Der geringe Anteil Ostdeutscher in den Eliten – ein verkanntes Problem

Dr. Lars Vogel von der Universität Leipzig vertritt die These, dass eine elitentheoretische Perspektive auf das Problem der personellen Unterrepräsentation der Ostdeutschen politische Relevanz und theoretische Bedeutung besitzt. Zwar wird diese Unterrepräsentation oft nicht problematisch gesehen. Dennoch legen sowohl eine naive identitätspolitische aber auch eine repräsentationstheoretisch verfeinerte Lesart nahe, dass die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen ein politisches Problem ist, das als Erklärungsfaktor für die in Ostdeutschland verbreitete kollektive Deprivation und darüber vermittelt für die geringere Demokratiezufriedenheit dort in Betracht zu ziehen ist. 

Der Anteil von Ostdeutschen in bundes- und selbst in ostdeutschen Elitepositionen ist weit geringer als nach ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil zu erwarten wäre; Ostdeutsche sind also in diesen Positionen personell unterrepräsentiert. Obwohl dieser Befund selbst weitgehend unstrittig ist, bleibt umstritten, ob er ein Problem darstellt oder ob nicht im Gegenteil seine Thematisierung problematisch ist. Dieser Beitrag stellt die widerstreitenden Positionen dazu mit ihren Argumenten und empirischen Verweisen zugespitzt dar.

Der geringe Anteil Ostdeutscher in den Eliten – ein verkanntes Problem

Autor

Dr. Lars Vogel leitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter den Arbeitsbereich Empirische Methoden und Politische Soziologie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte sind: Eliten, Politische Repräsentation, und antidemokratische Einstellungen.

Der Anteil von Ostdeutschen in bundes- und selbst in ostdeutschen Elitepositionen ist weit geringer als nach ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil zu erwarten wäre; Ostdeutsche sind also in diesen Positionen personell unterrepräsentiert. Obwohl dieser Befund selbst weitgehend unstrittig ist, bleibt umstritten, ob er ein Problem darstellt oder ob nicht im Gegenteil seine Thematisierung problematisch ist. Dieser Beitrag stellt die widerstreitenden Positionen dazu mit ihren Argumenten und empirischen Verweisen zugespitzt dar. Er vertritt die These, dass eine elitentheoretische Perspektive auf das Problem der personellen Unterrepräsentation der Ostdeutschen politische Relevanz und theoretische Bedeutung besitzt. Er basiert auf ersten Ergebnissen des durch das BMFSFJ geförderten Forschungsprojekts „Soziale Integration ohne Eliten?“1 und auf Erfahrungen, die im Transfer dieser Ergebnisse in die politische Praxis und in der wissenschaftlichen Debatte bisher gemacht wurden.

In den vergangenen Jahren und insbesondere im Vorfeld des dreißigjährigen Jubiläums von friedlicher Revolution und Maueröffnung erschienen zahlreiche Beiträge, die schlaglichtartig den geringen Anteil an Ostdeutschen in zentralen Führungspositionen in Deutschland dokumentieren (zur Übersicht: Dt. Gesellschaft e.V. 2017; Lengfeld 2019). Kein einziger Ostdeutscher leitet eine Universität in Deutschland (Roessler 2019), keine einzige Ostdeutsche findet sich unter den Gerichtspräsidenten in Ostdeutschland (Decker 2019), kein einziger Ostdeutscher leitet ein DAX-Unternehmen und von den größten Unternehmen in Ostdeutschland wird nur jedes dritte von Ostdeutschen geleitet (Dt. Gesellschaft e.V. 2017). Nur in zentralen politischen Führungspositionen fällt der Anteil der Ostdeutschen höher aus: Sowohl auf Bundesebene als auch in Ostdeutschland entspricht er dem jeweiligen Bevölkerungsanteil von ca. 17 bzw. 82 Prozent (Ebd.). Neben diesen Schlaglichtern versuchen einige Studien auf Basis des Positionselitenbegriffs eine Gesamtanalyse: Auch wenn die geschätzten Anteilswerte in Abhängigkeit der berücksichtigen Sektoren und Positionen zwischen ca. drei und 15 Prozent variierten, bleibt der Befund einer personellen Unterrepräsentation der Ostdeutschen in den bundes- und ostdeutschen Elitepositionen bestehen (Kollmorgen 2015).

