Kontinuität statt Zwangsheirat?

Ist Nordrhein-Westfalen ein völlig neuartiges, künstliches Produkt der Zeitumstände, ohne Vorgeschichte und Traditionen, eine Erfindung der Briten? Dieses Bild wirkt bis heute. Schaut man in die ältere Literatur zur Vor- und Gründungsgeschichte Nordrhein-Westfalens, fällt rasch auf, dass es bereits in den 1920er Jahren verschiedene Pläne zur Neuordnung des Deutschen Reiches die Idee zur Gründung eines rheinisch-westfälischen Bundesstaates entwicklen, erklärt Dr. Guido Hitze von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen.

Eigentlich ist die Sache seit langem klar: Nordrhein-Westfalen, dieses Land des ständigen Wandels, dieses Land, welches Zeit seiner Existenz permanenten, mitunter parallel verlaufenden Transformationsprozessen ausgesetzt ist, dieses Land ist selbst entstanden aus einem – fremdbestimmten – Transformationsakt der britischen Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Operation Marriage“, die berühmte Verordnung Nr. 46, oktroyierte im August 1946 die Vereinigung der Reste der preußischen Rheinprovinz, genauer deren nördlichem Teil, mit der Provinz Westfalen. Im Januar 1947 kam dann noch der Freistaat Lippe als dritter Teil hinzu. Fertig war Nordrhein-Westfalen und damit ein völlig neuartiges, künstliches Produkt der Zeitumstände, ohne Vorgeschichte und Traditionen, kurz: Ein Ergebnis eines umfassenden Wandels der politischen Verhältnisse. Dieses Bild ist populär und wirkt bis heute.

Kontinuität statt Zwangsheirat?

Weshalb die Gründung Nordrhein-Westfalens zwar ein Transformationsakt der Briten, aber keine neue Idee gewesen ist

Autor

Dr. Guido Hitze ist Historiker und Politikwissenschaftler und Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er Leiter der Planungsgruppe “Geschichte, Politik und Demokratie Nordrhein-Westfalens” für ein “Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen” beim nordrhein-westfälischen Landtag. Seit 2018 hat er einen Lehrauftrag an der NRW-School of Governance. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Landes-, Parteien- und Parlamentsgeschichte Nordrhein-Westfalens, der Landesgeschichte Schlesiens, der Geschichte des Politischen Katholizismus in Deutschland und Fragen der historisch-politischen Bildung, insbesondere der Erinnerungskultur.

Eigentlich ist die Sache seit langem klar: Nordrhein-Westfalen, dieses Land des ständigen Wandels, dieses Land, welches Zeit seiner Existenz permanenten, mitunter parallel verlaufenden Transformationsprozessen ausgesetzt ist, dieses Land ist selbst entstanden aus einem – fremdbestimmten – Transformationsakt der britischen Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Operation Marriage“, die berühmte Verordnung Nr. 46, oktroyierte im August 1946 die Vereinigung der Reste der preußischen Rheinprovinz, genauer deren nördlichem Teil, mit der Provinz Westfalen. Im Januar 1947 kam dann noch der Freistaat Lippe als dritter Teil hinzu. Fertig war Nordrhein-Westfalen und damit ein völlig neuartiges, künstliches Produkt der Zeitumstände, ohne Vorgeschichte und Traditionen, kurz: Ein Ergebnis eines umfassenden Wandels der politischen Verhältnisse. Dieses Bild ist populär und wirkt bis heute.

Im Jahre 1986 präsentierte die Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel „Im Westen was Neues“ eine historische Ausstellung zu den Anfängen Nordrhein-Westfalens. Wie der Ausstellungstitel schon nahelegte, sollte hier der vollkommen neue Charakter des von den Briten geschaffenen Landes im Kontrast zu den Traditionslinien Preußens und des nationalsozialistischen Dritten Reichs herausgearbeitet und betont werden. Entsprechend stellte der Historiker Rolf Steininger in seinem einführenden Beitrag gleich zu Beginn klar, die Entscheidung zur Landesgründung 1946 sei „eine britische Entscheidung“ gewesen, ungeachtet der „vielen Legenden über die Rolle der Deutschen“, denn die Deutschen hätten definitiv „bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt“. Das Land Nordrhein-Westfalen sei „eine Schöpfung der britischen Besatzungsmacht“, ohne die „dieses Land gar nicht vorstellbar“ sei; seine Entstehung sei „schlichtweg ein Stück europäische Geschichte“ (Steininger 1986: 15). Im gleichen Jahr und aus demselben Anlass gab der Düsseldorfer Landeshistoriker Peter Hüttenberger einen eigenen Jubiläumsband zu vierzig Jahren Nordrhein-Westfalen heraus, in dessen Einleitung er festhielt, die Briten hätten mit Nordrhein-Westfalen „ein Land ohne eigene Vorläufer und Staatstraditionen“ errichtet (Hüttenberger 1986: 8). Im gleichen Band konstatierte Hansgeorg Molitor, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen „Bindestrichländer“, so auch Nordrhein-Westfalen, hätten sich von Anfang an „den Vorwurf gefallen lassen“ müssen, „Zufallsschöpfungen“ zu sein, „deren Existenz und äußerer Zuschnitt sich weder historisch begründen ließen noch überhaupt einen Sinn gäben“, zumal allein schon Bezeichnung und Schreibweise dieser Länder „einen Beweis für die Künstlichkeit der Gebilde“ lieferten (Molitor 1986: 15). Ein knappes Vierteljahrhundert später bekräftigte Klaus Pabst Molitors Analyse, indem er von den „‘Bindestrich-Ländern‘ aus der Retorte“ schrieb (Pabst 2010: 74). Ebenfalls wie eine Bestätigung der Beobachtung Molitors klang die Behauptung Gerhard Brunns in der Einleitung zu seinem etwa zeitgleich mit Hüttenbergers Sammelwerk herausgegebenen Band zu Nordrhein-Westfalen und seinen Anfängen, das neue „Bindestrich-Land“ an Rhein und Ruhr sei, anders als etwa das tausend Jahre alte Bayern, schlicht ein „Kunstgebilde“ (Brunn 1986: 7). In derselben Publikation fragte der Kölner Historiker Otto Dann nach einer „Vorgeschichte von Nordrhein-Westfalen“, nur um diese Frage sogleich negativ zu bescheiden: Das Land sei „eine wirkliche Neuschöpfung“ gewesen, schrieb er einleitend, ehe er die erkenntnisleitende Fragestellung am Ende seines Beitrages noch einmal mit einem klaren „Nein“ beantwortete, wenn damit „eine geschichtlich bedingte Zusammengehörigkeit des Rheinlandes und Westfalens“ gemeint sei. Dann mahnte seine Historikerkollegen ausdrücklich, keine „historische[n] Ätiologien und Legitimationen für einen Akt der britischen Deutschlandpolitik des Jahres 1946 zu konstruieren“, denn Nordrhein-Westfalen besitze „eine unmittelbare Entstehungsgeschichte“ nur im Zusammenhang mit eben jener (Dann 1986: 29, 37).

