Kishore Mahbubani: Hat China schon gewonnen? Chinas Aufstieg zur neuen Weltmacht

Laut Jürgen Turek, der Senior Fellow am Centrum für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Inhaber der Turek Consultant ist, entwirft der Diplomat Kishore Mahbubani in seinem Band Hat China schon gewonnen? Chinas Aufstieg zur neuen Weltmacht ein vernunftgeleitetes Szenario, das die zentralen geopolitischen Konflikte zwischen den beiden Weltmächten thematisiert und dabei ein Modell des konstruk- tiven Miteinanders entwickeln will. Ein lesenswertes Buch für alle, die sich für internationale Entwicklungen interessieren.

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine Anfang 2022 hat sich die seit 1945 entwickelte europäische Nachkriegsordnung über Nacht in dramatischer Weise aufgelöst. Angesichts der russischen Forderung gegenüber der NATO, die Einverleibung der Ukraine als russisches Gebiet zu akzeptieren und den restlichen russischen Einflussbereich in Ost- und Südosteuropa vollumfänglich zu respektieren, stellt sich damit die Frage nach der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur und der Verlässlichkeit der darin agierenden politischen Akteure neu.

Kishore Mahbubani: Hat China schon gewonnen? Chinas Aufstieg zur neuen Weltmacht

Plassen Verlag, Kulmbach, 2021, 383 Seiten, ISBN 978-3-86470-773-5, 24,90 Euro

Autor

Jürgen Turek, M. A., ist Inhaber der Turek Consultant in München und Senior Fellow am Centrum für angewandte Politikforschung (C•A•P) der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

 

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine Anfang 2022 hat sich die seit 1945 entwickelte europäische Nachkriegsordnung über Nacht in dramatischer Weise aufgelöst. Angesichts der russischen Forderung gegenüber der NATO, die Einverleibung der Ukraine als russisches Gebiet zu akzeptieren und den restlichen russischen Einflussbereich in Ost- und Südosteuropa vollumfänglich zu respektieren, stellt sich damit die Frage nach der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur und der Verlässlichkeit der darin agierenden politischen Akteure neu. Gleichzeitig wirft dieser historische Vorgang das Licht auf die beiden Supermächte USA und Russland und es stellt sich die Frage, welche Rolle insbesondere Russland in der geopolitischen Machtarchitektur der Weltpolitik in Zukunft spielen wird. Die Ereignisse überdeckten dabei für den Hauch eines Augenblicks den kontinuierlich wachsenden Einfluss Chinas, das in den letzten fünf Jahrzehnten nicht nur wirtschaftlich überdurchschnittlich gewachsen ist, sondern im Rahmen seiner Ansprüche und militärischen Fähigkeiten nach dem Status einer Weltmacht giert und diesen mittlerweile für sich beanspruchen kann. Das europäische Kriegsbeben hat dabei offenbart, dass es im 21. Jahrhundert eine starke Großmachtkonstellation zwischen China und den USA geben wird, nachdem sich Russland von seiner ehemaligen Rolle als Weltmacht verabschiedet und aufgrund der geschichtsrevisionistischen Verirrungen des Putin-Regimes und seiner Kriegsverbrechen in der Ukraine als Paria der Weltpolitik auf Jahre diskreditiert hat.

