Ein Wahlkampf in der „Zwischenzeit“ und ein historischer Wahlsieg der CDU

Vor fast 100 Tagen präsentierte und unterzeichnete die schwarz-grüne Koalition mit Daniel Günther als Ministerpräsidenten in Schleswig-Holstein ihren Koalitionsvertrag. Prof. Dr. Wilhelm Knelangen von der Christian-Albrechts-Universität Kiel wirft einen Blick zurück auf den Wahlkampf, das Wahlergebnis und den Koalitionsvertrag und wagt einen Ausblick auf die künftigen Herausforderungen für die Arbeit der neuen Koalition.

Die CDU erreichte bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl am 8. Mai 2022 mit 43,4 Prozent der Zweitstimmen ein herausragendes Wahlergebnis, das noch zu Beginn des Wahljahres nicht hätte erwartet werden können. Grundlage dafür war zum einen die sehr große Zufriedenheit der Wählerschaft mit der Arbeit der 2017 aus CDU, Bündnis 90/Die Grünen sowie FDP gebildeten „Jamaika“-Koalitionsregierung und zum anderen die außerordentlich hohen persönlichen Zustimmungsraten für den Ministerpräsidenten und CDU-Spitzenkandidaten Daniel Günther.

Ein Wahlkampf in der „Zwischenzeit“ und ein historischer Wahlsieg der CDU

Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 8. Mai 2022

Autor

Wilhelm Knelangen ist Professor für Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Er lehrt und forscht zur europäischen Integration, zum politischen System Deutschlands und Schleswig-Holsteins sowie zur Geschichte der Politikwissenschaft. Kontakt: wknelangen@politik.uni-kiel.de

Die CDU erreichte bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl am 8. Mai 2022 mit 43,4 Prozent der Zweitstimmen ein herausragendes Wahlergebnis, das noch zu Beginn des Wahljahres nicht hätte erwartet werden können (ausführlich Knelangen 2022). Grundlage dafür war zum einen die sehr große Zufriedenheit der Wählerschaft mit der Arbeit der 2017 aus CDU, Bündnis 90/Die Grünen sowie FDP gebildeten „Jamaika“-Koalitionsregierung und zum anderen die außerordentlich hohen persönlichen Zustimmungsraten für den Ministerpräsidenten und CDU-Spitzenkandidaten Daniel Günther. Landespolitische Themen spielten im Wahlkampf allenfalls am Rande eine Rolle. Auch die politischen Maßnahmen zur Begrenzung der Covid-19-Pandemie waren am Wahltag in den Hintergrund geraten. Kaum anders sah es mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den damit verbundenen Auswirkungen aus. Dieser dämpfte zwar die Stimmung im Wahlkampf zusätzlich. Auch waren sich (mit Ausnahme der AfD) alle im Landtag vertretenen Partei einig, dass der im Norden bereits eingeschlagene Pfad der energie- und klimapolitischen Transformation weitergegangen werden muss – gerade als Antwort auf die neuen Probleme der Energieversorgung. Die Explosion der Energiepreise aber, die drohende Rezession der Wirtschaft, die Finanzierbarkeit von Ausgabenprogrammen und die Aussichten auf einen Legitimationsverlust des politischen Systems insgesamt – all diese Fragen, die seit dem Spätsommer 2022 die politische Agenda bestimmen sollten, ließen sich im Frühjahr allenfalls in Umrissen erkennen und spielten im schleswig-holsteinischen Wahlkampf keine direkte Rolle. Nach der Wahl bildeten CDU und Bündnis 90/Die Grünen eine schwarz-grüne Koalition, nachdem der Plan von Ministerpräsident Günther, „Jamaika“ mit einer übergroßen Mehrheit fortzusetzen, gescheitert war. In ihrem Koalitionsvertrag (CDU 2022a) bekräftigte die neue Landesregierung ihre Absicht, zentrale Linien des bereits mit „Jamaika“ eingeschlagenen Weges fortzusetzen und insbesondere den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Schleswig-Holstein soll nach Absicht der Koalitionäre zum „Energiewendeland Nummer eins“ werden. Zugleich stellte die Koalition ihr gesamtes Programm unter einen Finanzierungsvorbehalt. 100 Tage nach Regierungsantritt ist klarer als es nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrages sein konnte: Wie weit die im Vertrag beschriebenen Zielmarken umgesetzt werden können, wird sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen erst noch zeigen müssen. Aus der Rückschau scheint es, als ob der Wahlkampf im Norden in einer „Zwischenzeit“ stattgefunden hätte – einer Phase nämlich, in der die Corona-Pandemie ihre dominante Rolle überwiegend verloren hatte, die Auswirkungen des Ukraine-Krieges aber noch nicht das landespolitische Tagesgeschäft prägten.