Die zahlreichen Veröffentlichungen zum vierzigjährigen Bestehen Nordrhein-Westfalens wirkten offenbar stilbildend für nachfolgende Landesjubiläen und Publikationen, vor allem solche eher populärwissenschaftlichen Charakters. In ihrem eingängig geschriebenen, 2000 erschienen Landes-porträt von Nordrhein-Westfalen sprachen die Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann und Patrick Brandenburg – bewusst die Topoi von Transformation und Wandel einsetzend – davon, Nordrhein-Westfalen habe in der Zwischenzeit seinen Weg vom „provisorischen Bindestrichland – von der britischen Besatzung am Reißbrett schnell zusammengeklammert – [in] eine europäische Kernregion“ gefunden. Da die Deutschen „bei der Entscheidung für Nordrhein-Westfalen“ seinerzeit „kaum gefragt“ worden seien, bleibe es bei der klaren Feststellung: „NRW ist eine britische Erfindung“ (Alemann/Brandenburg 2000: 13, 26). Zum sechzigjährigen Landesjubiläum 2006 sprachen die Herausgeber Jürgen Brautmeier und Ulrich Heinemann im Vorwort zu „Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten“ vom „gemeinsamen Land Nordrhein-Westfalen“ als einem „von den Alliierten 1946 im sogenannten ‚Unternehmen Hochzeit‘“ zusammengeführten „Kunstgebilde“ (Brautmeier/Heinemann 2007: 7). Der Journalist Ulrich Reitz konstatierte schließlich in seinem für den von Bodo Hombach 2019 herausgegeben Band „Heimat und Macht“ geschriebenen Essay zur Landesgeschichte trocken-sarkastisch: „Nordrhein-Westfalen ist, genau betrachtet, nicht eine Entscheidung, sondern ein Befehl. Ein Oktroi. Null Selbstbestimmung“ (Reitz 2019: 72f.).

Die auf den britischen Codenamen zurückgehende Metapher von der Ehe wurde inner- wie außerhalb des Landes schon lange als Sinnbild für die Verbindung von Rheinland und Westfalen gebraucht und erreichte 2006 eine ganz neue Popularität, weil sie vor allem als Aufhänger für beliebte und daher erfolgreiche Kabarettprogramme wie „Es ist furchtbar, aber es geht“ oder „Was Gott getrennt hat, darf der Mensch nicht verbinden“ diente. So konnte es nicht ausbleiben, dass im Begleitbuch zum großen WDR-Jubiläumsfilm aus Anlass des 70. Landesgeburtstags der Autor Jan Wucherpfennig sogar Anleihen bei William Shakespeare nahm und von der „Widerspenstigen Zähmung“ sprach, bei der „Nordrhein und Westfalen“ unter Anleitung der Briten zu einer „Vernunftehe“ zusammengeführt worden seien (Wucherpfennig 2016: 10). Die gleiche Botschaft sandte auch ein anderes WDR-Format aus, der für die Reihe „Doku am Freitag“ von der Redakteurin Nina Koshofer in Zusammenarbeit mit jungen Geschichtsstudenten der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf produzierte Film „‘Operation Hochzeit‘ – Wie die Briten NRW erfunden haben“.

Wenn also der historiographische Mainstream seit den 1970er Jahren, wie oben aufgezeigt, Recht hatte, dann entsprangen die Planungen zur Gründung Nordrhein-Westfalens allein britischen Überlegungen, die wiederum – ohne jede Vorbilder, Vorläufer oder gar Kontinuitäten – ausschließlich aus tagesaktuellen Erwägungen, taktischen Motiven und geostrategischen Planungen heraus angestellt worden waren. Ohne Mitwirkung oder Kenntnis der deutschen Seite. Geschaffen war damit ein höchst wirksamer Mythos in dem an Legenden und populären Geschichtsbildern so reichen historischen Bewusstsein Nordrhein-Westfalens. Ein Mythos, der logisch erschien und mit dem es sich vor allem trefflich leben ließ: Wenn Nordrhein-Westfalen, immerhin das unbestrittene ökonomische und politische „Kernland“ der „alten“ Bundesrepublik bis 1990 und auch nach der Wiedervereinigung das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Bundesland, einzig das Resultat der ominösen „Stunde Null“ und des Kalten Krieges war, dann war es auch ein von Anfang an „modernes“ Land, frei von überkommenen Traditionen und vor allem Verantwortlichkeiten, insbesondere für die Zeit des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs. Das alles konnte man den früher herrschenden „preußischen Verhältnissen“ zuweisen, die von den Alliierten ja glücklicherweise beendet worden waren. Die liebevoll gepflegten landsmannschaftlichen Gegensätze ihrerseits waren nicht nur folkloristischer Natur, sie dienten auch zur Unterstreichung der gewaltigen politischen und ökonomischen Leistungen, die Nordrhein-Westfalen trotz der widrigen, von außen künstlich erzwungenen Zusammenführung widerstreitender Interessen und Mentalitäten seiner Bevölkerungsteile zu einer fortdauernden Erfolgsgeschichte gemacht hatten und weiter machten. Anlässlich des 60. Landesgeburtstages 2006 frohlockte der damalige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers geradezu euphorisch, aus der vormaligen „Zwangsehe“ sei inzwischen eine regelrechte „Liebesheirat“ geworden (Kölnische Rundschau 23.08.2006). Hinzu kam, dass die so oft und gerne gerühmte einmalige „Vielfalt“ dieses Landes sich um so leichter pflegen und immer weiter vergrößern ließ, je beliebiger, das heißt traditionsloser seine Strukturen erschienen. Schließlich entsprach dieses Selbstbild auch der Art der eigenen, über viele Jahrzehnte und Regierungswechsel hinweg praktizierten politischen Inszenierung: Das Land nahm sich zugunsten seiner Teilregionen zurück und reduzierte sich weitgehend auf den Status einer modernen, technokratischen, moderierenden und organisierenden Verwaltungseinheit. Für emotionale Bindungen, kulturelle Traditionen und positive Gefühle wie „Heimat“ waren andere zuständig: Landschaftsverbände, Kommunen, Vereine, der Sport, die Kunst und die Zivilgesellschaft.