Chinas Aufstieg zur neuen Supermacht

Chinas Gewicht ist dabei heute schon so groß, dass es für die USA ein ernst zu nehmender Rivale, für einige Staaten Südostasiens eine Bedrohung und für Europa eine wettbewerbs- und industriepolitische Herausforderung geworden ist. Doch wie stark ist China wirklich und wie aggressiv wird es seine Entwicklungsinteressen verfolgen? Dominieren hier Ansätze von Kooperation und Multilateralismus oder Konfrontation und nationale Dominanz? Dieser Frage geht Kishore Mahbubani nach. Er ist ehemaliger singalesischer Diplomat und Politologe, der sich in seinem Buch mit der Frage beschäftigt, zu wessen Gunsten die zentrale geopolitische Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts um die Vorherrschaft auf dem Globus ausgehen wird: zugunsten der USA oder Chinas. Hierbei spiele es keine Rolle mehr, ob China ein globaler Player sein wird. Die Entwicklung des Landes und seine sozio-ökonomische und militärische Statur zeige deutlich auf, dass China eine Supermacht und dass die Auseinandersetzung zwischen China und der westlichen Welt in erster Linie ein Systemkonflikt sei. Ein realistischer Blick auf die derzeitige politische Konstitution beider Länder sei hierbei nötig, so Mahbubani, der dabei nach Perspektiven eines konstruktiven Miteinanders von Amerikanern und Chinesen sucht. Dabei konzentriert er sich vor allem auf die gegenseitigen Perzeptionen der Antagonisten, die durchaus nicht nur von Realismus, gegenseitiger Wertschätzung und Verständnis durchdrungen seien, sondern auch von tiefsitzendem Misstrauen, fatalen Missverständnissen und strategischen Fehleinschätzungen.

Das amerikanisch-chinesische Verhältnis im Koordinatensystem strategischer Divergenzen

Im Rahmen dieser komplexen Perzeptionen weist Mahbubani auf strategische Fehleinschätzungen der USA und Chinas im gegenseitigen Umgang miteinander hin. So sei die chinesische Entfremdung von der US-Wirtschaft und der Handelskrieg zwischen beiden Ländern einer zunehmenden Überheblichkeit der chinesischen Eliten geschuldet, die amerikanische Vorwürfe hinsichtlich chinesischen Fehlverhaltens mit Blick auf die Achtung geistigen Eigentums oder unfairer Handelspraktiken ignorierten. So wurden US-Unternehmen verprellt und der Anschein entstand, dass China nicht nur an einer Wohlstandsstrategie des Landes interessiert sei, sondern strategische geopolitische Bereiche und zukunftsträchtige Technologiefelder für sich beanspruchen wolle. Auch die Amerikaner sähen auf eine ganze Reihe von Fehleinschätzungen im gegenseitigen Verhältnis zurück. Besonders deutlich seien diese in der Ära Trump zum Ausdruck gekommen. Donald Trump habe sich nicht im Rahmen einer differenzierten China-Strategie mit China auseinandergesetzt, sondern sich im Rahmen von irrationalen und erratischen Reaktionsketten in sinnlosen protektionistischen Maßnahmen verzettelt. Grundlage dieser großmachtpolitischen Arroganz sei insbesondere die Vorstellung, dass der US-Dollar auf immerwährende Zeit Leitwährung der Weltwirtschaft bleibe und dass man sich in den USA schlecht vorstellen könne, dass Amerika gemessen am Bruttoinlandsprodukt und seiner militärischen Macht nicht mehr die führende Nation der Welt sein werde. Beides sei jedoch möglich und sogar wahrscheinlich, auch wenn die chinesische Währung Renminbi aus verschiedenen Gründen nicht zur Leitwährung tauge.1 Insgesamt sei die Lage in den USA mit Blick auf die gewaltigen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite jedoch weniger komfortabel, als von den Amerikanern gedacht. Allerdings würde Amerika seine selbstgefällige intellektuelle Komfortzone nicht verlassen und sich auf eine Fortführung seiner gewohnten Großmachtpolitik im Sinne des „Make America great again“ konzentrieren. Ein strategisches Denken mit Blick auf wesentliche innen- und außenpolitische Weichenstellungen finde hingegen nicht statt, was die Chinesen spürten und sich im Rahmen eigener strategischer Positionierungen zunutze machen würden. Dies zeigten das Projekt der neuen ‚Seidenstraße‘ (Belt & Road-Initiative) und die massiven strategisch klug gewählten Kontaktanbahnungen von China mit rohstoffreichen Ländern exemplarisch auf. Vor diesem Hintergrund stellt sich für den singalesischen Diplomaten die zentrale Frage, ob China als flexible Meritokratie politisch wirkungsmächtig und sozial stabil bleibe und ob Amerika sich durch eine weiterhin robuste sozio-ökonomische Statur und funktionierende Demokratie als führende Weltmacht demgegenüber behaupten könne. Die politische Systemstabilität Amerikas und Chinas sei die wichtigste Voraussetzung für die gegenseitige Wahrnehmung von Widerspruchsfreiheiten und einer strategischen Kongruenz in zentralen Fragen der Weltpolitik, die nicht durch Misstrauen oder einer gegenseitigen Geringschätzung massiv behindert, sondern durch unvermeidliche Einsichten in die gegenseitigen Fähigkeiten und den gegenseitigen Respekt geprägt wird. Vor diesem Hintergrund sei es wichtig zu prüfen, durch welche Perzeptionen die Ausgangslage in diesen beiden Staaten eigentlich geprägt seien. Die Beschreibung dieser Wahrnehmungsmuster lässt der Autor dann nicht unkommentiert.