Wahlkampf in der „Zwischenzeit“

Die Frage, wer die Führung der künftigen Landesregierung in Schleswig-Holstein reklamieren könnte und wer ihr angehören würde, konnte noch am Anfang des Wahljahres als völlig offen gelten. Das galt umso mehr, als nicht nur CDU (Ministerpräsident Daniel Günther) und SPD (Thomas Losse-Müller), sondern – im Lichte anhaltend guter Umfragen und Wahlergebnisse – auch Bündnis 90/Die Grünen (Monika Heinold)eine eigene Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin nominiert hatten. In Berlin hatte im Dezember 2021 die neue „Ampel“-Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP die Regierungsgeschäfte übernommen und ein ambitioniertes klima- und energiepolitisches Reformprogramm vorgelegt, das für die Aussichten der schleswig-holsteinischen Parteien in zweierlei Weise von Bedeutung war. Zum einen spielte für die Chancen der Parteien eine wichtige Rolle, wie die „Ampel“ am Tag der Landtagswahl von der Wählerschaft beurteilt werden würde. Zum Zweiten setzte die Bundesregierung auch inhaltlich einen Rahmen, innerhalb dessen sich die schleswig-holsteinischen Parteien positionierten.

Die SPD legte ein „Zukunftsprogramm Schleswig-Holstein“ (SPD 2022) vor, das als ein Plan zur Umsetzung der Berliner Transformationsagenda gelesen werden kann. Auch wenn im Wahlkampf soziale Forderungen (z.B. beitragsfreie Kita, Mietpreisbremse, kostenlose Endgeräte für Schülerinnen und Schüler) in den Vordergrund gerückt wurden, so unterbreiteten die Sozialdemokraten zugleich einen ausdifferenzierten Plan, um das Land bis zum Jahr 2040 klimaneutral machen sowie infrastrukturell modernisieren zu können. Dabei konnte die Partei an die Berliner Vorgaben einerseits und andererseits an Ergebnisse anknüpfen, die bereits von der „Jamaika“-Koalition (und ihren Vorgängerinnen) erreicht worden waren. Denn auch die größte Regierungspartei CDU verpflichtete sich in ihrem Wahlprogramm (CDU 2022) dem Ziel der Klimaneutralität, wenn auch mit dem Zieljahr 2045. Unter dem Motto „#kurSHalten“ signalisierte die Partei, sich von der unübersichtlichen Entwicklung der Bundespartei abkoppeln und ganz auf die Landespolitik setzen zu wollen. Einen größeren Stellenwert als alle Themen hatte dabei ihr Spitzenkandidat Daniel Günther, den die Partei angesichts ausgezeichneter persönlicher Umfragewerte in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne stellte.

Wie auch die CDU betonten Bündnis 90/Die Grünen ihre Zufriedenheit mit den Resultaten der „Jamaika“-Koalition, doch forderten sie eine Ausweitung der Flächen für die Windkraft und den ökologischen Landbau, um bereits bis 2035 die Klimaneutralität erreichen zu können (Bündnis 90/Die Grünen 2022). In der Koalitionsfrage hielt sich die Partei bedeckt – zu unsicher war im Wahlkampf, welche Möglichkeiten das Ergebnis am Wahltag bieten würde. Ein deutlicheres Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit der CDU ging hingegen von der FDP aus, die auf ihre klassischen bildungs- und wirtschaftspolitischen Schwerpunkte setzte (FDP 2022). Die Partei der dänischen und friesischen Minderheit, der SSW, stellte die Minderheitenförderung ins Zentrum, betonte aber zugleich ihr sozialpolitisches Profil, insbesondere im Zusammenhang mit den steigenden Kosten für Miete und Lebenshaltung (SSW 2022). Damit war sie die einzige Partei, die die veränderte Lage nach Beginn des russischen Angriffskriegs offensiv in den Wahlkampf trug.

