Die Programmatik der Ampelparteien in der Analyse

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen beschreibt die Ampelkoalition als permanenten Krisenlotsen, der die moderne Fähigkeit mitzubringen vermag, das jeweils Unwahrscheinliche zu managen. Wie letztlich drei Unterschiede der Parteien als „Problemlösungsagenturen“ zu einem Ergebnis führen, bleibt weiterhin zu beobachten, während das beim transcript Verlag erschienene Buch von Pola Lehmann, Theres Matthieß, Sven Regel und Bernhard Weßels – “Die Ampelkoalition. Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm?” – alle darin bestärkt, die Parteien weiterhin als unverzichtbaren Bestandteil moderner Willensbildung zu feiern.

Die Parteien der Zitrus-Koalition – aus Grünen und FDP – suchten sich nach dem Kanzler-Casting einen schwarzen – Union – oder roten – SPD – Partner! Das Insta-Foto von Baerbock, Habeck, Lindner und Wissing  gehört zur Erinnerung an den Start der Berliner Ampel. Erstmals suchten sich die kleineren Partner zusammen den etwas größeren Partner. Dem Ungewöhnlichen auf der Spur sind die Autoren des hier zu besprechenden Buches. Sie vermessen mit quantitativen Verfahren inhaltsanalytisch eine Wegstrecke: Von den Wahlprogrammen zum Koalitionsvertrag.

 

Die Programmatik der Ampelparteien
in der Analyse

Pola Lehmann, Theres Matthieß, Sven Regel, Bernhard Weßels: Die Ampelkoalition. Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm? Transcript Verlag, Bielefeld 2022, 178 Seiten

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

 

Die Parteien der Zitrus-Koalition – aus Grünen und FDP – suchten sich nach dem Kanzler-Casting einen schwarzen – Union – oder roten – SPD – Partner! Das Insta-Foto von Baerbock, Habeck, Lindner und Wissing  gehört zur Erinnerung an den Start der Berliner Ampel. Erstmals suchten sich die kleineren Partner zusammen den etwas größeren Partner. Dem Ungewöhnlichen auf der Spur sind die Autoren des hier zu besprechenden Buches. Sie vermessen mit quantitativen Verfahren inhaltsanalytisch eine Wegstrecke: Von den Wahlprogrammen zum Koalitionsvertrag. Die detaillierte, auch grafisch dokumentierte Analyse zielt vergleichend auf vier große Politikziele: Verkehrswende, Bildungsgerechtigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Nach 81 Tagen erfolgte die „Zeitenwende“. Insofern bleibt die Frage, ob es vielleicht gelingen kann, die Koalitionsagenda in 2023 langsam in Politik zu gießen, nachdem monatelang Krisenmanagement angesagt war.

Denn die Bundesregierung agiert als permanenter Krisenlotse. Planbarkeit der Politik war gestern. Unberechenbarkeit bleibt das Prinzip der politischen Steuerung. Mit Versuch und Irrtum tastet sich die Ampel im Modus des Nachbesserns durch die Vielfach-Krisen. Da ist es leicht, für Oppositionsparteien nachträglich aufzulisten, was man problemlösend hätte besser machen können, ohne nachzuweisen, dass man mit gleichem Kenntnisstand zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen wäre.

Vielleicht ist das der Preis der Risikomoderne, in der für die Politik immer eine Erwartungssicherheit des Nicht-Erwartbaren besteht. Jede Umgangsroutine der vergangenen Jahre führt nicht mehr zur Problemlösung. Politik wirkt immer unfertig, konfrontiert mit der Fiktion der dauerhaften Lösbarkeit von Problemen. Es existieren keine Zwangläufigkeiten mehr.

Das jeweils Unwahrscheinliche zu managen, setzt mehr als nur neue Lagedefinitionen voraus. Moderne Fähigkeit, mit Verunsicherung umzugehen, erfordert Probehandeln im Geiste.

Weiterdenker müssen nicht sehen, was eine Gesellschaft will oder was auf sie zukommt, sondern eher, was sie glaubt, erwarten zu können. Wer sich in diesen Zeiten festlegt, riskiert Glaubwürdigkeitsverluste. Die Krisenunübersichtlichkeit fördert mithin auch die kommunikativen Meister des Diffusen und des Ultrapragmatischen.