Eine expansionistische Haltung Chinas sei zum Beispiel für viele Eliten in den USA und weite Teile des Westens evident. Belegt werde sie von der Ein-China-Politik des Landes, der vorzeitigen vertragswidrigen Inkorporation Hongkongs, der permanenten Spannungen zwischen China und Tibet, der Militarisierung seiner Inseln im südchinesischen Meer und natürlich mit den territorialen Ansprüchen gegenüber Taiwan. Mahbubani relativiert solche Eindrücke mit dem Hinweis auf spröde Informationslagen etwa zur Militarisierung der Spratly-Inseln im südchinesischen Meer, die von Informationen der „Five Eyes“2 durchdrungen sei, oder der nicht expansionistischen Geschichte Chinas. Mit Blick auf Taiwan bemerkt der Diplomat, dass Chinas Wunsch nach einer Wiedervereinigung mit Taiwan keine expansionistische oder aggressive Haltung sei, sondern lediglich eine „Restitution“ anstrebe (S. 106).3 Die permanenten hegemonialen, demokratischen und menschenrechtlichen Anmaßungen der USA seien demgegenüber ein Ärgernis und eine Provokation für Peking. Die Anregung für die USA sei, ihre Rolle als liberaler Hegemon abzulegen, ihre Superrüstung auf ein notwendiges Maß zu beschränken und ihre Auslandseinsätze vor dem Hintergrund eines echten strategischen globalen Denkansatzes zu beenden. Die USA verfügten über zahlreiche internationale ‚Denkfabriken‘, die mit ihrem enormen Sachverstand von Einsätzen wie im Irak 2003 hätten abraten müssen. Doch der militärisch-industrielle Komplex habe sich durchgesetzt und es bestünde eine Neigung der USA, sich im Übrigen auch aus einem zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Rest der Welt weiterhin im Ausland engagieren zu wollen.