Empörung bildet oft die mediale Rahmung dieser Befunde, für deren Tenor die einem der Beiträge vorangestellte Überschrift: „Wer beherrscht den Osten?“ beispielhaft stehen soll (Bluhm/Jacobs 2016). Die auch politikwissenschaftliche Kritik an dieser Empörung entzündet sich – zutreffend zwar – an ihren impliziten demokratie- und repräsentationstheoretischen Grundannahmen. Zugleich wird damit aber oft der Befund der personellen Unterrepräsentation generell als irrelevant und seine Thematisierung als normativ fragwürdig beurteilt. Allerdings ist beides, naive Empörung und Ablehnung jeglicher Problematisierung, inadäquat.

Vier Problemdimensionen personeller Unterrepräsentation

Um die theoretische und politische Relevanz personeller Unterrepräsentation zu erfassen, empfiehlt es sich, analytisch zwischen Legitimität, Funktionalität, Repräsentation und Sozialintegration als vier Problemdimensionen zu unterscheiden.

Legitimität von Demokratien beruht auf dem Prinzip der Gleichheit und in modernen Gesellschaften gelten allein Status- und Positionszuweisungen auf Basis meritokratischer Verfahren als legitim. Personelle Unterrepräsentation in Elitepositionen einer Bevölkerungsgruppe wie der Ostdeutschen kann auf eine Verletzung dieser beiden Prinzipien hinweisen, wenn die Ursache dafür ist, dass Mitglieder dieser Gruppe bei gleicher Motivation und gleicher Leistung geringere Chancen haben, in diese Positionen aufzusteigen. Allerdings wären auch auf Selbstselektion hinweisende Erklärungsfaktoren wie geringere Motivation und Leistungsbereitschaft daraufhin zu untersuchen, ob sie nicht Internalisierungen fortwährender Fremdexklusion und fehlender Leistungsanerkennung sind.

Funktionalität richtet den Blick auf die Problemlösungskapazitäten von Organisationen und Institutionen und fragt danach, ob diese nicht unnötig eingeschränkt sind, wenn gruppenspezifische Erfahrungen wie die der Ostdeutschen und damit potentiell alternative Problemwahrnehmungen und Lösungswege nicht in Entscheidungsprozessen gehört und berücksichtigt werden. Aus dieser Perspektive fördert soziale Homogenität der Eliten das Phänomen des homogenen Gruppendenkens, das abweichende Problemlösungsansätze ausblendet. Diversität der Elitenkomposition wird als Gegenmittel dazu empfohlen.

Repräsentation umfasst in Anlehnung an Pitkin (1967) eine deskriptive und eine substantielle Dimension. Die deskriptive Repräsentation, also die Widerspiegelung der Sozialstruktur einer Gesellschaft und ihrer Teilbereiche in der personellen Zusammensetzung ihre zentralen Repräsentationsinstitutionen und Entscheidungsträger macht die gleichberechtigte Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an der Willensbildung symbolisch sichtbar. Personelle Unterrepräsentation kann folglich ein Gefühl geringerer Teilhabechancen oder sogar von Fremdbestimmung hervorrufen. Substantielle Repräsentation ist gegeben, wenn gruppenspezifische materielle und ideelle Interessen, wie z.B. der Ostdeutschen, in politischen Entscheidungen realisiert werden. Oftmals wird die Vermutung geäußert, dass Ostdeutsche die Interessen Ostdeutscher am besten vertreten könnten, womit unzureichende substantielle Repräsentation unmittelbar durch personelle Unterrepräsentation begründet wäre. Beide Repräsentationsformen sind nicht auf die Politik beschränkt, sondern können auch wirksam sein in Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Medien, Kultur etc., denn Repräsentationsverhältnisse können auch durch andere Prozesse und Mechanismen als durch demokratische Wahlen entstehen (Saward 2010).

