Europäische Integration der Zeitenwende: Zwischen Kontrollverlust und Solidarität

Das Jahrbuch der Europäischen Integration 2022 der Herausgeber Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels, veröffentlicht beim Nomos Verlag, bietet eine Meisterleistung an Sachinformationen und hilft dabei, die jeweilige Analyse in den Gesamtkontext der Integration einzuordnen, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Die neueste Ausgabe beleuchtet insbesondere den Einschnitt, der in deutscher Terminologie als “Zeitenwende” bezeichnet wird, nachdem der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine stattgefunden hat. Die Rezension stellt die Frage, wie man unter diesen unvorhersehbaren Bedingungen neue Kategorien und Ströme der Solidarität findet und wie sich Politik in Zeiten der Unberechenbarkeit und des Gewissheitsschwunds verändert.

Es ist die 42. Ausgabe des Jahrbuchs der Europäischen Integration, in dem alle wichtigen Bereiche der Europapolitik zwischen September 2021 und Sommer 2022 analysiert und systematisch eingeordnet werden. Das Schema ist bewährt-bekannt: Die Bilanz, die Institutionen, die Infrastruktur, Innen-, Außenpolitik, die Nachbarn, die Erweiterung, andere Organisationen sowie die Europapolitik aller Mitgliedstaaten. Das ist eine Meisterleistung und das bereits seit 42 Jahren. Neben der Sachinformation über Geschehnisse, Ereignisse und Prozesse bleibt die jeweilige Einordnung der Analyse in den Gesamtkontext der Integration extrem hilfreich.

 

Europäische Integration der Zeitenwende: Zwischen Kontrollverlust und Solidarität

Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2022. Nomos Verlag, Baden-Baden 2022, 602 Seiten

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

 

Es ist die 42. Ausgabe des Jahrbuchs der Europäischen Integration, in dem alle wichtigen Bereiche der Europapolitik zwischen September 2021 und Sommer 2022 analysiert und systematisch eingeordnet werden. Das Schema ist bewährt-bekannt: Die Bilanz, die Institutionen, die Infrastruktur, Innen-, Außenpolitik, die Nachbarn, die Erweiterung, andere Organisationen sowie die Europapolitik aller Mitgliedstaaten. Das ist eine Meisterleistung und das bereits seit 42 Jahren. Neben der Sachinformation über Geschehnisse, Ereignisse und Prozesse bleibt die jeweilige Einordnung der Analyse in den Gesamtkontext der Integration extrem hilfreich.

Für Wissenschaftler ist zudem unverzichtbar, einen Blick auf das jeweilige europapolitische Kapitel in der wissenschaftlichen Debatte zu werfen. Diesmal haben Christian Raphael, Darius Ribbe und Wolfgang Wessels die Schneisen gebildet. Dabei fällt nicht überraschend der Einschnitt auf, der in deutscher Terminologie als „Zeitenwende“ bezeichnet wird. Offenbar hat sie nicht nur die Narrative der Europadebatte verändert, sondern auch die Blickrichtung der Forschung insgesamt. Der Gewissheitsschwund ist durch den kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine in wissenschaftliche Diskurse zu überführen. Hierbei werden offenbar neue Begrifflichkeiten erprobt, alte, wie der Krisenbegriff, verworfen und neue Trendthemen intoniert. Nichts ist in der Debatte ohne einen Rekurs auf den Kriegsbeginn. Denkwenden finden sich offenbar auch in der wissenschaftlichen Debatte. Wie managt man das Unwahrscheinliche?

Wie findet man neue Kategorien, die nicht nur aus der Zeit des Kalten Krieges stammen? Wie fasst man unter den Bedingungen der Bedrohung neue Ströme der Solidarität?

Die Unberechenbarkeit bleibt das Prinzip der Politik. Auch der europäischen. Gewissheitsschwund existiert, wenn es keine Zwangsläufigkeiten mehr gibt, wenn Planbarkeit und Masterpläne sich als gefährliche Illusionen erweisen, wenn das Ereignis-Gewitter zur Erwartungssicherheit des Nicht-Erwartbaren führt. Unter diesen Bedingungen agiert Politik nur noch im Modus des Nachbesserns. Politik verkommt oft zum Feuerlöscher auf dem Entscheidungsmarkt. Es wird auf Sichtweite experimentiert. Die Uneindeutigkeit führt zu überraschenden Feedbacks, zu Kontrollverlusten. Nichts folgt notwendigerweise aus etwas anderem. Vollständige Problemlösungen bleiben Illusionen mit der Fiktion der Lösbarkeit, weil bei komplexen Mechanismen mit neuen, aufbrechenden, unerwarteten Folgeproblemen zu rechnen ist. Problemlösung und praktischer Nutzen sind aber für viele Bürger die wichtigsten Gründe, Vertrauen in die Demokratie und ihre Prozesse zu entwickeln. Was passiert mit dem Vertrauen in die Politik, wenn sie nur noch punktuell Problem lösen kann?

Vielleicht helfen Anleihen bei Groß-Strategen der Politik, wie Henry Kissinger, den einer der Herausgeber, Werner Weidenfeld, zitiert. Kissinger beschreibt die Problematik komplexer Herausforderungen folgendermaßen: „Strategie beschreibt die Schlussfolgerung, zu der ein Staatslenker unter diesen Bedingungen der Knappheit, der Zeitgebundenheit, der Konkurrenz und der Fluidität kommt. Bei der Suche nach einem Weg voran kann man strategische Führung mit einem Seiltanz vergleichen: Wie ein Akrobat, der stürzt, wenn er zu ängstlich oder zu kühn ist, bewegt sich auch eine Führungsfigur auf einem dünnen Seil, aufgehängt zwischen den relativen Gewissheiten der Vergangenheit und den Unklarheiten der Zukunft. Die Strafe für das Streben nach dem Unerreichbaren – die Griechen sprachen von Hybris – ist Erschöpfung, der Preis für das Ausruhen auf den eigenen Lorbeeren sind fortschreitende Bedeutungslosigkeit und schließlich Verfall. Schritt für Schritt müssen Anführer die Mittel und Zwecke sowie Absichten und Umstände in Übereinstimmung bringen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen.“

Große Aufgaben für die Akteure der Europäischen Integration! Insofern ist dieses Jahrbuch sicher prägnanter als manch ein Vorgänger. Als unendliche Fundgrube ist es für die Europaforschung unverzichtbar.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): Europäische Integration der Zeitenwende: Zwischen Kontrollverlust und Solidarität, Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2022, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/europaeische-integration-der-zeitenwende-zwischen-kontrollverlust-und-solidaritaet/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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