Der Forschungsschwerpunkt Parteitagsforschung an der NRW School of Governance: Motive und Impulse für eine moderne Parteitagsforschung

Dr. Ray Hebestreit ist Forschungskoordinator an der NRW School of Governance und Koordinator des Studiengangs Bachelor Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

Die Bundesrepublik Deutschland wird oft als Parteiendemokratie bezeichnet. Diese Bezeichnung deutet auf die besondere Bedeutung und die zentrale Stellung von Parteien im politischen System der Bundesrepublik hin. Dies unterscheidet Deutschland von vielen anderen Staaten, auch aus der Reihe westlicher Demokratien, in denen Parteien keine solch hervorgehobene Rolle spielen. Ein augenfälliges Beispiel sind etwa die USA.

Der Forschungsschwerpunkt Parteitagsforschung an der NRW School of Governance: Motive und Impulse für eine moderne Parteitagsforschung

 

Autor

Dr. Ray Hebestreit unter Mitarbeit von Isabelle Borucki, Sandra Plümer, Philipp Richter, Maximilian Schiffers und Kristina Weissenbach

 

Die Bundesrepublik Deutschland wird oft als Parteiendemokratie bezeichnet. Diese Bezeichnung deutet auf die besondere Bedeutung und die zentrale Stellung von Parteien im politischen System der Bundesrepublik hin. Dies unterscheidet Deutschland von vielen anderen Staaten, auch aus der Reihe westlicher Demokratien, in denen Parteien keine solch hervorgehobene Rolle spielen. Ein augenfälliges Beispiel sind etwa die USA.

Die besondere Bedeutung von Parteien im politischen System Deutschlands wird bereits im Grundgesetz fassbar. Dort heißt es in Artikel 21, Absatz 1: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Und weiter: „Ihre innere Ordnung muß [sic] demokratischen Grundsätzen entsprechen.“ Hier findet sich ein erster Hinweis auf das Demokratieprinzip, welches für Parteien in Deutschland konstitutiv ist und das sich unter anderem in die konkrete Ausgestaltung der Willensbildung und Entscheidungsfindung innerhalb der deutschen Parteien übersetzt.

Die formale Rahmung für Parteien in der Bundesrepublik gibt das deutsche Parteiengesetz (Gesetz über die politischen Parteien, PartG) von 1967 vor. Demgemäß sind Parteitage das oberste Organ der Parteien in Deutschland: „Die Mitglieder- oder Vertreterversammlung (Parteitag, Hauptversammlung) ist das oberste Organ des jeweiligen Gebietsverbandes.“[1] Des Weiteren heißt es dort: „Die Parteitage treten mindestens in jedem zweiten Kalenderjahr einmal zusammen.“ (PartG §9, Abs. 1) Das Parteiengesetz definiert in Paragraf 9 zudem die Aufgaben bzw. Kompetenzen von Parteitagen. Diese beschließen demnach über Parteiprogramme, Satzung, Beitragsordnung, Schiedsgerichtsordnung, Auflösung oder Verschmelzung mit anderen Parteien (Abs. 3); sie wählen unter anderem die/den Vorsitzende/n, die Stellvertreter und übrigen Mitglieder des Vorstands sowie Vertreter in die Organe übergeordneter Gebietsverbände (bspw. Delegierte aus den Ländern für den Bundesparteitag) (Abs. 4); sie nehmen den Tätigkeitsbericht des Vorstands entgegen (inklusive Prüfung der Parteifinanzen) und beschließen über diesen (Abs. 5; siehe auch Kaack 1971: 380).

