarisierter eine Gesellschaft ist, desto mehr Versöhnungsverantwortung hat er: zwischen „oben und unten“ sowie zwischen „denen und uns“. Mit der Re-Politisierung der Gesellschaft ging in den letzten Jahren auch die Polarisierung der Gesellschaft einher.

Ein Abbild dieser politischen Gräben findet sich in den Parlamenten wieder. Der Bundespräsident kann keine Verkörperung des Restkonsenses sein. Aber als Politikermöglicher sollte er den Weg weisen, das Verbindende zu suchen, das Auseinanderdriften zu minimieren, als Repräsentant aller Deutschen. Das gilt auch gerade für „vergiftete“ Themen, wie etwa Islam, Migration, Eliten und Veränderung/Transformation. Die Parteien scheuen Themen, die sich aus sehr unterschiedlichen Gründen nicht zur Mobilisierung eignen, sei es, um die Gefolgschaft nicht zu verunsichern oder eine massive Gegenmobilisierung zu verhindern. Der Bundespräsident muss alles benennen können, weil er dem politischen Wettbewerb enthoben ist. Sein kommunikatives Machtdesign verpflichtet ihn zur inspirierenden Integration – ohne Themenscheu. Das ist oft eine schwierige Gratwanderung: Gaucks Herzmetapher versöhnte präsidial; Wulffs Islam-Satz spaltete parteipolitisch. Ihm blieb wenig Zeit, um das integrativ zu begleiten. So kann der Bundespräsident Themen zur Sprache bringen, die auf dem Forum der Öffentlichkeit sonst untergehen. Er bildet so auch eine Kompensation zu anderen Verfassungsorganen, manchmal auch Gegengewichte zur Regierung.

 

Zivilitätswächter

Als Mit-Hüter der Verfassung sind Bundespräsidenten verpflichtet, für die „Würde des Menschen“ zu kämpfen. Ein Rückzug darauf, nur ranghöchster Essayist zu sein, verspielt die Substanz einer inhaltlichen Gestaltungsmacht als Zivilitätswächter. Die aktuellen Befunde sind eindeutig: Unsere Gesellschaft ist ängstlich und verunsichert. Es fehlt Globalisierungsvertrauen. Das wundert nicht angesichts der Globalisierungs-Pandemie. Die Kluft zum entfesselten Tempo der Globalisierung speist unweigerlich die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Zeitgleich wächst die Angst vor dem Verlust des gesellschaftlichen Status. Das heizt die Spirale der Ausgrenzung an. Die Versuchung des Autoritären nimmt zu, die Sehnsucht nach einer ordnenden politischen Kraft ebenso. Dabei scheint es immer schwieriger zu werden Verschiedenheit auszuhalten. Ambiguitätstolerenz schwindet. Abweichungstoleranz – als gelebter Pluralismus – geht verloren. So wächst dem Bundespräsidenten die Rolle des Zivilitätswächters zu: Er muss für die zivilisatorischen Standards der liberalen Demokratie kämpfen. Er muß weiterhin darauf achten, dass das Grundgesetz die Gesundheit nicht höher als die Freiheit bewertet.

Zivilitätswächter sind demokratieversessen. „Robuste Zivilität“ (Garton Ash) kann vom Amt des Bundespräsidenten ausgehen. Er betreibt diskursiv Legitimitätspolitik im Sinne des Grundgesetzes. Er ist Demokratieverteidiger. Wenn Bundespräsident Steinmeier sich tagespolitisch gegen AfD-Redepassagen einlässt, agiert er als Zivilitätswächter. Das kommt dann angesichts der Verletzung demokratischer Spielregeln einer demokratischen Abmahnung gleich. Autorität und Glaubwürdigkeit erhält der Zivilitätswächter allerdings nur, wenn er diese Abmahnungen in alle parteipolitischen Lager versendet – nicht nur gegenüber der AfD. Er muss Minderheiten und Menschenrechte schützen – von allen Menschen in Deutschland.