Schließlich hatte die Saga von der traditionslosen, fremdbestimmten und ohne jedes eigene Zutun der Deutschen erfolgten Zusammenführung von Rheinland und Westfalen mit einem weiteren, überaus wirkmächtigen Mythos der Landesgeschichte zu tun. Gemeint ist die Behauptung, bei Nordrhein-Westfalen handele es sich von Beginn an um ein „sozialdemokratisches Stammland“. Obwohl das Gegenteil richtig ist, setzte sich die im Vorfeld des Landtagswahlkampfes 1985 entwickelte steile These des seinerzeitigen SPD-Landesgeschäftsführers Bodo Hombach in den Köpfen der Medienschaffenden und intellektuellen Multiplikatoren in und außerhalb Nordrhein-Westfalens erst fest und dann durch (Hitze 2005). Vor dem Hintergrund des Machtwechsels von 1966 und der von da an ununterbrochenen Funktion der SPD als Regierungspartei, vor allem aber angesichts der 1985 und 1990 von den Sozialdemokraten erzielten absoluten Mehrheiten an Stimmen und Mandaten erschien diese neue Meistererzählung auch plausibel. Und sie passte hervorragend zum eingangs beschriebenen nordrhein-westfälischen Gründungsmythos, ja sie bedingte ihn geradezu. Denn angesichts der Tatsache, dass die Briten bei ihrer Entscheidung, die Nordrhein-Provinz und Westfalen zu einem neuen, großen Land miteinander zu verbinden, über die offen artikulierte Ablehnung dieses Planes durch die Sozialdemokraten hinweg gegangen waren, konnte man ausgehend von der vorausgesetzten Schlüsselstellung der SPD an Rhein und Ruhr ja nur den Schluss ziehen, dass die Deutschen insgesamt nicht gefragt worden seien. Arno Barth hat auf diese irrige Interpretation hingewiesen, als er schrieb: „Neben den Westfalen war die Sozialdemokratische Partei (in Rheinland und Westfalen) gegen die Gründung Nordrhein-Westfalens, was in heutiger Kenntnis der weiteren politischen Entwicklung dieses Landes überraschen mag. 1945/46 und auch noch in den folgenden zwei Jahrzehnten war von der späteren SPD-Hochburg aber noch keine Rede. Vielmehr gingen alle Beobachter davon aus, dass die katholische Bevölkerung in der rheinischen und westfälischen Fläche die Genossen majorisieren würde, zumal die SPD durch christlich-soziale und kommunistische Konkurrenz auch unter den Arbeitern keine geschlossene Basis hatte. Somit fürchtete sie ein wirtschaftlich und demographisch zu starkes Land unter der designierten Führung des politischen Gegners“ (Barth 2015: 15). Die Entscheidung der Briten, zumal ihr ein kaum zu übersehendes Misstrauen zumindest der Kontrollkommission und der Militärregierung gegenüber den Sozialdemokraten innewohnte, wurde demzufolge von SPD-Seite als Affront und Zumutung der Besatzungsmacht, ja als „Siegerdiktat“ gewertet (Reininghaus 2013: 245), und dies, obwohl doch in London eine Labour-Regierung amtierte. Dieser Umstand aber verstärkte nur die Enttäuschung und Frustration der Sozialdemokraten, die sich in der bitterbösen Reaktion des Dortmunder Oberbürgermeisters Fritz Henßler Luft machte, der unter Anspielung auf die erst kurz zuvor durch die Sowjets erzwungene Fusion von SPD und KPD in Berlin zur SED im Juli 1946 von der „Zwangsvereinigung“ von Nordrhein und Westfalen sprach, die unbedingt noch verhindert werden müsse (Barth 2015: 15; Hölscher 1988: 87). Was vom nahezu verzweifelten sozialdemokratischen Widerstand gegen die Landesgründung die Zeiten überdauert hat, war der Begriff der „Zwangsvereinigung“, der bis heute, mitunter ironisch gebrochen, unser Bild von dem eigentlich gar nicht zusammenpassenden „Kunstgebilde NRW“ maßgeblich geprägt hat.