Integration wird gegenwärtig vor allem mit Migration verknüpft. Übersehen wird dabei, dass der Begriff bereits in der zeitgenössischen Diskussion der deutschen Wiedervereinigung zentral war. Damals wurde gefragt, ob der Systemintegration eine Sozialintegration folgen würde (Best/Vogel 2012). Weil die Systemintegration im Modus der Übertragung der westdeutschen Institutionenordnung nach Ostdeutschland erfolgte, erwarteten viele eine Anpassung der ostdeutschen Bevölkerung an die in Westdeutschland vorherrschenden Handlungs- und Beziehungsmuster. Nach nunmehr dreißig Jahren ist offenkundig, dass diese Adaption zwar zu großen Teilen erfolgt ist, in vielen Bereichen aber ostdeutsche Besonderheiten erkennbar bleiben oder sich in jüngster Zeit wieder stärker ausprägen (Holtmann 2019). Diese Besonderheiten können nicht allein in den Kategorien von Diversität und Vielfalt erfasst oder mit Verweis auf regionale Heterogenität in West- oder Ostdeutschland aufgelöst werden. Vielmehr verweisen sie auf Ungleichheiten, was besonders prägnant zum Ausdruck kommt in der unter den Ostdeutschen konstant verbreiteten Wahrnehmung, Bürger zweiter Klasse zu sein (Ebd.). Die Frage drängt sich auf, ob diese Wahrnehmung nicht auch – neben weiteren Ursachen – durch die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen bedingt sein kann und zwar in dreifacher Hinsicht: weil ihr Faktum als illegitim angesehen wird, weil sie verminderte Teilhabechancen der Ostdeutschen symbolisiert oder weil unzureichende Berücksichtigung kollektiver und individueller Interessen der Ostdeutschen darin eine naheliegende Begründung finden kann.

Während die mediale Empörung diese drei Vermutungen oft ohne empirische Validierung als gegeben ansieht, werden auch Einwände gegen alle drei Vermutungen erhoben.

Ist die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen ein Problem? Drei Einwände und Versuche ihrer Entkräftung

Ein erster Einwand setzt an den Ursachen an, um den Vorwurf der Illegitimität und ungleicher Teilhabechancen zurückzuweisen. In dieser Sicht ist die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen eine obgleich langfristige, so doch temporäre Nachwirkung der Wiedervereinigung und des damaligen Elitentransfers. Nach 1990 gelangte eine Vielzahl von Personen aus der „alten“ BRD im Zuge des Aufbaus der politischen, administrativen, judikativen Strukturen, der kulturellen, medialen und wissenschaftlichen Organisationen und im Zuge der Übernahme von ehemaligen Kombinaten, Betrieben und Unternehmen in Führungspositionen in Ostdeutschland. Begründet wurde dieser Elitentransfer damit, dass andernfalls die entsprechenden formalen Qualifikationen, das juristische und praktische Knowhow, die Netzwerke oder schlicht die finanziellen Ressourcen zum Aufbau auf dem Gebiet der ehemaligen DDR fehlten. Diese Personen gelangten in einem unterdurchschnittlich jungen Alter in Elitepositionen, verblieben lange darin und stehen erst jetzt kurz vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben. Folglich, so das Argument, dürfte die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen nunmehr verschwinden, da diese Generation aus dem Berufsleben ausscheidet und nun erstmals ostdeutsche Nachrücker zur Verfügung stehen, die die erforderlichen formellen und informellen Qualifikationen erworben haben (z.B. Lengfeld 2019).

Diese Prognose erscheint jedoch unwahrscheinlich im Angesicht der regelmäßig zu beobachtenden sozialen Schließung von Eliten (u.a. Putnam 1976): Die Elite rekrutiert sich aus sich selbst. Die Mechanismen dabei sind vielfältig. In der Wirtschaft und dort insbesondere bei Familienunternehmen spielt die intrafamiliäre, intergenerationelle Übertragung von Vermögen und Eigentum eine Rolle. Zudem kontrollieren in allen Bereichen die etablierten Inhaber von Elitepositionen den Zugang zu diesen Positionen und rekrutieren dabei aus verschiedenen Gründen ihnen ähnliche Personen. Modus operandi dürfte dabei selten die offene und bewusste Diskriminierung sein, die darauf beruht, dass Entscheider den Ostdeutschen pauschal negative Eigenschaften wie fehlende Durchsetzungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft zuschreiben oder deren Rekrutierung aufgrund von normativen Erwägungen ablehnen. Vielmehr dürfte eine unbewusste Auswahl stattfinden, die auf subtilen (Un-)Ähnlichkeiten in Sprache, Habitus, Geschmack und Interessen beruht. Dieser Effekt ist bereits wirksam im Zugang zu den relevanten Netzwerken, die Aspiranten überhaupt erst den Zugang in den Rekrutierungspool für Elitenpositionen ermöglichen. Bei durch Wahlen besetzte politische Ämter und Mandate üben die etablierten Eliten die Kontrolle des Zugangs durch die Nominierung der Kandidaten aus. Dabei schränken jedoch die (antizipierten) Wahlergebnisse und die dezentralen und damit regional gebundenen Nominierungsverfahren die Kontrollmöglichkeiten ein. Im Ergebnis ist die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen in der Politik am geringsten ausgeprägt.

