Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers in einer kollaborativen Lernkoalition

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen, bezeichnet das Buch von Volker Busse und Hans Hofmann als eine sehr gute Grundlage, um die öffentlichen Diskurse über die vielfältigen Aufgaben und Arbeitsweisen der Bundesregierung mit Sachkunde anzureichern. Das Buch ermöglicht es, sich systematisch, chronologisch und tabellarisch zu informieren und so auch aktuelle Ereignisse im Bundeskanzleramt im Lichte der bestehenden Entscheidungslogiken zu reflektieren.

Das Bundeskanzleramt ist das Drehkreuz des Kanzler-, Ressort-, Kollegial-, Partei- und Koalitionsprinzips. Unter dem Aspekt des operativen Regierens bilden der Regierungschef und das Bundeskanzleramt das Zentrum der Core Executive. Von hier aus erfolgt die Koordination der Exekutive, die immerhin rund 25.000 Beamte und Angestellte in den Bundesministerien und Bundesbehörden umfasst.

Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers in einer kollaborativen Lernkoalition

Volker Busse/Hans Hofmann: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, 8. Auflage Baden-Baden, Nomos 2022; 515 Seiten

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

Das Bundeskanzleramt ist das Drehkreuz des Kanzler-, Ressort-, Kollegial-, Partei- und Koalitionsprinzips. Unter dem Aspekt des operativen Regierens bilden der Regierungschef und das Bundeskanzleramt das Zentrum der Core Executive. Von hier aus erfolgt die Koordination der Exekutive, die immerhin rund 25.000 Beamte und Angestellte in den Bundesministerien und Bundesbehörden umfasst. Das Kanzleramt ist ein Sekretariat der Bundesregierung. Gleichzeitig stellt es gegenüber den Ressorts kein „Überministerium“ dar. Es hat gegenüber den Fachministerien kein Weisungsrecht. Diejenigen Chefs des Kanzleramtes, die nicht beamtete Staatssekretäre waren, sondern der Bundesregierung angehörten, titulierten sich stets als „Bundesminister für besondere Aufgaben“, ohne Portefeuille. Im Verhältnis zum Bundestag und zum Bundesrat hat das Kanzleramt die gleichberechtigte Kompetenz der Einbringung von Gesetzentwürfen gemäß Art. 76 GG. Für die Zuleitung dieser Gesetzesentwürfe der Bundesregierung ist das Kanzleramt zuständig. Der Organisationsplan erschließt weitere Tätigkeitsfelder des Bundeskanzleramtes.

Im Kanzleramt arbeiten zur Zeit etwa 700 Personen. Jeder politische Machtwechsel hatte personalpolitische Konsequenzen. Zu einer sichtbaren Ausweitung und Partei-Politisierung des Personalbestandes kam es unter Kanzleramtschef Horst Ehmke der SPD (1969-1972) in der ersten Amtszeit von Bundeskanzler Brandt. Von der Aufstockung des Personalbestandes um beinahe 100 Prozent erhoffte sich Ehmke eine striktere Planungsmöglichkeit des Regierens. Eine personelle Ausweitung setzte auch im Zuge der deutschen Einheit sowie nach dem Machtwechsel von 1998 ein.

Das Kanzleramt gliedert sich in einen Leitungsbereich und sogenannte Arbeitsebenen. Zum Leitungsbereich gehören neben dem Bundeskanzler die jeweiligen Staatsminister beim Bundeskanzler sowie die ihnen zugeordneten Leitungsstäbe und persönlichen Büros.