Schaut man in die ältere Literatur zur Vor- und Gründungsgeschichte Nordrhein-Westfalens, fällt rasch auf, dass in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ein breiter Konsens darüber existierte, dass das neue Land an Rhein und Ruhr von den Briten keineswegs unter Ausschluss der Deutschen gegründet worden war, und dass provinzübergreifende Strukturen, Denkweisen und Bezeichnungen zwischen dem Rheinland und Westfalen bis weit in das 19. Jahrhundert und damit praktisch seit dem Beginn der preußischen Herrschaft nachweisbar sind. Hinsichtlich einer relevanten Vorgeschichte Nordrhein-Westfalens im 19. und frühen 20. Jahrhundert schrieben die beiden Herausgeber der zwischen 1983 und 1985 erschienen voluminösen vierbändigen Gesamtausgabe zur Vor- und Frühgeschichte des Landes, Kurt Düwell und Wolfgang Köllmann , in ihrem Vorwort, dass das Doppeladjektiv „rheinisch-westfälisch“ seit den 1820er Jahren „eine feststehende Bezeichnung“ für die beiden westlichen preußischen Provinzen und damit Ausdruck einer bestehenden „Interessengemeinschaft“, gar eines „Zusammengehörigkeitsgefühls“ der Menschen an Rhein und Ruhr gewesen sei und genau deshalb Nordrhein-Westfalen „gewiss eine Neuschöpfung der Nachkriegszeit, aber eben kein künstliches Gebilde ohne Vorgegebenheiten“ darstelle (Düwell/Köllmann 1983-1985: Bd. 1, 12f. u. 18). Bereits 1961 hatte Wolfram Köhler in seiner Entstehungsgeschichte Nordrhein-Westfalens dezidiert auf die vor allem vom Oberpräsidenten der Nordrhein-Provinz Robert Lehr, dem Kölner Oberbürgermeister Hermann Pünder und dem Münsteraner Oberstadtdirektor Karl Zuhorn entwickelten Vorstellungen einer Vereinigung der beiden preußischen Westprovinzen und deren Vermittlung an britische Stellen verwiesen, ohne freilich den großen Anteil der Briten und die internationalen Rahmenbedingungen, unter denen die Landesgründung stattfand, zu verschweigen. Köhler bilanzierte in diesem Zusammenhang, „dass die Vereinigung der beiden Provinzen Rheinland und Westfalen keineswegs von den Besatzungsmächten nur befohlen und ‚oktroyiert‘ worden ist, womöglich gegen den Willen der Bevölkerung“. Daher sei die Bildung des Landes auch „nicht der blinde ‚Willkürakt‘ politisch gleichgültiger Generale“ gewesen (Köhler 1961: 9-68; 120-128). Walter Först betonte zehn Jahre später ausdrücklich, dass Lehr, Pünder und Zuhorn sich seinerzeit „Gedanken über die territoriale Gliederung machten und diese Gedanken auch führenden Männern der Besatzungsmächte nahezubringen wussten“. Alle drei gehörten zwar „einer Partei, der CDU“ an, seien jedoch keine Politiker, sondern „von Beruf und Lebensstellung her Verwaltungsbeamte“ gewesen, und sie hätten „von früher her den Überblick und die Erfahrungen“ besessen, die notwendig gewesen seien, „um Territorialfragen analysieren zu können“ (Först 1971: 23). Auch Peter Hüttenberger geht in seiner Habilitationsschrift von 1973 ausführlich auf die deutschen Überlegungen und Bemühungen hinsichtlich einer Vereinigung der beiden Provinzen sowie ihren Einfluss auf die britische Seite ein, wobei er neben den bekannten Akteuren Lehr, Pünder und Zuhorn auch den ostwestfälischen Protestanten und stellvertretenden Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone, Friedrich Holzapfel, als bedeutende Verbindungsperson zu den Briten nennt. Hüttenberger spricht sogar davon, die „wichtigste Initiative zur Gründung Nordrhein-Westfalens“ sei „von der nordrheinischen Provinzialregierung“ ausgegangen (Hüttenberger 1973: 204-214).

Daher ist die Einschätzung, dass die britische Besatzungsmacht 1946 völlig autonom, aber dennoch unter Hinzuziehung deutscher Expertise entschieden hat, alles andere als originell oder gar neu. Diesem Befund, den Wolfgang Hölscher in der Einleitung seiner Edition deutscher Quellen zur Gründungsgeschichte Nordrhein-Westfalens prägnant zusammengefasst hat, ist so gesehen bis heute nichts hinzuzufügen: Die Briten bestimmten Art und Tempo des Neugliederungsprozesses; sie besaßen vage Vorstellungen über dessen Ergebnis, ohne bereits festgelegt zu sein; sie trafen ihre Entscheidung auf der Basis sorgfältiger Analysen der sich durchaus stetig veränderten internationalen bzw. außenpolitischen Rahmenbedingungen, konkret als Reaktion auf französische Vorstellungen und Ansprüche beziehungsweise eine drohende sowjetische und damit kommunistische Einflussnahme an der Ruhr; sie berücksichtigten die prekäre wirtschaftliche und soziale Lage in ihrer Zone, die durch Versorgungsengpässe, Wohnungsnot, Massenarbeitslosigkeit und eine in weiten Teilen zerstörte Infrastruktur gekennzeichnet war; sie sorgten für den Aufbau tragfähiger demokratischer Strukturen in Verwaltung und Gesellschaft; allein sie entschieden über den Zeitpunkt der Realisierung der ihrer Meinung nach zu treffenden Maßnahmen (Hölscher 1988: 81).

Neuere Forschungen in Zusammenhang mit den Vorarbeiten zu einem „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“ bestätigen die früheren Befunde ausdrücklich. Wiederentdeckte Kartenentwürfe, Quellenfunde in Berliner Archiven und die Rezeption weiterer Fachliteratur älteren wie neueren Datums führen jedoch noch einen Schritt weiter in die Vergangenheit. Danach war die Gründungsidee Nordrhein-Westfalens auf deutscher Seite – anders als bei den britischen Besatzern – keine Reaktion auf die konkrete Situation nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern stand in Zusammenhang mit den Folgen des Versailler Vertrages, der Gründung der Weimarer Republik und den Anfang der 1920er Jahre beginnenden Überlegungen über eine verfassungsrechtliche und territoriale Reichsreform. Ausgangspunkt war dabei der Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung, der die Bildung eines Reichswirtschaftsrates auf der Grundlage von Bezirkswirtschaftsräten vorsah, die wiederum für neu zu bestimmende „Wirtschaftsprovinzen“ zuständig sein sollten. Die Ruhrindustrie, namentlich der Großindustrielle Hugo Stinnes, nahm diese Bestimmung Mitte 1920 zum Anlass, eine solche neue Wirtschaftsprovinz im Westen des Reiches zu konzipieren, die zwar (noch) keine politische Selbständigkeit beanspruchte, aber eine weitgehende ökonomische Unabhängigkeit von den Entscheidungen der Berliner Regierungsstellen anstrebte. Obwohl wirtschaftliche Überlegungen überwogen, war den unter Federführung der Industrie- und Handelskammer Essen weiterentwickelten Plänen der Ruhrindustrie eine dezidiert antiparlamentarische Note inhärent, die sich konkret auf die legislative Kompetenz von Reichs- und Preußischem Landtag bezog und damit zum Ausdruck brachte, dass man die Wirtschaftsprovinz zumindest mittel- und langfristig durchaus als Vorstufe eines von Preußen autonomen eigenen Landes an Rhein und Ruhr betrachtete. Die ökonomischen wie verwaltungstechnischen Argumente der „Ruhrbarone“ und der Essener Handelskammer für eine rheinisch-westfälische Wirtschaftsprovinz zielten darauf ab, die Zerreißung des größten deutschen Montanreviers zu verhindern, es gleichzeitig mit den rheinischen Energievorkommen (Aachener Steinkohle- und vor allem niederrheinisches Braunkohlerevier) sowie der rheinisch-bergischen Industrie zu verbinden, nach einem möglichen (und sogar angestrebten) Wegfall der südlichen Rheinprovinz durch die weiten westfälischen und niederrheinischen Agrarflächen ausreichend zu versorgen und schließlich die immerhin vor dem Hintergrund der 1920 gemachten Erfahrungen („Rote Ruhrarmee“) als real empfundene kommunistische „Bedrohung“ mittels der mehrheitlich eher christlich-konservativ orientierten Landbevölkerung einzudämmen. Die Idee „Rheinland-Westfalen“ ist eine Idee der Schwerindustrie an der Ruhr und deshalb ist Nordrhein-Westfalen auch nicht das Erbe der Arbeiterbewegung, sondern, ob man es will oder nicht, die verspätete Frucht entsprechender Vorstellungen rechtsstehender rheinisch-westfälischer Wirtschaftskapitäne und des „Großkapitals“. Das Ruhrgebiet mit seinen enormen Potentialen, aber auch strukturellen Besonderheiten und Problemen ist demnach ohne Zweifel sowohl der „Urgrund“ als auch die Kernregion des heutigen Nordrhein-Westfalens. Doch das war es nicht erst 1946, sondern bereits 1920 (Hitze 2020: 195-207).