Politischer Systemwettbewerb entscheidend

Damit Amerika angemessen auf die Herausforderung durch China reagieren könne, müsse es eine gewaltige Kehrtwende vollziehen. Dazu gehörten eine grundlegende sozialpolitische Reform des amerikanischen politischen Systems, eine Kürzung der Rüstungsausgaben, die Abkehr von allen militärischen Interventionen in der islamischen Welt und die Verbesserung der diplomatischen Fähigkeiten. Angesichts der starken konservativen Lobbyverbände in den USA und der national-patriotischen Grundfärbung des American way of (political) life sei es allerdings unrealistisch, dass es in den USA hierüber eine Debatte ‚ohne Not‘ geben könne, selbst wenn das Land in Gefahr gerate, mit Blick auf China nur noch zur Nummer 2 der Weltmächte zu gehören. Genauso unrealistisch sei es, von China irgendeine Hinwendung zur westlichen Demokratie zu erwarten.  Das Land habe sich mit der Bestätigung der unbegrenzten Machtausübung durch seinen Führer Xi Jinping dazu entschieden, eine innere Erosion durch Lagerbildung innerhalb der kommunistischen Partei und der grassierenden Korruption entgegen zu wirken und somit den sowjetischen Zerfall nach dem Ende des Kalten Krieges nicht zu wiederholen. Obwohl in einigen Dingen mit der kommunistischen Partei der UdSSR ähnlich, habe China nie ein expansionistisches oder weltverbesserndes Konzept wie Russland (und die USA) verfolgt. Insofern sei China eine Status-Quo-Macht und keine revolutionäre Macht mit Weltherrschaftsgelüsten, was das Land allerdings nicht davon abhalte, seine nationalen Interessen hart durch Boykotts oder Handelskriege zu vertreten. Insgesamt sei das außenpolitische Verhalten beider Länder somit ein Resultat ihrer inneren Verfassung und ihrer machtpolitischen Projektionsmöglichkeiten. Insofern zeigt der Autor nicht nur Schwächen des chinesischen Weges und die Schwierigkeiten der chinesischen Sozialentwicklung auf, sondern weist auch auf die Deformationen der amerikanischen Gesellschaft mit Blick auf einen unreflektierten Patriotismus und die wachsende soziale Ungleichheit hin. Für ihn wird eine kritische Selbstreflektion in Amerika ein wesentliches Element, die vermeintliche eigene moralische und systemische Überlegenheit zu überdenken und eine andere Empathie gegenüber China zu entwickeln. Gleichzeitig weist er auf die enormen ökonomischen Vorteile hin, die Amerika dann realisieren könnte, wenn das Land sich wieder mehr auf die internationale Zusammenarbeit und den Multilateralismus etwa im Rahmen der internationalen Handelsabkommen konzentrieren würde. Dies bezöge sich etwa explizit auf die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), ein seit 2020 bestehendes Handelsabkommen, an dem die zehn ASEAN-Mitglieder sowie Australien, China, Japan, Neuseeland und Südkorea beteiligt sind. Wenn man insgesamt die innergesellschaftlichen Zustände und die geopolitischen Ambitionen Chinas und Amerikas gegenüberstelle, ließe sich die Frage nach der zukünftigen Position im Weltmachtranking aus Sicht Mahbubanis als Ergebnis des politischen Systemwettbewerbs darstellen: Für die Frage, ob China oder die USA an erster Stelle des Rankings stünden, würden die jeweiligen Stärken und Schwächen der politischen Systeme eine zentrale Rolle spielen. Ginge es bei dem Wettstreit um einen Wettbewerb zwischen einer gesunden und flexiblen Demokratie und einem starren und unflexiblen kommunistischen Parteiensystem, dann werde sich Amerika durchsetzen. Ginge es bei dem Wettstreit jedoch um eine starre und unflexible Plutokratie (Herrschaft der Besitzenden und Reichen) und ein elastisches und flexibles politisches System, das auf Meritokratie (Herrschaft der ‚Verdienstvollen‘ oder Ausgewählten) basiere, dann werde China gewinnen.