Durch die Zuspitzung der Corona-Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2022 waren den üblichen Formaten des Wahlkampfes enge Grenzen gesetzt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Regierungsbilanz und über künftige Prioritäten der Landespolitik entwickelte sich deshalb nur in Ansätzen. Dem SPD-Herausforderer Losse-Müller fiel es schwer, sich und sein Programm bekannt zu machen. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rückte die Landespolitik noch stärker in den Hintergrund. Insbesondere die Energie- und Klimapolitik, zu der alle Parteien in ihrem Programmen Vorschläge entwickelt hatten, befand sich nun völlig im unkontroversen Bereich. Einen symbolischen Ausdruck fand diese neue Situation, als kurz vor dem Wahltag eine sehr große Koalition im Landtag (allerdings gegen den SSW) für die Beschleunigung beim Bau eines Terminals für Flüssigerdgas in Brunsbüttel stimmte.

Tabelle 1: Entwicklung der Umfragedaten der Parteien vor der Landtagswahl Schleswig-Holstein in Prozent, Quelle: verschiedenen Ausgaben des LänderTRENDS von Infratest dimap, Umfragen im Auftrag von NDR oder ARD.

Die öffentlichen Diskussionsrunden der heißen Wahlkampfphase brachten weder eine inhaltliche Zuspitzung noch eine grundsätzliche Veränderung der Kräfteverhältnisse mit sich. Stattdessen dominierte die Frage der Persönlichkeit – wer als Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident das Land führen würde – immer stärker den Wahlkampf. Nachdem es Anfang des Jahres 2022 noch danach ausgesehen hatte, als ob verschiedene Regierungskonstellationen möglich sein würden, setzte sich die CDU ab März in den Meinungsumfragen von den anderen Parteien ab (siehe Tabelle 1). Lediglich die Frage, wie eine künftige Landesregierung zusammengesetzt sein könnte, vermochte kurz vor dem Wahltag eine gewisse Spannung zu erzeugen. Die Chancen der SPD hatten sich sukzessive verschlechtert, denn die Partei musste darauf setzen, nicht zu weit hinter der CDU und zugleich vor Bündnis 90/Die Grünen zu liegen. Zugleich bedurfte es eines koalitionspolitischen Signals der Grünen, dass diese im Zweifel für eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten optieren würde. Danach sah es aber immer weniger aus. Die Landtagswahl im Saarland am 27. März 2022 veränderte die Lage nicht, denn hier herrschten offenkundig regionale Sonderbedingungen, die sich nicht auf den Norden übertragen ließen.

Ein historisches Wahlergebnis und seine Gründe

Das Ergebnis der Landtagswahl war in mehrfacher Hinsicht historisch. Die Wahlbeteiligung lag mit 60,3 Prozent nur knapp über dem bis dahin schwächsten Wert von 2012 (60,2 Prozent). Die CDU erreichte ihr bestes Ergebnis seit 1983. Mit 43,4 Prozent der Zweitstimmen konnte die Partei mehr Stimmen auf sich vereinen als die drei Parteien mit den nächstbesten Ergebnissen zusammen. Die CDU verfehlte zudem mit 34 Mandaten (plus neun) die absolute Mehrheit im Landtag nur um einen Sitz, darunter waren 32 Direktmandate. Damit konnte die Partei mit jeder anderen Parlamentsfraktion eine Regierungsmehrheit bilden. Auch Bündnis 90/Die Grünen konnten mit 18,3 Prozent der Zweitstimmen einen Zuwachs von 5,4 Punkten verbuchen. Zugleich konnte sie mit deutlichem Abstand zur SPD die Rolle als zweitstärkste Partei im Bundesland für sich reklamieren. Erstmals setzten sich die Grünen in Kiel (2) und in Lübeck (1) bei den Direktmandaten durch. Der SPD gelang es in keinem Wahlkreis, ein Direktmandat zu gewinnen. Auch darüber hinaus war das Wahlergebnis für die Partei desaströs. 16 Prozent der Zweitstimmen (minus 11,3 Prozent) waren das schlechteste jemals erzielte Resultat bei einer Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Die SPD rangierte erstmals nur noch an dritter Stelle des Parteiensystems. Die Hoffnung, dass sich die Regierungsführung in Berlin positiv auf den Wahlkampf auswirken könnte, erfüllte sich nicht. Einen positiven Einfluss auf die Wahlchancen der Parteien registrierte die Meinungsforschung nur für Bündnis 90/Die Grünen, denn 69 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sei eine große Unterstützung für die Landespartei. Das sagten über Friedrich Merz nur 21 Prozent, über Olaf Scholz 27 Prozent (Infratest dimap 2022: 39-40). Starke Verluste standen auch für die FDP mit 6,4 Prozent der Zweitstimmen (minus 5,1 Punkte) zu Buche. Erstmals verfehlte die AfD mit 4,4 Prozent den Wiedereinzug in ein Landesparlament. Die Partei litt darunter, nicht von Unzufriedenheit und Protest profitieren zu können. Ein ebenfalls historisches Ergebnis erzielte der SSW, da die Partei mit 5,7 Prozent (plus 2,4 Prozent) in den Landtag einzog, ohne dass dafür die Befreiung von der Fünf-Prozent-Klausel benötigt wurde.