Die niedrigen Umfragewerte für die Ampel im Bund sind insofern nicht überraschend. Denn welcher sicherheitsdeutsche Wähler liebt experimentelles Regieren? Hier wählt man das Bekannte, das Vertraute, die Amtsinhaber. Sie garantieren in der politischen Mitte eine verlässliche Langeweile, wie die zurückliegenden Landtagswahlen auch 2022 erneut verdeutlicht haben.

Die Ampel leidet aber zusätzlich auch am ungewohnten Format – gegenüber Wählern ebenso wie gegenüber den Berichterstattern. Denn die Berliner Ampel modernisiert die traditionelle Kanzlerdemokratie. Scholz hat ein historisch schwaches Mandat von den Wählern bekommen, wie nie ein Kanzler zuvor. Die flexible Trias ist ein Sonderformat. Zu Dritt ist man systematisch kontroverser als zu zweit. Die fluiden Fronten, als Dauer-Interessen-Abwägung, sind so zu moderieren, dass sich kein „zwei gegen einen“ verfestigt. Die Kanzlerpartei ist dauerhaft in der Minderheit. Zwar nutzt Scholz die Dramaturgie der Richtlinienkompetenz, um zu priorisieren, aber den Koalitionsalltag bestimmen eher Stile wie anpassen, tauschen und kuratieren im Dissens-Management der Lern-Koalition. Die Krisennot stabilisiert die ampelige Unterstützer-Allianz. Dabei kann die Macht im Kanzleramt sein, muss sie aber nicht. Die Macht des Miteinanders hat bislang dazu geführt, dass Interna intern blieben. Die Dynamik der Vielstimmigkeit ist Teil der Vereinbarung. Wir müssen uns daran wieder neu gewöhnen, dass zum multizentrischen Regieren auch die Fraktionen des Bundestags dazugehören; ebenso wie die öffentlichen kontroversen Diskurse innerhalb der Koalition. Man hat den Eindruck, dass die Entscheidungsfähigkeit wichtiger ist als die Entscheidungskompetenz. Lernend-kollaborativ, fehlertolerant zeigt sich die Ampel. Das wirkt aufdringlich unfertig. Widersprüche zu umarmen ist zudem in der Ampel schwierig, aber auch für uns als Bürger anstrengend zu beobachten.

Zu den extrem antagonistischen Umfragewerten zwischen Regierung und Opposition kommt es auch durch den Gegenstand des Koalitionsvertrags. Geplant sind keine Reparaturarbeiten am Wohlfahrtsstaat, sondern, wie die Autoren des  Buches herausarbeiten,  die Transformation in eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft. Und dies paart sich mit realen Verlustängsten. Wie soll das eine Gesellschaft goutieren, in der viel mehr Menschen über 70 Jahre stimmberechtigt sind als unter 30? Wie weit reicht der Veränderungspatriotismus angesichts der ökonomischen Knappheit? Wie entscheiden sich risikoaverse Sicherheitsdeutsche, die fast mit Angstlust überall zögerlicher agieren als andere Europäer. Wie populär klingen Zumutungen?

Zentrale Ergebnisse werden im Buch gut sichtbar gemacht. Unabhängig von inhaltlichen Positionierungen sind machtpolitische Konstellationen wichtig: Viele Programmpunkte aus den Wahlprogrammen sind Teil des Koalitionsvertrages geworden.

Wahlprogramme sind insofern wichtig und ernst zu nehmen. Die Autoren untersuchen nicht, wie die Programme sich in Gesetze überführen lassen.

Aber wichtig bleibt, dass Parteien als Problemlösungsagenturen agieren, die nicht Daytrading betreiben. Sie sind wertegebunden unterwegs und bieten entsprechende Problemlösungen an, entlang ihrer Präferenzen, die sich von anderen Parteien deutlich unterscheiden.

Diese Positionen werden nicht einfach am Wahltag vergessen oder geopfert, sondern gemeinsam ringend vertieft. Wie bekommen als Wähler insofern keine Überraschung. Wie drei Unterschiede am Ende zu einem Ergebnis führen, bleibt im Regierungsalltag weiterhin zu beobachten. Das Buch liefert dazu keine Infos, aber bestärkt alle, die Parteien als unverzichtbaren Bestandteil moderner Willensbildung weiterhin zu feiern.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): Die Programmatik der Ampelparteien in der Analyse, Pola Lehmann, Theres Matthieß, Sven Regel, Bernhard Weßels: Die Ampelkoalition. Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm? Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-programmatik-der-ampelparteien-in-der-analyse/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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