Im Rahmen dieser jeweils komplizierten innenpolitischen Ausgangslagen und der geopolitischen Gemengelage wartet Mahbubani dann mit einem paradoxen Fazit auf. Für ihn ist eine größere geopolitische Auseinandersetzung zwischen den USA und China unvermeidbar. Dies liege an den schwer veränderbaren Mentalitäten der amerikanischen und chinesischen Führungen. Während die USA von einem Drang durchdrungen seien, Demokratie und Freiheit in der Welt als Führungsmacht zu verteidigen, habe China keinerlei Interesse, sein System zu exportieren. Alleine diese wertepolitischen Verhärtungen ließen diesen Konflikt fast zwangsweise eskalieren. Hinzu kämen Streitigkeiten im handels- und industriepolitischen Bereich, bei denen die Konflikte um faire Handelspraktiken, Transport- und Seewege oder geistiges Eigentum immer auch wieder prinzipiell in geopolitische Kraftmeiereien einmündeten. Das beste Beispiel hierfür seien die Reibereien um Inseln oder Handelswege der internationalen Schifffahrt im südchinesischen Meer. Und schließlich seien insbesondere die westlichen Eliten innerlich von der vermeintlichen „gelben Gefahr“ durchdrungen, die eine psychologisch schwer zu verstehende Angst vor den Chinesen und eine vermeintlich kulturelle Bedrohung für die westliche Zivilisation zum Gegenstand hat.

Allerdings, und dies ist das Fazit, gäbe es realiter Widerspruchsfreiheiten zwischen China und den USA, die sich produktiv umsetzen ließen und Spannungen reduzieren könnten. Erstens seien beide Nationen in erster Linie daran interessiert, das Wohlergehen ihrer Bevölkerungen zu verbessern. Amerika sollte deshalb sein Interesse kritisch reflektieren im Ausland militärisch zu intervenieren. Das Geld sei besser in die sozio-ökonomische Entwicklung der USA investiert. Es liege auch in Chinas nationalem Interesse, das Wohlergehen seiner Bevölkerung zu priorisieren, um eine weitere Entwicklung des Landes zu ermöglichen. Eine geopolitische Konfrontation mit den USA würde Kosten erzeugen, die keinen entsprechenden Gegenwert hätten. Zweitens gäbe es eine grundlegende Widerspruchsfreiheit in der Frage, ob die Kräfte des Klimawandels gebremst werden sollten. Mache der Klimawandel den Planeten schrittweise immer unbewohnbarer, dann wären Chinesen und Amerikaner gemeinsam Passagiere auf einem sinkenden Schiff. Drittens fände sich eine Widerspruchsfreiheit überraschender Weise auf ideologischer Ebene. China strebe keine ideologisch inspirierte Vormachtstellung an, weder global noch regional. Die wahre Herausforderung seien der Erfolg und die Konkurrenzfähigkeit der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft. Wie gut es Amerika gehen würde, werde von internen Faktoren und nicht von externen Bedrohungen abhängen. Viertens gäbe es eine kulturelle Widerspruchsfreiheit. Es werde im Sinne von Huntingtons „Clash of Civilizations“ keinen Kulturkrieg zwischen China und den Vereinigten Staaten geben. Entgegen historisch entstandenen Vorurteilen und tiefenpsychologischen Ressentiments gäbe es im Rahmen einer vernunftgetriebenen Politik keinen Grund, dass man Angst vor den Folgen kultureller Unterschiede haben müsse. Der Vormarsch der Vernunft, der im Westen durch die Aufklärung in Gang gesetzt wurde, breite sich global aus, führe in allen Regionen zum Entstehen pragmatischer, lösungsorientierter Kulturen und ließe es möglich erscheinen, dass sich eine stabile Ordnung und nachhaltige Regelungen entwickelten. Und fünftens gäbe es noch einen Bereich der vermeintlichen Widersprüche hinsichtlich politischer Werte. Hier würde tatsächlich nur diese Widersprüchlichkeit entstehen, wenn China versuchen würde, seine Werte nach Amerika zu exportieren, und wenn Amerika die gleiche Absicht hätte. Hinsichtlich des Verhaltens Chinas gegenüber Minderheiten oder anderer Verfehlungen nationaler Politik sei im Übrigen anzumerken, dass auch die USA im Kampf gegen den islamistischen Terror zivile Opfer bereitwillig in Kauf genommen hätten. Beide Länder müssten sich bewusst sein, dass ihnen berechtigte Vorwürfe mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen gemacht werden müssten: zum Beispiel im Rahmen der Behandlung von Uiguren in China, die dort als Terroristen tituliert, inhaftiert und ‚umerzogen‘ werden; oder die Inhaftierung und Folterung vermeintlicher Terroristen in Guantanamo oder Abu Ghraib sowie die Hinnahme von Kollateralschäden bei Drohnenangriffen der Amerikaner im Nahen und Mittleren Osten. Wenn beide Regierungen den langfristigen Vorteil erkennen könnten, der in einem abgestimmten Handeln gegenüber Terroristen liege, und die massiven Anstrengungen der 1,3 Milliarden Muslime im ‚grünen Gürtel‘ der Erde bei ihrer Modernisierung fördern würden (zum Beispiel in Indonesien, Malaysia, Pakistan und Bangladesch), würden sich mit der Zeit die Erfolge dieser islamischen Gesellschaften positiv auf einige der stärker problembehafteten arabischen Nationen im Mittleren Osten auswirken. Alles in allem würden sich durch das Erkennen dieser Widerspruchsfreiheiten Potenziale für eine konstruktive Zusammenarbeit eröffnen. Und auf diesem Weg würden Amerika und China ihren Beitrag dazu leisten, dass ihre eigenen Bevölkerungen einer Zukunft entgegenblicken können, die mehr Sicherheit böte. Kurzum: Wenn sich Amerika und China auf das zentrale Interesse konzentrieren, das Leben und das Wohlergehen ihrer Bürger zu verbessern, werde ihnen auch klar werden, dass es bei den langfristigen nationalen Interessen der beiden Staaten keine grundlegenden Widersprüche gibt. Im Sinne Henry Kissingers, der mit seiner Schrift „Weltordnung“4 für ein realpolitisch grundiertes Miteinander plädierte, hebt auch Muhbabani dabei die Notwendigkeit einer Weltordnung hervor, die nicht der Illusion unterliegt, es könne eine Weltgemeinschaft ohne Konflikte oder Kriege geben. Um diese zumindest zu begrenzen plädiert er für eine Weltordnung, die sich an demokratischen Grundsätzen orientiert, jedoch die verschiedenen Kulturen und ihre Wertvorstellungen in hohem Maße einbezieht.