Die selektiven Effekte auf der Angebotsseite werden durch Effekte auf der Nachfrageseite ergänzt. So weist z.B. Lengfeld (2019) auf die massive innerdeutsche Migration hin, in deren Zuge mindestens zwei Millionen Personen von Ost- nach Westdeutschland gezogen sind. Darunter waren überproportional viele junge und gut ausgebildete Personen, die nun dem Pool an Eliteanwärtern in Ostdeutschland fehlten. Allerdings, so ist hier kurz einzuwenden, hätte dieser Personenkreis potentiell Zugang zu Elitepositionen auf Bundesebene oder in den westdeutschen Bundesländern. Der Blick sollte jedoch nicht allein auf die Bildung gerichtet sein: Auch Vermögen, Einkommen und Berufsstatus sind zwischen Ost- und Westdeutschen asymmetrisch verteilt, sodass Ostdeutsche seltener den oberen Mittel- und Oberschichten angehören, deren Angehörige überproportional häufig Elitepositionen einnehmen (Kollmorgen 2015). Das ist zugleich eine weitere mögliche Erklärung dafür, dass die personelle Unterrepräsentation in der Politik sehr gering ist, denn dort ist die soziale Herkunft schon seit Jahrzehnten weniger entscheidend als in anderen Sektoren (Schnapp 1997).

Neben diesen strukturellen werden auch kulturelle Merkmale zur Erklärung ins Feld geführt (Kollmorgen 2015). Unter den Ostdeutschen seien Eigenschaften seltener zu finden, die für den Aufstieg in Elitepositionen hilfreich sind. Dazu gehörten ein den Ostdeutschen fremd- oder selbstzugeschriebenes Verliererstigma, das zu einem bescheidenen bzw. wenig selbstbewussten Auftreten führt und mit einem durchsetzungsstarken Elitenhabitus raumnehmender Sprache und Gesten (Best/Vogel 2010) unvereinbar sei. Auch wird vermutet, dass die Erfahrungen des radikalen Umbruchs 1989/90 unter den Ostdeutschen eher Lebensentwürfe hervorgerufen haben, die Sicherheit vor Karriere betonen. Verstärkt würde diese Orientierung durch ein gleichzeitig weit verbreitetes Elitenmisstrauen unter Ostdeutschen, die solche Positionen nicht als anstrebenswertes Ziel erscheinen lassen.

Allen diesen mutmaßlichen Ursachenkomplexen für die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen ist jedoch gemein, dass ihre empirische Prüfung aussteht, zumal subtile Auswahlprozesse in Rekrutierungsverfahren schwer messbar sind und der Feldzugang kaum realisierbar ist. Erst dann wäre es aber möglich, zu entscheiden, ob eine Verletzung der Chancengleichheit und der meritokratischen Positionszuweisung und damit verringerte Teilhabechancen vorliegen. Trotz dieser Schwierigkeiten sprechen nicht allein das nahezu universal zu beobachtende Phänomen sozialer Schließung der Eliten, sondern auch einzelne empirische Beobachtungen gegen eine sich von selbst verflüchtigende personelle Unterrepräsentation. So steigt zwar der Anteil an Ostdeutschen an, je weiter man sich nach unten in der Karrierehierarchie bewegt (Kollmorgen 2015). Das bedeutet einerseits, dass die Karriereambitionen der Ostdeutschen nicht so gering sein können, um keinen ausreichend großen Rekrutierungspool an ostdeutschen Eliteanwärtern hervorzubringen. Andererseits ist die personelle Unterrepräsentation auch in den unmittelbaren Sprungbrettpositionen in die Elitepositionen ausgeprägt. Schließlich ist auch im Zeitverlauf nicht zu erkennen, dass der Anteil an Ostdeutschen kontinuierlich ansteigt, vielmehr stehen Zuwächsen in manchen Sektoren sogar Rückgänge in anderen entgegen (Lengfeld 2019).