Die Leitung des Bundeskanzleramtes nimmt der Chef des Bundeskanzleramtes im Schnittpunkt von Verwaltung und Politik wahr. An seinem Aufgabenbereich kann man die Doppelfunktion des Kanzleramtes ablesen: Zentrale und Sekretariat der Bundesregierung und des Kabinetts sowie gleichzeitig Behörde des Bundeskanzlers. Die § 16 und 21 der Geschäftsordnung der Bundesregierung beschreiben die Aufgaben des Chefs des Bundeskanzleramtes. Dieser nimmt damit eine wichtige Schlüsselstellung ein: Er bereitet die Kabinettsitzungen vor, an denen er auch selber teilnimmt. Er setzt die Tagesordnung fest; Beschlussfassung und Durchführung der Regierungsarbeit hat der Chef des Kanzleramtes zu organisieren. Er ist für die Gesamtkoordinierung der Aufgabenerledigung zuständig und eine Art Frühwarnsystem für den Bundeskanzler: Je mehr der Chef des Bundeskanzleramtes auch in der Partei und in der Fraktion verankert ist, desto eher kann er den Bundeskanzler rechtzeitig darüber informieren, wann Themen politisch brisant werden und akuter Entscheidungsbedarf besteht. Kanzler Kohl rekrutierte nach 1984 systematisch die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag (Schäuble, Seiters, Bohl) für das Amt des Kanzleramtschefs. Kanzler Schröder besetzte dagegen mit Bodo Hombach und ab 1999 Frank-Walter Steinmeier diese Position mit Nicht-Parlamentariern. Kanzlerin Merkel kehrte zur alten Praxis zurück und machte bewährte Schnittstellen-Manager mit Mandat zu jeweiligen Chefs des Kanzleramtes (de Maizière, Pofalla, Altmaier). Olaf Scholz setzte seinen wichtigsten Machtmakler und Vertrauten, Wolfgang Schmidt, in dieser Rolle ein, um vom Kanzleramt aus die Koordination der neuen Ampel-Regierung zu organisieren.

Über all diese Aspekte kann man sich auch in der bewährten 8. Auflage des Klassikers von Volker Busse und Hans Hofmann systematisch, chronologisch und tabellarisch informieren. Auch wichtige Dokumente sind abgedruckt, so z.B. das Schreiben von Bundeskanzler Scholz an die Minister Lemke, Habeck, Lindner vom 17. Oktober 2022. Es ist ein verfassungsrechtlich singuläres Dokument zur Anwendung der Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Wie lange sollen die Kernkraftwerke weiterlaufen? Das hat Scholz mit diesem Brief entschieden und damit den Streit der Minister beendet. Das war sehr ungewöhnlich. Niemals zuvor hat dies ein Kanzler schriftlich zum Ausdruck gebracht. Es ist eher informelle Praxis, wenn der Kanzler in einer Kabinettsitzung darauf verweist, dass er seine Richtlinienkompetenz beabsichtigt zu aktivieren, sollte es zu keiner Einigung kommen. Solche Androhungen sind Zeichen von politischer Schwäche, so dass sie nur ausnahmsweise genutzt wurden. Die Ampel-Regierung agiert jedoch in der Dreier-Konstellation auf völlig neuem Terrain. Deshalb muss es nicht abnutzend noch im ersten Regierungsjahr bereits als ein Zeichen des Machtverfalls gewertet werden. Die Berliner Ampel agiert eher wie eine kollaborative Lernkoalition, für die der klassische Begriff der Kanzlerdemokratie nur eingeschränkt gilt.

Man erkennt beim Blättern des Buches sehr schnell, wie mit deutscher Gründlichkeit Verfahrenssicherheit hergestellt werden soll. Kaum ein Bereich des Politischen scheint nicht verregelt zu sein. Selbst eine Einladung der Minister ins Ausland sind dem Kanzleramt vorab anzuzeigen.

Politisch umstritten sind in der Öffentlichkeit die wachsende Zahl von immer neuen Beauftragten der Bundesregierung. Im Buch finden sich dazu rund 150 Seiten, um die Vielfalt der Aufgaben und der Arbeitsweisen zu benennen. Das ist eine sehr gute Grundlage, um die öffentlichen Diskurse zu diesem Thema mit Sachkunde anzureichern.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers in einer kollaborativen Lernkoalition, Volker Busse / Hans Hofmann: Bundeskanzleramt und Bundesregierung, Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/die-richtlinienkompetenz-des-kanzlers-in-einer-kollaborativen-lernkoalition/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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