Karte 1: Entwurf Rabe, Baumann, Lauburg 1923 (Version bei Münchheimer: Neugliederung Deutschlands)

Eine Bestätigung und gleichzeitige Weiterentwicklung erfuhren besagte Konzeption kurze Zeit später durch die Dissertation des Wirtschaftsingenieurs Hans Baumann über „Kraftquellen und Verkehr als bestimmende Faktoren deutscher Wirtschaftsgebiete“ (Baumann 1923). Baumanns Entwurf (siehe Karte 1), als Karte erstmals veröffentlicht in einem zeitgenössischen Beitrag des Hannoveraner Wirtschaftsgeographen Erich Obst über die Reformvorschläge der Weimarer Neugliederungsdebatte (Obst 1928: 37), teilte die Rheinprovinz entlang der seit 1815 bestehenden Grenze zwischen den Regierungsbezirken Köln und Koblenz (heutige Landesgrenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz), schlug den Kreis Wittgenstein Westfalen zu, das Land Schaumburg-Lippe jedoch Niedersachsen. Sein Plan beließ den „Osnabrücker Zipfel“ bei Niedersachsen, integrierte dafür aber den Freistaat Lippe-Detmold in Westfalen, dem auch das Land Waldeck zugewiesen wurde. Im Baumann-Entwurf wich „Rheinland-Westfalen“ damit in nur zwei Details vom späteren nordrhein-westfälischen Territorium ab: im besagten Fall Waldeck sowie bezüglich des Kreises Altenkirchen südwestlich von Siegen, der bei der nördlichen Rheinprovinz verbleiben sollte.

Dass Baumanns Überlegungen keineswegs einen Einzelfall darstellten, wird deutlich, wenn man sich die weiteren, seinerzeit öffentlich breit diskutierten Pläne der 1920er bis 1940er Jahre zur Neuordnung des Deutschen Reiches genauer betrachtet: In zweien davon (Entwürfe von Erwin Scheu 1928 und August Weitzel bzw. Erich Obst 1926/30) entstehen, mit teilweise gravierenden Abweichungen von Baumann und auch von dem auf dessen Spuren wandelnden Wirtschaftsingenieur Hans Rabe (Hitze 2020: 211), eine „Niederrheinische Wirtschaftsprovinz“ (Scheu; siehe Karte 2) respektive ein eigenes „Land Niederrhein“ (Weitzel/Obst; siehe Karte 3), die beide jedoch eines gemeinsam haben: die Vereinigung des nördlichen Rheinlands (daher der Begriff „Niederrhein“) mit Westfalen unter Abtrennung der Regierungsbezirke Koblenz und Trier von der alten Rheinprovinz (Hitze 2020: 220f.). Doch gab es noch einen weiteren spektakulären diesbezüglichen Plan, der allerdings nicht der Weimarer Republik, sondern dem Umfeld der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 zuzuordnen ist. Danach hatte eine Gruppe um Fritz von der Schulenburg im Zuge der Beratungen des Kreisauer Kreises 1943/44 einen „Plan der großen Einheiten“ konzipiert, nach dem im Westen eines vom Nationalsozialismus befreiten Deutschland neben neun weiteren „Reichsländern“ das Land „Niederrhein-Westfalen“ (NRW) entstehen sollte, sozusagen „Rheinland-Westfalen“ ohne die südliche Rheinprovinz, dafür aber ergänzt durch das Emsland, das Oldenburger Münsterland und den Raum Osnabrück (Hitze 2020: 235f.; siehe Karte 4). Die sich vor allem bei Konrad Adenauer 1945 ebenso wie bereits vorher 1919 und 1923 findende Vorstellung eines starken und großen rheinisch-westfälischen Bundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches als Brücke der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland sowie als Kern einer paneuropäischen Montanunion bei gleichzeitiger Sicherung des Rheinlandes und des Ruhrgebiets für Deutschland stellt ebenfalls ein Kontinuum zwischen beiden deutschen Weltkriegsniederlagen dar und nicht eine aus der Not geborene Idee des Jahres 1945 (Hitze 2020: 214-216). Schließlich ist selbst der spätere Beitritt Lippe-Detmolds zum bereits existierenden Land Nordrhein-Westfalen Anfang 1947 keine nachholende Reaktion auf die Schaffung vollendeter Tatsachen im Nachkriegsdeutschland gewesen, sondern ein Vorhaben, das Landespräsident Heinrich Drake schon Mitte der 1920er Jahre in seinen Verhandlungen mit Preußen über einen Anschluss an die Provinz Westfalen eingeleitet und das er 1931 noch einmal zu realisieren versucht hatte (Hitze 2020: 231f.). Der 1946 ausgebrochene Wettstreit zwischen den neu gebildeten Ländern Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen um die lippische Gunst verschaffte Drake lediglich die willkommene Gelegenheit, seine damaligen Forderungen nun in Form der „lippischen Punktationen“ verspätet, aber außerordentlich wirksam durchzusetzen (Rombeck-Jaschinski 1984: 131).