Damit skizziert der singalesische Diplomat ein idealtypisches internationales Miteinander zwischen China und Amerika. Er schreibt ein vernunftgeleitetes Szenario, das die zentralen geopolitischen Konflikte zwischen den beiden Weltmächten thematisiert und dabei ein Modell des konstruktiven Miteinanders entwickeln will. Seine Haltung orientiert sich dabei an einer wertegeleiteten multilateralen Realpolitik. Reiben kann man sich an Einzelheiten der globalen geostrategischen Lageanalyse, die wichtig für das Verständnis der geopolitischen Voraussetzungen für China und der USA sind. Hier zieht er etwa Europa zum Verständnis der Ausgangslagen in den USA und China als Vergleich heran. Er schreibt: „Europa leidet unter dem Fluch einer ungünstigen Geografie. Im 21. Jahrhundert werden es nicht Russlands Panzer und Raketen sein, die Europa bedrohen. Die Wahrscheinlichkeit eines direkten Kriegs mit Russland liegt praktisch bei null, selbst wenn es an Orten wie dem ehemaligen Jugoslawien und der Ukraine zu Stellvertreterkriegen kommen kann“ (S. 222). Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Frühjahr 2022 hat dabei gezeigt, dass dieser Krieg einen langen programmatischen Vorlauf hatte und eine tiefgreifende geostrategische Perspektive für Russland umfasst. Insofern wirkt auch die Prognose einer engen amerikanisch-russischen Kooperation als Gegengewicht zum Aufstieg Chinas aus der Zeit gefallen: „(…) aber ich prognostiziere, dass sich Russland mit der Zeit zu einem wichtigen Verbündeten Amerikas entwickeln wird, wenn der geografische Wettkampf zwischen Amerika und China intensiver wird“ (S. 248). Angesichts der wirren geschichtsrevisionistischen Haltung Russlands und seiner Angriffskriege im Mittleren Osten und schließlich in der Ukraine erscheint der Aufbau einer robusten Kooperationsstruktur für die absehbare Zukunft dann als unwahrscheinlich bis ausgeschlossen, wenn es nicht zu einem Regime- und Systemwechsel kommt. Auch wirkt die Beurteilung der geostrategischen Haltung Chinas sehr sanft. Zu sehr vermutet man in China eine – wenigstens – egozentrische Sicht der Dinge, die sich in einer geschickten und genau kalkulierten Interessenpolitik nach außen offenbart und auch mit Blick auf Taiwan besorgniserregend scheint. Die ‚Belt & Road-Initiative‘ (Neue Seidenstraße) etwa zeigt auf, dass es hier nicht nur um ein gigantisches Infrastrukturvorhaben geht, sondern auch, wie China durch Infrastrukturvorhaben, Investitionsabkommen und Industriebeteiligungen ganz gezielt politischen Einfluss erlangen will. Trotzdem ist dieses Buch sehr gut und lesenswert. Dieser Standpunkt eines asiatischen Spitzendiplomaten zur Führungsrolle der zwei gewichtigsten Staaten in dieser Welt nimmt viele Fährten der internationalen Entwicklung kenntnisreich und detailliert auf. Dabei kommen Betrachtungen zum politischen Umfeld der Akteure nicht zu kurz, wobei dieser Aspekt eher für China mit Blick auf seine zahlreichen Nachbarn von Interesse ist. Mahbubani stützt seine Betrachtung auf die so wichtigen Grundlagen der jeweiligen Identität und sozio-ökonomischen Statur der handelnden Akteure, deren Qualität für diese Führungsrolle zweifellos evident und für den Leser als Orientierungspunkt der Ausgangsfrage wichtig zu erkennen ist. Und er wertet Handlungsoptionen aus. So ist sein Buch schließlich auch ein Appell an die Vernunft und ein Leitfaden für ein besseres Verständnis der USA und des Aufsteigers China, deren Verhältnis so wichtig sein wird in einer Welt, die vielerorts schrecklich aus den Fugen zu geraten droht.