Dass der Zivilitätswächter als Demokratielotse immer auch Themen deutscher historischer Schuld problematisiert, gehört mit zu seiner Leitverantwortung, wenn er über Deutschland spricht und die Erinnerungskultur wachhält. Hier hat Steinmeier an den entsprechenden Jahrestagen beachtenswerte Akzente mit Reisen und Reden gesetzt. Kritik mußte er sich gefallen lassen, als in Erfurt ein Ministerpräsident erstmals mit Stimmen der AfD gewählt wurde. Der Tabubruch von Erfurt wäre ein gutes Beispiel gewesen, nicht nur zu Warnen, sondern seine Autorität auch mit „Abmahnungen“ an diejenigen zu erweitern, die antidemokratisches Verhalten komplizenhaft in Erfurt unterstützten.

Weiterdenker

Wer einladend-berufende Kraft jederzeit einsetzen kann, sollte den wissensbasierten Think Tank Bundespräsidialamt auch nutzen. Die Wiedergewinnung des Politischen abseits parteipolitischer Interessen und Mehrheiten verleitet zur entschleunigten Zukunftsfähigkeit. Weiterdenker protzen mit der Souveränität der Langsamkeit. Wir haben dem Bundespräsidenten verfassungsrechtlich viel Freiraum gelassen und können deshalb als Bürger auch Ergebnisse jenseits des Gewöhnlichen erwarten. Bundespräsidenten sind ein „One Man House of Lords“, eine präsidiale Akademie des Wissens, eine Zeitoase, ein Reputationsort. Wer Zeit- und Wissensressourcen hat, verfügt über Dispositionsmöglichkeiten der Freiheit. Daraus könnte eine Leitverantwortung erwachsen: origineller querzudenken, riskant zu denken, überraschend sanft zu provozieren, smart anzustupsen („nudging“), verblüffend gegen den Mainstream zu reden, Probehandeln im Geiste anzubieten, Kontingenz-Kompetenz gedanklich auszuspielen. Dazu könnte auch gehören, in modernen Risikogesellschaften für eine Verunsicherungsfähigkeit zu werben. Daraus erwächst eine Zuversicht, mit den Überraschungen des politischen Lebens souveräner umzugehen.

Kein Think Tank kann die Zukunft voraussehen. Niemand sollte sich anmaßen zu sehen, was kommt. Aber der „Weiterdenker“ muss nicht sehen, was eine Gesellschaft will oder was auf sie zukommt, sondern eher, was sie glaubt erwarten zu können. Dann verstehen wir auch eher, in welche Richtung sich die Entwicklung dreht. Wie bleibt die politische Zukunft offen? Darauf sollten Weiterdenker antworten.[5] Denn Gesellschaften leben nicht allein von der Gegenwart, sie haben einen enormen Bedarf an Zukunftserwartung. Das Problem liegt darin, dass sich dabei der Erfahrungsraum immer weiter vom Erfahrungshorizont entfernt, wie es die Historiker umschreiben: Erfahrungen aus der Vergangenheit sind immer weniger in der Lage, als Grundlage für zukünftige Erwartungen zu fungieren.

[2] Dazu ausführlich Korte 2019.

[3] Grundsätzlich dazu Florack/Korte/Schwanholz 2021.

[4] Anwendungsbezogene Beispiele dazu finden sich auch bei Welzer 2019; grundsätzlich zur politikwissenschaftlichen Einordnung des Begriffs vgl. Schmitt-Egner 2015 und Strünck 2014.

[5] Dazu eine aktuelle Publikation aus Schloss Bellevue: Steinmeier 2022.

 

5. Erwartungen an die zweite Amtszeit: Ein Präsident für Veränderungspatriotismus

Auch in der zweiten Amtszeit bieten die vier Rollenprofile unterschiedliche Möglichkeiten präsidialer Gestaltungsmacht. Vor Überforderung des Amtes muss jedoch ebenso gewarnt werden wie vor Überhöhung des Bundespräsidenten. In der Regel hinterließen die Amtsinhaber in der zweiten Amtszeit weniger Spuren. In den ersten fünf Jahren hatten die Präsidenten bislang ihre wichtigsten Reden gehalten und prägnantesten Botschaften gesetzt.

