Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.): Von Staat zu Staatlichkeit.

Eine Einladung an die Politikwissenschaft, die Theorie des Staates und der Staatlichkeit weiter zu festigen. Das ist das Fazit von Prof. Dr. Manferd Mai, der außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen ist, zum neuen Band von Gunnar Folie Schuppert. Neben theoretischen Beiträgen zu Staatswissenschaft und Staatlichkeit bietet der Band auch historische Einordnungen und Fallstudien. Dabei erweist sich die Einbeziehung historischer, rechtswissenschaftlicher, rechtshistorischer und verwaltungswissenschaftlicher Forschungen als äußerst fruchtbar

Durch die Diskurse über Formen von Staatlichkeit in der Geschichte, den Zerfall von Staaten sowie über unterschiedliche Formen regionaler und globaler Governance stellt sich die Frage nach dem Wesen des Staates: Ist dieser Begriff noch zeitgemäß, um alle diese Phänomene zu erfassen, oder ist er ein Idealtyp, der im 19. Jahrhundert als Endpunkt einer teleologischen Entwicklung konstruiert wurde. Von Staat könnte man also nur dann sprechen, wenn ein Regime diesem normativ aufgeladenen Idealtyp mehr oder weniger entspricht, sonst sei es defizitär. Unausgesprochen galten die westeuropäischen Nationalstaaten als Vorbilder für dieses Staatsverständnis.

Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.):  Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multi-disziplinären Staatlichkeitswissenschaft

Nomos Verlag, Baden-Baden, 289 Seiten, ISBN: 978-3-8487-5861-6, 54 Euro

Autor

Prof. Dr. Manfred Mai ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und seit 1994 in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen als Leiter verschiedener Referate tätig.

 

 

Durch die Diskurse über Formen von Staatlichkeit in der Geschichte, den Zerfall von Staaten sowie über unterschiedliche Formen regionaler und globaler Governance stellt sich die Frage nach dem Wesen des Staates: Ist dieser Begriff noch zeitgemäß, um alle diese Phänomene zu erfassen, oder ist er ein Idealtyp, der im 19. Jahrhundert als Endpunkt einer teleologischen Entwicklung konstruiert wurde. Von Staat könnte man also nur dann sprechen, wenn ein Regime diesem normativ aufgeladenen Idealtyp mehr oder weniger entspricht, sonst sei es defizitär. Unausgesprochen galten die westeuropäischen Nationalstaaten als Vorbilder für dieses Staatsverständnis.

Schon ein erster Einstieg in die verschiedenen Staatlichkeitsdebatten zeigt jedoch, dass „Staat“ nur als eine dynamische Entwicklung auf einem Kontinuum sich verdichtender Staatlichkeit gedacht werden kann. Deutlich wird dies vor allem in den historischen Beiträgen über Staatlichkeit in der Frühmoderne und im Mittelalter. Hier ist der „offene Gebrauch des Terminus ‚Staat‘“ (Martin P. Schennach, S. 43) wesentlich zielführender als eine teleologische Vorstellung von Staat. Es macht daher keinen Sinn, die moderne Vorstellung eines Staates mit ihren normativen Implikationen auf die Analyse älterer Reiche anzuwenden. Der „Staat“ kam, so Schennach mit Bezug auf Moraw in seinem Beitrag über „Frühmoderne Staatlichkeit“, vor allem durch Verdichtung „nach und nach“ zustande, „wobei er vor allem eine zunehmend stärkere administrative und normative Durchdringung des Herrschaftsraums bei gleichzeitiger Monopolisierung von Herrschaftsgewalt im Auge hatte“ (S. 50). Neben dem Prozess der Verdichtung spielen auch Verräumlichung, Institutionalisierung, Bürokratisierung, Zentralisierung, Verrechtlichung und Justizialisierung bei der Herausbildung von Staatlichkeit eine Rolle.

Stefan Esders liefert in seinem Beitrag über „‘Staatlichkeit‘, Governance und Recht im (westlichen) Mittelalter“ weitere Belege für die sich erst allmählich entwickelnde Staatlichkeit. Über 400 Jahre habe es ein „Auf und Ab“ der Staatlichkeit und von Verfeinerungen bestimmter staatlicher Funktionen gegeben. Unabhängig von diesen Entwicklungen gab es mittelalterliche Staatserzählungen wie etwa die klassische Körpermetapher oder das um das Jahr 1000 entstandene Modell der „drei Ordnungen“, nach dem sich die Gesellschaft in „Beter, Krieger und Bauern“ gliedere, deren „aufeinander Angewiesen Sein die Gesellschaft stabil und gottgefällig ausgerichtet halte“ (S. 91). Die mittelalterlichen Staatserzählungen waren geprägt von einem christlichen Weltbild: „Die Obrigkeit verwirklicht demnach Gottes Absichten gemäß einem Stück göttlicher Gerechtigkeit und führt insofern ihre Untertanen einen Schritt zurück zu Gott“ (S. 92).