Für die Parteien – und die (Medien-)Öffentlichkeit – erfüllen Parteitage unterschiedliche Funktionen. Ging Dittberner 1968 noch von drei „Funktionen westdeutscher Parteitage“, so der Titel seines grundlegenden Beitrags, aus, namentlich der Wahlkampffunktion (nach innen und außen), der Integrationsfunktion und der Führungsfunktion, so erweiterte Kaack dies auf insgesamt fünf Funktionen: personelle Entscheidungsfunktion, sachliche Entscheidungsfunktion, Planungsfunktion bzw. Programmfunktion, Werbe- und Wettkampffunktion (nach innen und außen) sowie Integrationsfunktion (nach innen) (vgl. Kaack 1971: 525-530). Drei Jahrzehnte später nahm Müller (u.a. 2002a: 65f.) dies – wenn auch etwas anders nuanciert – wieder auf, ebenso Hebecker (2002), der jedoch – den inzwischen veränderten Kommunikationsmöglichkeiten und der zunehmenden Medialisierung Rechnung tragend – eine sechste Funktion von Parteitagen identifiziert, die quer zu den fünf genannten liegt: die sogenannte Inszenierungsfunktion (241).

Trotz der zentralen Bedeutung von Parteitagen für die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland existiert nur wenig originär politikwissenschaftliche Forschung zu Parteitagen im deutschsprachigen Raum. Deren Wurzeln liegen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren. Danach findet sich nur vereinzelt deutschsprachige Forschung zu Parteitagen aus der Disziplin der Politikwissenschaft – und das bei einem Forschungsgegenstand, der qua Parteiengesetz nicht nur periodisch, sondern auch in ungewöhnlich kurzen Abständen regelmäßig stattfindet, weit häufiger etwa als Wahlen auf Bundes- oder Länderebene. Am häufigsten findet eine Beschäftigung mit Parteitagen noch in den deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaften statt. Hier liegt jedenfalls ein Desiderat der politikwissenschaftlichen Parteienforschung (so auch jüngst Wiesendahl 2022: 320).

Wieso erscheint eine politikwissenschaftliche Beschäftigung mit Parteitagen vielversprechend? Einige Aspekte und Stoßrichtungen für eine künftige Forschung seien im Folgenden benannt.