Steinmeier hat fehlerlos profund agiert, was in allen Lagern auch bestätigt wird. Als Kanzlermacher hat er gleich zu Beginn seiner Amtszeit seine präsidiale Reservemacht eingesetzt und die blockierte Regierungsbildung aufgelöst. Seine Stärken sind konzeptionell, im Denken, in seiner Beharrlichkeit und den kleinen Gesten. Er hatte Probleme, zunächst angemessen auf die Pandemie zu reagieren, da er immer noch operativ denkt und kein Zuschauer der Krise sein wollte. Er fand schließlich in der Begleitung der verschiedenen Phasen der Coronapolitik seine diskursive Lücke.

Der Bedarf an präsidialer Orientierung ist in Zeiten des Gewissheitsschwundes nicht geringer geworden, aber die Möglichkeiten, zum Player in der Mediendemokratie zu werden, sind zeitgleich begrenzter. Als Merker, Meinungsmacher, Moralisten gehören Bundespräsidenten idealerweise zu den Reflektoren gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie sind in dieser Rolle außeralltäglich unverzichtbar. Sie können dazu alle drei Gesichter der Macht nutzen.

Wieviel demokratischer Trotz müsste vom Bundespräsidenten zukünftig zu hören sein, um die Qualität der offenen Gesellschaft zu sichern? Die Pandemie hat die Textur des Sozialen stark unter Druck gesetzt. Gesellschaftspolitische Risse sind in der Republik sichtbar. Der Bundespräsident wird „hard power“ einsetzen müssen, um den Ansätzen einer post-legalen Politik – auch im bürgerlichen Lager – Einhalt zu gebieten. Wenn das postheroische Zeitalter sich dem Ende zuneigt, die Sehnsucht nach starker Führung wachst, öffnen sich zusätzliche Handlungsräume für den Bundespräsidenten. Auf die Rolle des Staatsnotars kann er sich dann nicht zurückziehen. Für das Gefühl der Grundgeborgenheit im Rechtsstaat muss er sich aktiv einsetzen. Nur verteidigen reicht dabei nicht aus. Neue Gestaltungsideen zum institutionellen Setting könnten notwendig werden, wenn eine wachsende Minderheit durch Regelverletzungen, nationalistisches Gehabe, völkischen Populismus, gewaltbereite Impfgegnerschaft und aggressive Formate den Zusammenhalt der Gesellschaft in verhetzter Atmosphäre angreifen.

Die Dosis an „soft power“ könnte ebenso zunehmen. Was der Bundespräsident hinter den Kulissen, ohne öffentlich sichtbare Entscheidungen, erwirkt – die verborgene Macht –, bleibt im Spiel mit anderen Verfassungsorganen wichtig – vor allem im dialektischen Zusammenspiel mit dem immer sichtbaren Bundeskanzler. Mit Merkel lief Steinmeier machtpolitisch im Gleichschritt. Merkel agierte mit ihrer gradualistischen Politik als Kanzlerpräsidentin. Sie war unfähig als Person zu polarisieren. Sie nahm auch nichts persönlich. Steinmeier punktete zeitgleich als Präsidialkanzler. Immer häufiger musste er sich öffentlich und nicht-öffentlich im Tagesgeschäft zu Wort melden und auch Regierungsvertreter maßregeln. Reicht es zukünftig aus, deeskalierend und unaufgeregt zu steuern? Merkels Nachfolger Olaf Scholz agiert mit „merkeligem Sicherheitsgefühl“, für das er gewählt wurde. Er selbst ist auch kein großer Erzähler, sondern Pragmatiker des Augenblicks. Wie er führt muss sich erst noch zeigen. Aber seine nüchterne Art unterscheidet sich nicht maßgeblich von Steinmeier.