Karte 2: Entwurf Scheu nach Wirtschaftsprovinzen 1927/28 (Version bei Münchheimer: Neugliederung Deutsch-lands)

Karte 3: Entwurf Weitzel („Frankfurter Entwurf“) 1926/30 mit Abänderungsvorschlägen für Niedersachsen durch Obst (aus der Anlage bei Münchheimer: Neugliederung Deutschlands)

Karte 4: Plan der „großen Einheiten“ (Schulenburg-Plan) 1943 (in der Version bei Münchheimer: Neugliederung Deutschlands)

Wenn es aber derartige Überlegungen schon vor 1945 gegeben hatte, dann stellt sich die Anschlussfrage, ob und wenn ja in welcher Form sie bei der Neuordnung Nachkriegsdeutschlands durch die Alliierten eine Rolle gespielt haben könnten bzw. wer in diesem Fall als „Transporteur“ der Ideen in Betracht kam. Für Nordrhein-Westfalen ist diese Frage relativ schnell geklärt. Es handelte sich zunächst um drei Personen, die nachweislich über enge Kontakte zur britischen Besatzungsmacht verfügten und ihrerseits wiederum Kenntnis von den Weimarer Neuordnungsvorstellungen des Reichsgebietes besaßen: Konrad Adenauer als Kölner Oberbürgermeister, Mitglied der „Zentralstelle für die Gliederung des Reiches“ und Präsident des Preußischen Staatsrates, sein Nachfolger im Amt des Oberbürgermeisters 1945, Hermann Pünder, der als Chef der Reichskanzlei von 1926 bis 1932 den Diskussionsprozess um die Reichsreform hauptamtlich koordiniert und geleitet hatte, sowie Robert Lehr, in der Weimarer Republik als Düsseldorfer Oberbürgermeister Vorstandsmitglied des Deutschen und des Preußischen Städtetages und damit ebenfalls eng mit der Problematik einer Neugliederung des Reichsgebietes vertraut. Zu nennen ist hier aber darüber hinaus unbedingt auch der Münsteraner Oberstadtdirektor Karl Zuhorn, der nicht nur als maßgeblicher Akteur bei der Zusammenführung der Nordrhein-Provinz mit Westfalen im Jahre 1946 anzusehen ist und in den 1950er Jahren wesentliche Erkenntnisse zur Gründungsgeschichte Nordrhein-Westfalens beigesteuert hat, sondern als Landesrat der Provinz Westfalen vor 1933 auch an der Abwehr niedersächsischer Territorialansprüche auf Teile Westfalens beteiligt gewesen war (Hitze 2020: 243-250).

Mag auch in London von Anfang an eine Tendenz zur Bildung eines Landes „Rheinland-Westfalen“, also zur „großen Lösung“ (anstelle der „kleinen Lösung“, das heißt der Schaffung eines eigenständigen „Ruhrlandes“ analog den seinerzeit schnell verworfenen Überlegungen aus den späten 1920er Jahren zur Schaffung einer eigenen preußischen „Ruhrprovinz“; Hitze 2020: 229), bestanden haben, so waren deren Befürworter doch zwingend auf „treffende Argumente und entscheidende Detailkenntnisse“ angewiesen, um ihre Auffassung auch letztlich durchsetzen zu können (Hölscher 1988: 81f.). Und diese Argumente und Kenntnisse konnten ihnen nur die deutschen Verwaltungseliten liefern, die sie, die Briten, ja selbst in ihre Ämter und Funktionen eingesetzt hatten, namentlich Robert Lehr, Hermann Pünder, Karl Zuhorn und auch der als Kölner Oberbürgermeister entlassene Konrad Adenauer als Zonenvorsitzender der kommenden führenden deutschen Partei, der CDU.

Die Rolle der Briten und ihr Zusammenspiel mit ausgewählten deutschen Vertretern ist um so wichtiger, als die ambitionierten Pläne der Ruhrindustrie und späterer Verfechter einer rheinisch-westfälischen Einheit im Zuge der Reichsreform allesamt mehr oder weniger ergebnislos blieben. Doch das Wissen um die Motive der Ruhrindustrie erschließen dem aufmerksamen Beobachter die verspätete Wirksamkeit der Konzeption eines vereinigten „Rheinland-Westfalen“ und gleichzeitig dessen Scheitern zu Weimarer Zeiten: Gerade weil die seinerzeit entscheidend hemmenden Faktoren wie der alles überlagernde Dualismus Preußen-Reich und die außerordentlichen Beharrungskräfte der bestehenden preußischen Provinzen sowie der übrigen Länder wirklich innovative Lösungen einer Territorialreform verhinderten, vermochten diese sich nach dem Wegfall eben jener Faktoren in der Nachkriegssituation durchzusetzen. Hinzu kam die prinzipielle Ablehnung einer rheinisch-westfälischen Einheit durch die Sozialdemokraten, die wie schon zu Weimarer Zeiten bei einem zu großen Land im Westen sowohl um die Reichseinheit, das heißt die Stellung einer starken Berliner Zentralinstanz, fürchteten, als auch unbedingt eine zu erwartende Dominanz der christlich-bürgerlichen Kräfte zu ihren Ungunsten verhindern wollten. Da die Sozialdemokraten im Vorfeld der „großen Lösung“ jedoch von der britischen Besatzungsmacht weitgehend ignoriert worden waren, verfügten diese nicht mehr wie vor 1933 über die Machtpositionen, die es ihnen erlaubt hätten, die bevorstehende Fusion der Westprovinzen zu verhindern. Bezeichnend ist schließlich der schon in den 1920er und frühen 1930er Jahren von Kollegen Baumanns geäußerte Vorwurf, dieser habe viel zu wenig gewachsene politisch-historische Gegebenheiten bzw. „stammesgeschichtliche“ Hintergründe berücksichtigt. Das mag im Kontext der Weimarer Verhältnisse tatsächlich so gewesen sein – ein Schicksal, das Baumann allerdings mit nahezu allen anderen Schöpfern halbwegs innovativer Ideen innerhalb der Reichsreformdebatte geteilt hat – doch genau diese Gegebenheiten und Hintergründe spielten bei den Briten 1945/46 eine bestenfalls nachgeordnete Rolle. Die Besatzungsmacht war vielmehr an rationalen und praktikablen Lösungen interessiert, und diese wurden ihnen samt Begründungen in den Baumann bewusst oder indirekt rezipierenden Memoranden Lehrs und Pünders geliefert. Wenn man so will, bestätigt das Beispiel Baumann die bei Klaus Neumann zitierte Kritik Heinrich Schmidts „an der aus den Forschungen zur rheinischen und westfälischen Landesgeschichte hervorgegangenen Theorie der ‚Geschichtslandschaften‘“, als dass jener eine „einseitig konservative, gegen die nivellierenden Erscheinungen und Wirkungen industrieller Zivilisation gerichtete Tendenz“ innewohne (Neumann 1988: 498f.). Für Baumann gilt daher dasselbe, was Anke John pauschal für die gesamte Weimarer Reichsreformdebatte festhält: „Vor allem die Weimarer Neugliederungspläne belegen, wie die Industrialisierung und Technisierung der Lebenswelt mit Forderungen nach neuen Staatsstrukturen korrespondierten, die rationalen, bürokratischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten entsprechen sollten“ (John 2012: 25).