Das Wahlergebnis ist nicht zu erklären, ohne auf die auch im bundesweiten Vergleich herausragenden Zufriedenheitswerte einzugehen, die die „Jamaika“-Koalition für sich reklamieren konnte (für das Folgende: Infratest dimap 2022: 29ff.). Unmittelbar vor der Wahl gaben 75 Prozent der Befragten an, mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden zu sein, nur 22 Prozent waren nicht zufrieden. Die Zufriedenheit wurde nicht nur von der Anhängerschaft der Koalitionäre geteilt (CDU: 95, Grüne und FDP: je 77 Prozent), sondern auch von den Anhängerinnen und Anhängern von SSW (77) und SPD (68). Herausragende Themen hatte der Wahlkampf nicht. Hinsichtlich der zugeschriebenen Kompetenzen in einzelnen Politikbereichen lag die CDU zwar deutlich vor allen anderen Parteien, legte allerdings im Vergleich zu 2017 nur wenig zu. Vielleicht von größerer Bedeutung als die Einzelergebnisse ist aber die Einschätzung der allgemeinen Lösungskompetenz der Parteien. Auf die Frage, wer „die wichtigsten Aufgaben im Land lösen“ kann, konnten die CDU (42 Prozent, plus 6) und die Grünen (12 Prozent, plus 4) erheblich hinzugewinnen, die SPD verlor deutlich (16 Prozent, minus 18). Nicht zuletzt spielte der Spitzenkandidat der CDU, Daniel Günther, eine bedeutende Rolle für die Wahlentscheidung. Die bereits benannten Zufriedenheitswerte und der weite Vorsprung in der Direktwahlfrage belegen dies deutlich (siehe Tabelle 2). Offenbar nahmen viele Wählerinnen und Wähler ihn als Garanten der „Jamaika“-Koalition und ihrer Politik wahr.

Tabelle 2: Direktwahlfrage, Zufriedenheit und Bekanntheit der Spitzenkandidat/innen in Schleswig-Holstein, Angaben in Prozent, Quellen: Bekanntheit nach der Infratest dimap-Meinungsumfrage vom 28. April 2022, für alle anderen Daten Infratest dimap (2022: 31, 34).

Weiter mit „Jamaika“ – oder eine Zwei-Parteien-Koalition?

Am Wahlabend schienen die Schritte der Regierungsbildung vorgezeichnet zu sein: Die Wahlgewinnerin CDU würde sich zwischen den beiden bisherigen Koalitionsparteien entscheiden müssen, um eine Regierung mit einem Partner zu bilden. Ministerpräsident Günther erklärte jedoch rasch seine Absicht, die „Jamaika“-Koalition gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und FDP fortsetzen und eine Koalition mit einer übergroßen Mehrheit im Landtag bilden zu wollen. Ob die CDU mit diesem Vorgehen lediglich einen Verhandlungsvorteil erzielen wollte oder ob es tatsächlich die in der Öffentlichkeit genannten Gemeinsamkeiten des Inhalts und des politischen Stils waren, die für den Wunsch nach einer Fortführung der Jamaika-Koalition den Ausschlag gaben, lässt sich nur vermuten. Verweise auf die traditionelle Lehre, wonach eine Regierung nur aus Parteien besteht, die für eine Mehrheit gebraucht werden, bezeichnete Wahlgewinner Günther sogar als „Denken der Vergangenheit“ (zit. nach Müller 2022: 1). Eine Neuauflage des schwarz-grün-gelben Bündnisses hätte bedeutet, dass im Landtag eine Dreiviertelmehrheit einer sehr klein gewordenen Opposition gegenübergestanden hätte (Decker 2022).