  • Auf die zentrale Bedeutung von Parteien für das politische System Deutschlands und von Parteitagen als obersten Organen der deutschen Parteien wurde bereits hingewiesen, ebenso darauf, dass die „Klassiker“ der politikwissenschaftlichen Forschung zu Parteitagen in Deutschland schon vor mehr als fünf Jahrzehnten erschienen. Vor diesem Hintergrund scheinen ihre Wiederbetrachtung, die Weiterentwicklung und Anpassung dieser an das 21. Jahrhundert angebracht. Haben sich Wesen, Aufgaben, Funktionen, Durchführung, Inszenierung, Vermittlung von Parteitagen in den letzten Jahrzehnten verändert? Was macht Parteitage heute, in Zeiten von Medialisierung, Personalisierung, Digitalisierung, Trivialisierung von Politik, von sozialen Netzwerken, verändertem Partizipationsverhalten, einer veränderten Parteienlandschaft – um nur einige Aspekte zu nennen – aus?
  • Zur systematischen Beschreibung, Analyse, für einen Vergleich und die Bewertung von Parteitagen braucht es ein adäquates Instrumentarium. Wie laufen konkrete Parteitage genau ab? Was sagen uns der Ablauf, die Inszenierung, die Entscheidungen von Parteitagen über die innerparteiliche Demokratie bestimmter Parteien? Anhand welcher Kriterien lassen sich Parteitage von Parteien derselben oder unterschiedlicher Parteifamilien – sowohl im nationalen wie auch internationalen Rahmen – vergleichen und bewerten? Welche Rückschlüsse lassen sich hierdurch über das Funktionieren von Parteiendemokratie und die Rolle von Parteien in unterschiedlichen politischen Systemen westlicher Demokratien ziehen? Ein solches Instrumentarium zu entwickeln erscheint als ein lohnenswertes Unterfangen.
  • Anhand der Analyse von Parteitagen lassen sich Aussagen über die jeweiligen Parteien treffen, jedoch darüber hinaus auch über die „Umwelt“, in der Parteien existieren und agieren: beispielsweise das politische System, die politische Kultur, aber auch Vorfeldorganisationen u.Ä. geraten hier ins Blickfeld.
  • In der (international) vergleichenden Perspektive kann eine Forschung zu Parteitagen Erkenntnisse zur Funktion, Rolle und zum Verständnis von Parteitagen in der Querschnitt- und Längsschnittperspektive liefern.
  • Die inhalts- und sprachanalytische Erforschung von Parteitagsdokumenten und -reden verspricht umfassende Erkenntnisse zu Forderungen von und Positionen innerhalb von Parteien, zu Argumentationen, Narrativen, innerparteilicher Willensbildung und Entscheidungsfindung.
  • Über die formalen Abläufe vor und auf Parteitagen kann man sich informieren. Was jedoch im Informellen und Arkanen geschieht, in Absprachen und Hintergrundgesprächen zwischen Akteuren und Gruppen besprochen und vereinbart wird, darüber ist wenig bekannt. Hier würde eine Forschung zum Politikmanagement von Parteitagen ansetzen.
  • Die zunehmende Digitalisierung von Gesellschaft und Politik wurde bereits erwähnt. Welche Auswirkungen hat dies auf Parteitage, konkret in den Dimensionen Organisation, Partizipation und Kommunikation? Die Digitalisierung, insbesondere beschleunigt durch die Corona-Pandemie, hat dazu geführt, dass Parteitage vollkommen digital abgehalten wurden. Dies hatte zwar einerseits den Effekt, dass es für Viele die Möglichkeit der Beteiligung gab, andererseits aber auch bestehende Hürden in Bezug auf technische Fähigkeiten und Möglichkeiten offenbar wurden. In der innerparteilichen Partizipation zeigte sich auch mit Blick auf Parteitage eine erhöhte Bereitschaft über digitale Tools zu kommunizieren, allerdings geht die Unterstützung von Digitalisierungsvorhaben und die Anpassung an neue Arbeitsmodi nicht zwangsläufig miteinander einher. Wahlkämpfe – Zeiten intensivster politischer Kommunikation, in denen eine Vielzahl von Parteitagen stattfinden – sind zunehmend von sozialen Medien als Teil des erweiterten Nutzungsportfolios geprägt und erfordern insofern eine unterschiedliche Herangehensweise und hybride Integration in bekannte Umgebungen.
  • Dass die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung zwischen Parteielite und Parteibasis auf Parteitagen stattfindet ist ein Zeichen institutionalisierter Parteien in Deutschland. Im Vergleich europäischer Parteien ist dies keine Selbstverständlichkeit und für neue Parteien eine Schwelle in ihrem Lebenszyklus. Parteien unterschiedlicher Organisationskultur haben für diesen Zweck unterschiedliche Routinen ausgebildet. Neue Parteien ringen häufig um die Routinisierung dieser Abläufe. Wie unterscheiden sich also Parteitage neuer und etablierter Parteien und welche Bedeutung haben Routinen von Parteitagsabläufen für die weiteren Institutionalisierungsschritte einer jungen Partei?
  • Was lässt sich über die organisatorische Verortung von Parteitagen innerhalb der Parteien heute sagen? Was hat sich hier in den letzten Jahrzehnten verändert und wie?
  • Parteitage können Signalgeber für Policy-Wandel, das heißt inhaltlichen Politikwandel, sein, denn die Diskussionen über Leit- und Einzelanträge geben Aufschluss über bestehende und entstehende Themenschwerpunkte. Doch an welchen konkreten Stellen können welche Wandelprozesse wie beobachtet werden? Ist ein etwaiger Policy-Wandel eher auf veränderte Kernüberzeugungen, strategisch-politische Überlegungen oder Diffusions- und Transferprozesse zurückzuführen und wie wird dieser ausgehandelt? Wie übersetzt sich auf Parteitagen beobachtbarer Policy-Wandel in Partei- und Wahlprogramme, Regierungsagenden und schließlich in tatsächliches Policy-Making im Sinne verabschiedeter Reformen und Gesetze?
  • Parteitage sind zudem Bühne und Kontaktmöglichkeit zwischen Delegierten und Lobby-Akteuren. Verbände, Unternehmen und andere Interessengruppen treten als Sponsoren auf, haben Stände während des Parteitags und tragen über die anfallenden Gebühren zur Parteifinanzierung bei. Dieses Parteitagssponsoring muss allerdings nicht in den Rechenschaftsberichten der Parteien aufgeführt werden. Somit rückt das Spannungsfeld von Interessenvermittlung und Finanzierung in das Blickfeld der Forschung.