Bedauerlicherweise hat Anke John den überzeugendsten Beleg für ihre These nicht gekannt: die Bemühungen der dem politisch weit rechtsstehenden, nationalkonservativen Lager zuzuordnenden Handelskammer Essen, ihre rheinisch-westfälischen Vereinigungspläne gerade nicht volkskundlich oder historisch zu begründen, sondern eben mit durch und durch rationalen, bürokratischen und vor allem ökonomischen Argumenten. Die aktive Rolle der Ruhrindustriellen erklärt auch, wenigstens zum Teil, weshalb die deutschen Akteure selbst weder den Briten noch der deutschen Öffentlichkeit gegenüber ihre persönlichen Bezüge zur Weimarer Neugliederungsdebatte erwähnt oder besonders betont haben. Insbesondere in Anbetracht der alliierten Bemühungen um eine internationale Kontrolle des Ruhrgebiets, dessen führende Industrielle als Finanziers Hitlers und Waffenlieferanten für seinen Angriffskrieg beschuldigt wurden, machte es sich nicht sonderlich gut, ausgerechnet auf frühere Verbindungen zu Industriebaronen wie Gustav Krupp von Bohlen zu Halbach, Albert Vögler, Fritz Thyssen, Peter Klöckner, Paul Reusch oder Paul Silverberg hinzuweisen.

Und auf noch eine historische Kontinuität soll an dieser Stelle wenigstens kurz hingewiesen werden: Abgesehen von zahlreichen anderen und zum Teil wesentlich weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Verbindungen zwischen dem Rheinland und Westfalen, wie etwa im kirchlichen Bereich die sich bis ins Sauerland erstreckende Kölner Kirchenprovinz oder das den gesamten linken Niederrhein miteinschließende Bistum Münster, war es gerade das Ruhrgebiet, welches beide Provinzen miteinander verklammerte und das Adjektiv „rheinisch-westfälisch“ zu einem deutschlandweit bekannten Begriff machte. Unter den besonderen Bedingungen des Versailler Vertrages und der Entstehungsgeschichte der Weimarer Republik wurde aus dieser Verklammerung eine regelrechte Schicksalsgemeinschaft, wie sie sich ab 1945 erneut ergeben sollte. Durch und über das Ruhrgebiet wurde Rheinländern wie Westfalen klar, dass sie trotz aller landsmannschaftlichen Unterschiede und regionalen Besonderheiten im Rahmen der seit 1815 bestehenden preußischen Verwaltungsstrukturen uneingeschränkt aufeinander angewiesen waren und blieben. Dies gilt nicht zuletzt für rein materielle Aspekte wie Verkehrswege, Handelsbeziehungen und Warenströme, die Versorgung mit Agrarprodukten, Energiequellen und auch das Bildungswesen. All das schwang in den Vereinigungsgedanken der Weimarer Zeit maßgeblich mit, und all das war auch damit gemeint, als General Robertson bei der entscheidenden Sitzung am 6. Juni 1946 in London davon sprach, dass die zu treffende Entscheidung über die Länderneugründung unbedingt das „Traditionsempfinden“ der einheimischen deutschen Bevölkerung berücksichtigen müsse, um die notwendige Akzeptanz für das neue staatliche Gebilde an Rhein und Ruhr zu erhalten, ganz im Gegensatz zu der „traditionslosen“ beziehungsweise „künstlichen“ Lösung eines eigenständigen „Ruhrlandes“ (Steininger 1982: 23f.). Eine solche Einschätzung vermochte der britische General indes schwerlich ohne entsprechende Auskünfte deutscher Fachleute vorzutragen, und so wird der Mythos der „künstlichen und fremdbestimmten“ Landesgründung unter Mitwirkung der Deutschen durch die Briten selbst bereits lange vor seiner Entstehung als solcher entlarvt.