Die CDU überließ es Bündnis 90/Die Grünen, einer erneuten „Jamaika“-Koalition eine Absage zu erteilen. Wie auch die FDP erklärten die Grünen aber ihre Bereitschaft, über eine Zweierkoalition mit der Union zu verhandeln. Obwohl andere Landesverbände stets die Option einer Regierungsbildung mit der FDP gewählt hatten, wenn diese rechnerisch möglich war, entschied sich die schleswig-holsteinische CDU für weitere Sondierungen und schließlich für Koalitionsverhandlungen mit Bündnis 90/Die Grünen. Die Partei stufte die möglichen Gewinne einer solchen Koalition im Parteienwettbewerb offenbar höher ein als die größeren inhaltlichen Übereinstimmungen ihrer Partei mit der FDP (Debus 2022). Über den Verlauf der Koalitionsverhandlungen erfuhr die Öffentlichkeit fast nichts, wenngleich sich CDU und Bündnis 90/Die Grünen darum bemühten, die gute und gleichsam freundschaftliche Atmosphäre der Gespräche zu betonen. Am 22. Juni 2022 unterzeichneten beide Parteien den Koalitionsvertrag für die Jahre 2022 bis 2027 mit der Überschrift „Ideen verbinden – Chancen nutzen, Schleswig-Holstein gestalten“ (CDU 2022a). Darin findet sich wenig überraschend als Schwerpunkt das Ziel wieder, das Land bis 2040 zum ersten „klimaneutralen Industrieland“ zu entwickeln – offenkundig ein Kompromiss zwischen den Parteien, die im Wahlkampf von 2035 (Bündnis 90/Die Grünen) und 2045 (CDU) gesprochen hatten. Um den Ausbau erneuerbarer Energien fortzusetzen, sollen Landesflächen bereitgestellt werden, die „perspektivisch“ eine Leistung von 15 Gigawatt erlauben. Um die notwendigen Maßnahmen für die Energiewende schneller auf den Weg zu bringen, sieht der Koalitionsvertrag außerdem vor, dass Einspruchs- und Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung eingeschränkt werden. Dass die CDU ein wesentlich höheres Gewicht in dieser Zweierkoalition als im „Jamaika“-Rahmen innehat, wird beispielsweise daran deutlich, dass sich die Koalition ausdrücklich zum Weiterbau der bereits seit Jahrzehnten geplanten Autobahn 20 bekennt. Auch sollen sowohl die konventionelle als auch die ökologische Landwirtschaft gefördert werden. Das bislang von einer Hand geführte Umwelt- und Landwirtschaftsministerium wurde geteilt, wobei das Umweltressort nun den Grünen zufiel, das Agrarministerium der CDU. Am 29. Juni 2022 wurde Daniel Günther mit 47 Stimmen von 66 anwesenden Mitgliedern des Landtags erneut zum Ministerpräsidenten gewählt.

Alles weiter wie bisher?

Bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl 2022 stand zum ersten Mal eine „Jamaika“-Koalition zur Wiederwahl. Die Regierung verfügte über ausgezeichnete Zufriedenheitswerte, von denen die Parteien aber unterschiedlich stark profitierten. Der CDU gelang es im Schatten herausragender Persönlichkeitswerte von Ministerpräsident Günther nahezu, eine absolute Mehrheit zu erreichen. Auch Bündnis 90/Die Grünen gewann hinzu, während die FDP stark verlor. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg hatten erheblich dazu beigetragen, dass inhaltliche Kontroversen im Wahlkampf kaum eine Rolle spielten. Aber selbst dort, wo es zu sachlichen Auseinandersetzungen kam, drückten die Bedingungen einer Dreierkoalition dem Wahlkampf ihren Stempel auf. Die Versuche der oppositionellen SPD, sich als Alternative zur Regierung zu profilieren, stießen nicht nur bei der CDU auf Gegenwehr, sondern auch bei den potenziellen Koalitionspartnern, insbesondere bei Bündnis 90/Die Grünen. Stattdessen rückten Persönlichkeitsfragen und die Vermutung einer allgemeinen Führungskompetenz in den Vordergrund. Ministerpräsident Günther wurde als Garant von „Jamaika“ eine herausragende Zustimmung in der Bevölkerung zuteil.