Neben der Zurückweisung der Annahme verminderter Teilhabechancen der Ostdeutschen und damit der Illegitimität wenden sich Kritiker in einem zweiten Einwand generell gegen eine Problematisierung personeller Unterrepräsentation. Deskriptive Repräsentation sei nicht notwendig für substantielle Repräsentation, ja diese Verknüpfung wecke normativ problematische Vorstellungen gruppenbasierter Repräsentation (Esaiasson/Holmberg 1996). Verbunden wird dies oft mit dem Argument, dass auch Westdeutsche und insbesondere solche, die seit 1989/90 in Ostdeutschland lebten, ostdeutsche Interessen gleichwertig kennen und vertreten können – häufig von Personen vorgetragen, die selbst eine entsprechende biografische Erfahrung haben.

Dieses Argument ist nachvollziehbar und der Fokus auf die personelle Unterrepräsentation soll die Leistungen der West-Ost-Migranten nicht in Abrede stellen. Dennoch steht die Frage im Raum, ob personelle Unterrepräsentation nicht doch unter bestimmten Umständen problematisiert werden muss. Insbesondere die symbolisch-deskriptive Dimension der Repräsentation ist in Situationen relevant, in denen die gleichberechtigte Teilhabe einer Gruppe in Frage stand oder steht (Mansbridge 1999; Phillips 1995), wie es für die Ostdeutschen zwar nicht de jure aber de facto bereits aufgrund des unidirektionalen Institutionentransfer und der ökonomischen Inferiorität angenommen werden kann. Wenn zudem mit dem Hinweis auf Westdeutsche als gleichgeeignete Repräsentanten Ostdeutschlands zurecht betont wird, dass die regionale Herkunft der Repräsentanten keine Rolle spielen sollte, gerät die Asymmetrie noch stärker in den Blick, dass Ostdeutsche faktisch keine Elitepositionen in Westdeutschland und – mit Ausnahme der Politik – kaum welche auf Bundesebene ausüben.

Weiterhin hat die empirische Forschung zur Unterrepräsentation von beispielsweise Frauen gezeigt, dass der Nexus zwischen deskriptiver und substantieller Repräsentation konditional ist und es durchaus Interessen und Präferenzen gibt, die erst bei angemessener deskriptiver Repräsentation berücksichtigt werden (Campbell/Childs/Lovenduski 2010). Dazu zählen insbesondere latente Interessen, die (noch) keinen parteipolitischen oder organisatorischen Ausdruck gefunden haben. Schließlich fehlt die Verbindung von deskriptiver und substantieller Repräsentation vor allem dann, wenn die infrage stehenden Gruppen ihre Interessen in Wahlen artikulieren (Dingler/Kroeber/Fortin-Rittberger 2019), weil sie damit den Anreiz für alle Repräsentanten erhöhen, diese Gruppen zu berücksichtigen, gleich ob sie ihnen angehören oder nicht. Im Umkehrschluss entfällt dieser Anreiz in den gesellschaftlichen Sektoren wie Wirtschaft, Medien, Verwaltung, in denen keine allgemeinen Wahlen stattfinden. Könnte hier nicht die Repräsentation ostdeutscher Erfahrungen, Problemwahrnehmungen und Interessen von deskriptiver Repräsentation profitieren? Schließlich liefert, trotz der Komplexität der Verbindung von deskriptiver und substantieller Repräsentation, personelle Unterrepräsentation ein schlichtes Erklärungsnarrativ für den Fall, dass die eigenen, individuellen Interessen nicht berücksichtigt werden. Zumindest dieser populären Vermutung wäre die Grundlage entzogen, wenn Ostdeutsche ihrem Anteil gemäß vertreten wären.