Wo ergibt sich möglicherweise daraus ein neuer Gestaltungsspielraum für Steinmeier? Auch er müsste in eine Rolle wachsen, die Transformation mit zu begleiten, wenn es die augenscheinlich dringlichste Aufgabe der Politik ist. Die Veränderungen werden zwangsläufig unsere gesamte Lebenswelt, unsere Praktiken und auch Gewohnheiten systematisch ändern. Die Dimensionen eines sozial-ökologischen Umbaus sind gigantisch. Um eine inklusive Transformation klug zu gestalten, reichen nicht nur Narrative aus. Es sollte kommunikativ inklusiv, politisch stets partizipativ und sozial gerecht solidarisch organisiert werden. Nur so kann dem Karlsruher Urteil zur Klimapolitik entsprochen werden, ein Rechtsanspruch auf die Zukunft der Freiheit. Steinmeiers Begleitung des demokratischen Settings hätte einen neuen Fixierpunkt. Denn neue Modelle der Willensbildung, Responsivität und Partizipation sind nötig, wenn notwendig reformiertes Planungsrecht zwangsläufig zu deutlichen Einschränkungen der Basis-Demokratie führen muss.

Und eine zweite Aufgabe könnte sich stellen: Die sozial-ökologische Transformation kann nur mit spektakulären Zumutungen für die Bürgerinnen und Bürger gelingen, die im Wahlkampf 2021 keine Rolle spielten. Der Bundespräsident könnte mit dazu beitragen, nicht nur sozial abgewogene Zumutungen zu legitimieren, sondern auch sich als Anwalt für transparente Erklärungen zeigen. Wie befristet sind die Zumutungen? Wodurch wird es verlässlich besser? Wie enkelfähig sind die politischen Entscheidungen? Der Bundespräsident sollte als Bürgerpräsident die Antworten seitens der Parteipolitik und der Regierung provozieren. Aber auch das Unvereinbare benennen könnte dazugehören. Denn Politik ist nicht nur die Kunst des Möglichen, sondern auch durchaus die Sichtbarmachung des Unvereinbaren. Als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger bei der Begleitung der Transformation liegen neue Gestaltungspotenziale für Steinmeier.

Die Kritik an Steinmeiers erwartbarer Wiederwahl und die geringe öffentliche Begeisterung an seiner Nominierung hingen mit der Konstellation der Transformation zusammen. Medial forderten einige parallel zum Aufbruch durch die Ampel auch ein personalisiertes Aufbruchs- und Veränderungssignal aus dem Schloss Bellevue. Es sei eher ein Zeichen des Weiter-So als der notwendigen Dynamik des Aufbruchs. Insofern könnte sich Steinmeier profilieren, wenn er sich in der zweiten Amtszeit veränderungspatriotisch zeigt, und den Deutschen die Angst vor Veränderungen nimmt.

Das Amt des Bundespräsidenten bleibt robust, wenn man etwas daraus macht. Wir sollten es als Bürger erwarten. Der Bundespräsident muss in einer angegriffenen Demokratie liefern – mit Themen, aber auch mit Respekt, Takt und Zivilität. Die verschiedenen Gesichter der Macht ermöglichen es ihm.

Literatur

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Florack, Martin / Korte, Karl-Rudolf / Schwanholz, Julia (Hrsg.) (2021): Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten. Frankfurt am Main.

Han, Byung-Chul (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Berlin.

Korte, Karl-Rudolf (2019): Gesichter der Macht. Über die Gestaltungspotenziale der Bundespräsidenten. Frankfurt am Main.

Korte, Karl-Rudolf / Schoofs, Jan (Hrsg.) (2019): Die Bundestagswahl 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden.

Luhmann, Niklas (2017): Systemtheorie der Gesellschaft. Frankfurt am Main.

Schmitt-Egner, Peter (2015): Gemeinwohl. Baden-Baden.

Steinmeier, Frank (Hrsg.) (2022): Zur Zukunft der Demokratie. 36 Antworten. Berlin.

Strünck, Christoph (2014): Gibt es ein Recht auf Gemeinwohl? Wiesbaden.

Schwarz, Hans-Peter (2012):  Helmut Kohl. Eine politische Biographie. München.

Welzer, Harald (2019): Alles könnte anders ein. Frankfurt am Main.

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