Die neue schwarz-grüne Koalition ist keine Fortsetzung von „Jamaika“. Das kann nicht nur daran abgelesen werden, dass der bisherige Koalitionspartner FDP lediglich einen kurzen Moment benötigte, um nach dem Scheitern der „Jamaika“-Sondierungen auf die neue Oppositionsrolle umzustellen. Die Gewichte sind innerhalb der neuen Koalition neu verteilt. Die CDU ist ein übermächtiger Partner, der mit jeder anderen Fraktion eine Regierung bilden könnte, wenn es inhaltlich mit Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr reichen sollte. Das bedeutet für die CDU allerdings, künftig mehr Initiative zeigen zu müssen. Der vermittelnde und pragmatische Politikstil, dem Ministerpräsident Günther seine hohe Zustimmung verdankte, könnte in der neuen Zweierkonstellation häufiger herausgefordert werden. Das gilt insbesondere, wenn sich die Planungen der Koalition an den finanziellen und politischen Möglichkeiten messen lassen müssen, die in der neuen Großwetterlage infolge des Ukraine-Krieges zur Verfügung stehen. Verteilungskonflikte spielten in fünf Jahren „Jamaika“ kaum eine Rolle. Das muss nicht so bleiben.

Literatur

Bündnis 90/Die Grünen (2022): Wir sind Stadt. Land. Schleswig-Holstein. Programm zur Landtagswahl am 8. Mai 2022. https://sh-gruene.de/wp-content/uploads/2022/03/LTW-Programm_web-1.pdf

CDU (2022a): Ideen verbinden. Chancen nutzen. Schleswig-Holstein gestalten. Koalitionsvertrag zwischen der Christlich Demokratische Union (CDU) und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein (GRÜNE). https://www.cdu-sh.de/sites/www.cdu-sh.de/files/docs/koalitionsvertrag_schleswig-holstein_2022-2027.pdf

CDU (2022b): Auf den Inhalt kommt es an. #kurSHalten. Unser Wahlprogramm zur Landtagswahl am 8. Mai 2022. https://www.cdu-sh.de/sites/www.cdu-sh.de/files/personen-780×439/kandidaten_ltw22/druckversion_web_final.pdf

Decker, Frank (2022): Günther wählt den falschen Koalitionspartner. In: Der Tagesspiegel online vom 25. Mai 2022, https://www.tagesspiegel.de/politik/schwarz-gruen-verhandelt-in-kiel-guenther-waehlt-den-falschen-koalitionspartner/28371654.html

FDP (2022): Was das Land jetzt braucht. Wahlprogramm der Freien Demokraten. https://www.fdp-sh.de/sites/default/files/2022-04/Landtagswahlprogramm%202022%20-%202027.pdf

Infratest dimap (2022): WahlREPORT Schleswig-Holstein 2022. Eine Analyse der Wahl vom 8. Mai 2022. Berlin.

Knelangen, Wilhelm (2022): Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 8. Mai 2022: Aus „Jamaika“ wird eine schwarz-grüne Koalition unter Wahlgewinner Daniel Günther. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 53. Jg, Heft 2, S. 545-564.

Müller, Kay (2022): Letzte Chance genutzt. In: Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 20. Mai 2022, S. 1.

SPD (2022): Zukunftsprogramm Schleswig-Holstein. Sozial. Digital. Klimaneutral. https://www.spd-schleswig-holstein.de/zukunftsprogramm

SSW (2022): Damit das Leben im Norden bezahlbar bleibt. Wahlprogramm des SSW zur Landtagswahl am 8. Mai 2022. https://www.ssw.de/fileadmin/user_upload/valgprogram_2022_landdagsvalg-net.pdf

Zitationshinweis:

Knelangen, Wilhelm (2022): Ein Wahlkampf in der „Zwischenzeit“ und ein historischer Wahlsieg der CDU, Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 8. Mai 2022, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/ein-wahlkampf-in-der-zwischenzeit-und-ein-histori-scher-wahlsieg-der-cdu/

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