Schließlich wird – drittens – eingewendet, dass es keine einheitlichen ostdeutschen Interessen und Erfahrungen gäbe. Diese Einwände richten sich sowohl gegen die Vorstellung von Vorteilen deskriptiver Repräsentation als auch gegen funktionalistische Erwägungen einer Diversifikation von Entscheidungsgremien und -trägern. Ihnen ist zu entgegnen, dass die friedliche Koexistenz von Binnenheterogenität und Kollektivinteressen anderen Großgruppen wie Frauen, Migranten, Arbeitern etc. durchaus zugestanden wird. Vielmehr noch: deskriptive Repräsentation ist gerade wichtig, um die Binnenheterogenität von Gruppen zu repräsentieren, während token-Repräsentation dafür nicht ausreichend ist. Angela Merkel oder Joachim Gauck allein können nicht als Repräsentanten der Ostdeutschen gelten, verkörpern sie doch, wenn überhaupt, nur einen Ausschnitt der ostdeutschen Heterogenität.

Noch grundsätzlicher wird die Frage gestellt, ob die kategoriale Unterscheidung von Ost- und Westdeutschland in Anbetracht von Binnenheterogenität und dreißig Jahren deutscher Einheit überhaupt noch eine relevante Analysekategorie sei. Normativ wird kritisiert, dass diese Unterscheidung die Ostdeutschen als abweichende Subgruppe erst erzeugt und eine Trennung der zwei Bevölkerungsgruppen fördere. In diesem Kontext kann auf beide Einwände nur in gebotener Kürze eingegangen werden. Trotz Binnenheterogenität bildet der abrupte Systemwechsel 1989/90 einen gemeinsamen Erfahrungshorizont der Ostdeutschen, der selbst bei individuell unterschiedlichem Umgang damit einen Unterschied zu Westdeutschland markiert. Dieser Erfahrungshorizont betrifft nicht allein die Erlebnisgeneration, sondern wird durch regionale und intrafamiliäre Traditionalisierung aufrechterhalten. Schließlich macht erst die Kategorisierung der Ostdeutschen als Gruppe die Benennung ihrer ungleichen Teilhabechancen möglich, die selbst dann besteht, wenn sich Personen aus Ostdeutschland selbst nicht als Ostdeutsche verstehen. Dass diese Kategorisierung zudem nicht notwendig trennend sein muss, zeigen verschiedenste Bemühungen, ostdeutsche Erfahrungen und Identitäten als bereichernde Erweiterung der politischen und gesellschaftlichen Diversität Deutschlands zu etablierten (Lettrari/Nestler/Troi-Boeck 2016). Zugegeben ist es notwendig, die Kategorisierung angesichts fortbestehender innerdeutscher Migrationsprozesse nicht fortgesetzt mit einer simplen Ost-West-Dichotomie zu erfassen, sondern von graduellen ostdeutschen Prägungen auszugehen.

Resümee

Die Thematisierung personeller Unterrepräsentation der Ostdeutschen fügt sich in die in jüngster Zeit verstärkte Beschäftigung mit der deskriptiven Repräsentation von Frauen, Migranten und weiteren sozialen Großgruppen ein. Sowohl eine naive identitätspolitische aber auch eine repräsentationstheoretisch verfeinerte Lesart legen nahe, dass die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen ein politisches Problem ist, das als Erklärungsfaktor für die in Ostdeutschland verbreitete kollektive Deprivation und darüber vermittelt für die geringere Demokratiezufriedenheit dort in Betracht zu ziehen ist. Nichtsdestotrotz ist das Feld der Untersuchung personeller Unterrepräsentation der Ostdeutschen gegenwärtig durch konzeptionelle Überlegungen und begründete Vermutungen geprägt. Konkrete empirische Antworten zum genauen Ausmaß, zu den Ursachen sowie zur Wahrnehmung und Bewertung der Unterrepräsentation durch die Bevölkerung stehen noch aus bzw. werden momentan in dem eingangs erwähnten Forschungsprojekt „Soziale Integration ohne Eliten?“ bearbeitet. Schließlich wurde noch nicht die Frage nach möglichen Gegenmaßnahmen berührt, weil deren Gestaltung zunächst eine genaue Bestimmung der Ursachen und Konsequenzen erfordert. Obgleich also ihre Form gegenwärtig noch offen ist, so sprechen aber die bereits genannten Gründe dafür, eine ggf. persistierende personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen überhaupt zum Gegenstand evidenzbasierter politischer Intervention zu machen. Weil disproportionale deskriptive Repräsentation nicht allein die Ostdeutschen betrifft, liegt es nahe, dass Interventionen in einen breiteren Rahmen von Bemühungen zur Diversifikation der Elitenrekrutierung eingebettet werden sollten.