Zitationshinweis:

Turek, Jürgen (2022): Kishore Mahbubani: Hat China schon gewonnen?. Chinas Aufstieg, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/kishore-mahbubani-hat-china-schon-gewonnen-chinas-aufstieg-zur-neuen-weltmacht/

This work by Jürgen Turek is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Die Bedeutung und Möglichkeiten des Euro diskutiert er an dieser Stelle leider nicht. []
  2. Es handelt sich dabei um ein Kooperationsnetzwerk der Nachrichtendienste der USA, Australiens, Kanadas, Neuseelands und des Vereinigten Königreichs. []
  3. Hier jedoch kommt bei der Lektüre Unbehagen auf, weil auch Russland zur Begründung seines Angriffskriegs gegen die Ukraine jegliche Aggressivität weit von sich wies, sondern immer darauf hinwies, dass die Ukraine kein eigenständiges Staatsgebiet sei, sondern historisch seit jeher ein Bestandteil Russlands. Das Land gelte es deshalb zu inkorporieren. Inwiefern eine ähnliche Propaganda auch Teil der chinesischen Rhetorik im Taiwan-Konflikt ist, müsste mit dem Autor einmal besprochen werden. Die nachfolgende Argumentation, dass die USA eine Annäherung von China an Taiwan unterstützen sollten, damit sich China an demokratischere Verhaltensweisen gewöhnt, erscheint dann wenig nachvollziehbar und wurde eigentlich auch durch die rigorose Einverleibung Hongkongs widerlegt. []
  4. Vgl. Kissinger, Henry, Weltordnung. München 2014. []

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