Der Fokus des Forschungsschwerpunktes Parteitagsforschung an der NRW School of Governance liegt in erster Linie auf dem deutschen politischen System und hier auf Parteitagen auf der Bundes- und der Landesebene. Aber auch die international-vergleichende Perspektive soll im Rahmen der Forschungsarbeiten perspektivisch adressiert werden.

Dass nach mehr als zwei Jahren COVID-19-Pandemie die Parteien inzwischen wieder Parteitage in Präsenz durchführen, nachdem dies seit dem Frühjahr 2020 zunächst überhaupt nicht, später dann nur auf digitalem Weg möglich war, ist vor forschungspraktischem, ‑theoretischem und methodischem Hintergrund positiv zu werten, lassen sich so doch Parteitage in ihren vielfältigen Facetten und Dynamiken weitaus besser verfolgen und können bspw. Veränderungs- und Lernprozesse der letzten Jahre im Hinblick auf die Organisation und Durchführung von Parteitagen durch Forschende gegenständlich nachvollzogen werden. Insofern ist die Zeit für Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler günstig, um sich forschend (wieder) intensiver mit Parteitagen zu beschäftigen.

 

Literatur

Dittberner, Jürgen (1968): Funktionen westdeutscher Parteitage. In: Otto Stammer (Hg.): Party Systems, Party Organizations, and the Party Systems, Party Organizations, and the Politics of New Masses / Parteiensysteme, Parteiorganisationen und die neuen politischen Bewegungen. Beiträge zur 3. Internationalen Konferenz über Vergleichende Politische Soziologie. Berlin, S. 116–128.

Hebecker, Eike (2002): Digitale Delegierte? Funktionen und Inszenierungsstrategien virtueller Parteitage. In: Ulrich von Alemann und Stefan Marschall (Hg.): Parteien in der Mediendemokratie. 1. Aufl. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 232–255.

Kaack, Heino (1971): Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Müller, Marion G. (2002): Parteitagskommunikation. Funktionen, Strukturen, Trends in Deutschland und den USA. In: Heribert Schatz, Patrick Rössler und Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Politische Akteure in der Mediendemokratie. Politiker in den Fesseln der Medien? 1. Aufl. Wiesbaden: Westdt. Verl., S. 65–77.

Wiesendahl, Elmar (2022): Parteienforschung. Ein Überblick. Wiesbaden: Springer VS.

[1] Deutlich wird hier zudem die Strukturierung der Parteien in Deutschland: beginnend auf lokaler Ebene in Kommunen und Kreisen über die Bundesländer bis hin zum Bund, sind die deutschen Parteien grundsätzlich pyramidenförmig aufgebaut.

Zitationshinweis:

Hebestreit, Ray (2022): Der Forschungsschwerpunkt Parteitagsforschung an der NRW School of Governance: Motive und Impulse für eine moderne Parteitagsforschung, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/der-forschungsschwerpunkt-parteitagsforschung-an-der-nrw-school-of-governance-motive-und-impulse-fuer-eine-moderne-parteitagsforschung/

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