Literatur

Best, H., & Vogel, L. (2011), ‘Politische Eliten im vereinten Deutschland. Strukturen – Einstellungen – Handlungsbedingungen’, in A. Lorenz (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, 120-152, Berlin: Budrich.

Best, H., & Vogel, L. (2012), Zweimal Deutsche Vereinigung: System- und Sozialintegration der politischen Eliten nach 1871 und 1990 im Vergleich, in H. Best & E. Holtmann (Hrsg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, 85-103, Frankfurt / New York: Campus Verlag.

Bluhm, M. / Jacobs, O. (2016), Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung, Universität Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft.

Campbell, R., Childs, S., & Lovenduski, J. (2010), ‘Do Women Need Women Representatives?’, British Journal of Political Science 40, pp. 171-194.

Decker, M. (2019), West-Präsidenten dominieren ostdeutsche Justiz, in: Märkische Allgemeine, 23.1.2019.

Dingler, S. C., Kroeber, C., & Fortin-Rittberger, J. (2019), ‘Do parliaments underrepresent women’s policy preferences? Exploring gender equality in policy congruence in 21 European democracies’, Journal of European Public Policy 26 (2), pp. 302-321.

Esaiasson, P., & Holmberg, S. (1996), Representation from above: members of Parliament and representative democracy in Sweden. Reprint ed. Aldershot u.a.: Dartmouth.

Holtmann, E. (Hrsg.) (2019), Die Umdeutung der Demokratie. Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland. Campus Frankfurt / New York.

Kollmorgen, R. (2015), Außenseiter der Macht. Ostdeutsche in den bundesdeutschen Eliten 1990-2013, in U. Busch & M. Thomas (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit, 189-220, Berlin: trafo-Verlag.

Lengfeld, H. (2019), Kaum Posten für den Osten, in: Deutschland Archiv, 10.9.2019, Link: www.bpb.de/296773.

Lettrari, A., Nestler, C., & Troi-Boeck, N. (2016) (Hrsg.). Die Generation der Wendekinder: Elaboration eines Forschungsfeldes,Wiesbaden: Springer.

Mansbridge, J. (1999), ‘Should Blacks represent Blacks and Women represent Women? A Contingent “Yes”’, The Journal of Politics 61 (3), 628-657.

Phillips, A. (1995), The politics of presence, Oxford, New York: Clarendon Press, Oxford University Press

Pitkin, H. F. (1967), The Concept of Representation. Berkeley: Berkely University Press.

Putnam, R. D. (1976), ‘The Comparative Study of Political Elites’, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall.

Roessler, I. (2019), CHECK – Universitätsleitung in Deutschland, Gütersloh, CHE.

Saward, M. (2010), The representative claim. Oxford [u.a.]: Oxford Univ. Press.

Schnapp, K.-U. (1997), ‘Soziale Zusammensetzung von Eliten und Bevölkerung – Verteilung von Aufstiegschancen in die Elite im Zeitvergleich’, in W. Bürklin & H. Rebenstorf (eds), Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration, 69-99, Opladen Leske und Budrich.

Zitationshinweis:

Vogel, Lars (2020): Der geringe Anteil Ostdeutscher in den Eliten – ein verkanntes Problem, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/der-geringe-anteil-ostdeutscher-in-den-eliten-ein-verkanntes-problem/

 

This work by Lars Vogel is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. https://www.dezim-institut.de/das-dezim-institut/abteilung-konsens-konflikt/drittmittel-projekt-soziale-integration-ohne-eliten/ []

Teile diesen Inhalt:

Artikel kommentieren

* Pflichtfeld