Einen Sprung in die Gegenwart unternimmt Florian Meinel mit seiner Studie über „Staat und Staatlichkeit in der industriellen Moderne. Variationen eines Problems bei Ernst Forsthoff.“ Die Aktualität dieses Themas wird deutlich, wenn man Forsthoff als Kritiker des technisch-industriellen Fortschritts sieht und nicht nur als den Verwaltungsjuristen und Assistenten von Carl Schmitt. Bereits in den 1930er Jahren hatte er die These aufgestellt, dass ein „Volk des Radios, des Wochenends, der Siedlungen, der Maschinenwerkstätten, der Autobahnen […] an besondere, wesentlich durch Technik und Maschine bestimmte Formen und Lebensbedürfnisse gebunden ist“, auch eines „leistungsfähigen Verwaltungsapparats bedarf“, um integriert zu werden (S. 102). Mit seiner Vorstellung von „Verwaltung als Leistungsträger“ leitete er einen Paradigmenwechsel zu einem leistungsstaatlichen Verwaltungsbegriff ein. So ist es konsequent, wenn der Staat „durch seine Verwaltung auf den Gebieten der Sozialfürsorge, der Gesundheits- und Infrastrukturverwaltung eine politische Gesamtverantwortung für die Art der Lebensführung der meisten übernommen hat, an die die Frage seiner Legitimität unwiderruflich gebunden hat.“ Staatlichkeit ist also eine „existenzielle Notwendigkeit der Daseinsberechtigung“ in der Moderne.

Der Maßstab der Staatlichkeit wird seit Jahren auch an die EU angelegt, die nach Hans-Jürgen Bieling und Martin Große Hüttmann mit Bezug auf Franzius in einem „narrativen Nebel“ verschwinde: „Es gebe heute keine ‚große Erzählung‘ mehr, die ähnlich prägend sei wie die ursprüngliche Erzählung von der Gemeinschaft als Friedensprojekt“ (S. 127). Typisch für die Staatlichkeit der EU sei die „Mischung aus klassischem Interessenausgleich und diplomatischen Aushandlungsprozessen“, die „durch finanzielle Tauschgeschäfte“ erleichtert werden.

Michael Zürn greift einen anderen Aspekt der Staatlichkeitsdebatte auf, wenn er den Populismus als Gegenbewegung zur denationalisierten Staatlichkeit interpretiert. Er sieht in der Tatsache, dass die Orbáns und Salvinis aus freien Wahlen hervorgegangen sind, eine „gesunkene Responsivität des politischen Systems gegenüber den Präferenzen der unteren, stärker heimatverbundenen Gesellschaftsschichten“ (S. 159). Je mehr Kompetenzen die EU erhielt, um so mehr verstärkte sich bei vielen Bürgern das Gefühl der politischen Exklusion. Als größte Herausforderung sieht Zürn, „dass der denationalisierte status quo verändert werden muss, damit er erfolgreich verteidigt werden kann“ (S. 161). Seiner Analyse kann man zustimmen. Dass er keine wohlfeile Empfehlung zur Lösung dieses politischen und diskursiven Dilemmas anbietet, ist nur konsequent.

Einen interessanten Blick über den EU-Tellerrand hinaus bieten die Beiträge von Klaus Schlichte, Jakob Zollmann und Gregor Walter-Drop, die den Formen der Staatlichkeit im kolonialen und gegenwärtigen Afrika (Somalia, Ruanda) nachgehen. Nirgendwo erweist sich die Fragwürdigkeit des normativen Staatsbegriffs deutlicher, als in der Anwendung auf Afrika. „Koloniale Staatlichkeit“ hieß auch „‘Tropenkoller‘ und Wahnsinn“ sowie „Abhängigkeit der Kolonialarmeen von indigenen ‚Hilfstruppen‘“, Schwächen also, die man durch Gewalt, die dadurch zum Normalzustand wurde, zu kaschieren versuchte. „Auch deshalb war der ‚(…) koloniale Staat keine schlichte (oder schlechte) Kopie des europäischen Staatsmodells, sondern eine politische Ordnung sui generis‘“ (Zollmann mit Bezug auf Jureit, S. 194).

Der Sammelband schließt mit drei theoretischen Beiträgen von Wolfgang Seibel, Andreas Anter und Roland A. Römhildt, die noch einmal die „varieties of statehood“ an Klassikern der Verwaltungswissenschaft wie Dwight Waldos, Fritz Morstein Marx und Max Weber diskutieren. Insgesamt bilden die Aufsätze einen sehr guten Einblick in den Diskussionsstand zu den Themen Staat und Staatlichkeit, wobei sich die Einbeziehung historischer, rechtswissenschaftlicher, rechtshistorischer und verwaltungswissenschaftlicher Forschungen als äußerst fruchtbar erweist. Es zeigt sich auch, dass Einzelstudien – wie die über Somalia als Paradigma eines failed state oder die über Forsthoffs Kritik an der Moderne – die oft nur theoretisch geführten Debatten über Staatlichkeit befruchten. Aus der Sicht der Regierungsforschung und Governancetheorie sind diese Beiträge allesamt lesenswert, schließlich müssen auch sie von einem bestimmten Staatsverständnis ausgehen, um etwa unterschiedliche Governancestrukturen zu untersuchen. Damit stellt sich die Frage nach weiteren Studien über andere Staaten, Epochen und Politikfelder. Für die Fruchtbarkeit dieses Vorgehens bietet der vorliegende Band zahlreiche grundlegende Einsichten und Anregungen. Nur über weitere Fallstudien lässt sich die Theorie des Staates und der Staatlichkeit weiter festigen. Die vorliegenden Studien ermutigen zu einem solchen Vorgehen, das als wissenschaftspolitisches Programm mehr als nur ein Schwerpunkt an nur einer Universität sein sollte. Insofern ist der vorliegenden Band auch eine Einladung an die Politikwissenschaft, sich daran zu orientieren und zu beteiligen.

Zitationshinweis:

Mai, Manfred (2020): Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.):  Von Staat zu Staatlichkeit. Beiträge zu einer multi-disziplinären Staatlichkeitswissenschaft, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/gunnar-folke-schuppert-hrsg-von-staat-zu-staatlichkeit/

 

This work by Manfred Mai is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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