Erst nachdem die Würfel quasi schon gefallen waren, also nach dem 6. Juni 1946, artikulierten die Vereinigungsskeptiker aus Westfalen um Oberpräsident Rudolf Amelunxen und vor allem aus der rheinischen und westfälischen SPD ihre Bedenken unmittelbar gegenüber den Briten und drangen damit in London wenigstens bei Teilen der Labourregierung durch. Insbesondere Deutschlandministers Hynd, selbst vom linken Flügel der Labour Party, machte sich zum Fürsprecher einer westfälischen Eigenständigkeit und der westdeutschen Sozialdemokratie. Am 19. Juni 1946 konterte er die Argumentation General Robertsons, des Vertreters der britischen Militärregierung in Deutschland, mit einer Reihe von Gegenargumenten: Das neue vereinte Land sei mit über 12 Millionen Einwohnern schlicht zu groß und seine geballte Industrie zu stark, Rheinländer wie Westfalen lehnten mehrheitlich einen solchen Zusammenschluss ab, im Ruhrgebiet hätten nicht die Kommunisten, sondern die Sozialdemokraten mit 60 Prozent eine klare Mehrheit, während CDU und KPD allenfalls mit 30 beziehungsweise 10 Prozent rechnen könnten, und überhaupt werde die SPD ihre Mehrheit in einem derart großen und von der Landwirtschaft mitgeprägten Land an die CDU verlieren. Stattdessen sollten eine um Bochum und Dortmund erweiterte Nordrheinprovinz und die übrige Provinz Westfalen in eigenständige Länder umgewandelt werden. Doch alles gegen die Schaffung Nordrhein-Westfalens gerichtete Insistieren kam jetzt schlicht zu spät. Auf der Sitzung des „Overseas Reconstruction Comittee“ (ORC) am 21. Juni 1946 wurde nach ausführlicher Diskussion das Memorandum Hynds verworfen und das Votum vom 6. Juni bestätigt. „Damit“, so Rolf Steininger, „war die Entscheidung für die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen endgültig gefallen“ (Steininger 1988; 192-195). Das wiederum wusste zu diesem Zeitpunkt kein deutscher Politiker. Am 15. Juli 1946 wurden die Parteiführer Konrad Adenauer und Jakob Kaiser (beide CDU) sowie Kurt Schumacher (SPD) schließlich von den Briten nach Berlin geflogen und dort über die bevorstehende Landesgründung in Kenntnis gesetzt. Adenauer, der als einziger westdeutscher Politiker von den Briten Ende April 1946 über ihre Zusammenlegungspläne informiert und um seine (positive) Meinung gefragt worden war (Hölscher 1988: 284), tat überrascht, signalisierte genauso wie Kaiser aber sofort Zustimmung, während Schumacher zunächst völlig konsterniert reagierte und erst noch durch Robertson in einer persönlichen Ansprache beruhigt werden musste (Steininger 1988: 200f.). Hiermit war endgültig der Weg frei für die „Operation Marriage“, die offizielle und formale Landesgründung am 23. August 1946. Der breiten Bevölkerung zwischen Rhein und Weser aber waren diese Entscheidung und die hinter ihr stehenden Debatten angesichts ihrer drängenden Existenzsorgen zu diesem Zeitpunkt weitgehend gleichgültig.

Der alte politische Fuchs Adenauer hatte natürlich Recht, ebenso wie sein sozialdemokratischer Gegenspieler Schumacher: Zwar sollten die CDU-Bäume im neuen Land an Rhein und Ruhr nicht in den Himmel wachsen, aber das politische Kalkül, welches von den Ruhrindustriellen über bürgerliche Verwaltungsexperten bis hin zu Adenauer mit der Vereinigung des nördlichen Rheinlandes mit Westfalen immer verbunden gewesen war, ging in den folgenden Jahren auf. Gemeint ist die nicht nur räumliche, sondern auch politische Umfassung des wenigstens zu einem großen Teil „roten“ Ruhrgebiets durch die ländlich und vor allem katholisch geprägten rheinischen und westfälischen Nachbarregionen und damit die Domestizierung in erster Linie der SPD durch konservativ-bürgerlich-christliche Mehrheiten. Erst das Verbot der KPD, der endgültige Niedergang des katholischen Zentrums, das beginnende Abschmelzen der traditionellen kirchlichen Milieus und letztlich die 1959 auf dem Godesberger Parteitag vollzogene Wandlung der SPD von der alten Klassen- zur modernen Volkspartei schufen in den 1950er Jahren die Voraussetzungen dafür, dass die Sozialdemokraten zunächst zur christdemokratischen Konkurrenz aufschließen und spätestens in den 1980er Jahren dann selbst zur vorübergehenden Hegemonialpartei in Nordrhein-Westfalen aufsteigen sollten. Die ursprünglich als fremdbestimmt und nachteilig empfundene Struktur Nordrhein-Westfalens wandelte sich in einen strategischen Vorteil. Es erscheint rätselhaft, weshalb die rheinisch-westfälische Sozialdemokratie diesen großen Erfolg nicht selbstbewusst gefeiert, sondern bis heute selbst an dem Mythos der künstlichen Zwangsvereinigung mitgewirkt und festgehalten hat.

Am Ende bleibt ein zentraler Punkt offen: Was für Folgen genau hat die These von der künstlichen Alleingründung des Landes durch die Briten für die inner-nordrhein-westfälische Identitätsbildung gehabt? Oder umgekehrt: Wie würde sich dieses Identitätsbewusstsein verändern, wenn allgemein bekannt und akzeptiert wäre, dass Nordrhein-Westfalen im Kern eine nunmehr 100 Jahre alte deutsche Idee gewesen ist, die verschiedene noch ältere Traditionslinien aus dem 19. Jahrhundert zusammenführte, im Wesentlichen aber durch und durch rationalen und logischen Überlegungen gefolgt ist? Und die, das sei hinzugefügt, den genuinen Interessen von Rheinländern wie Westfalen entsprach, denn es ging bei dem Zusammenschluss der beiden preußischen Westprovinzen 1946 eben nicht um die feindliche Übernahme der einen Seite durch die andere, sondern, wie schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, um die Abweisung französischer Ansprüche auf das linke Rheinufer durch die Verklammerung des Rheinlandes mit seinem östlichen Nachbarn ebenso wie um die Verhinderung der Aufteilung Westfalens zwischen einem neuen Land Niedersachsen und einem eigenständigen „Ruhrland“ und damit um den Erhalt der territorialen westfälischen Integrität überhaupt, die aber schon im Kontext der Weimarer Reichsreformdebatte verschiedentlich zur Disposition gestellt worden war.

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Zitationshinweis:

Hitze, Guido (2022): Kontinuität statt Zwangsheirat?, Weshalb die Gründung Nordrhein-Westfalens zwar ein Transformationsakt der Briten, aber keine neue Idee gewesen ist, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/kontinuitaet-statt-zwangsheirat/

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