Mauro F. Guillén: 2030. Die Welt von morgen.

Laut Jürgen Turek, der Senior Fellow am Centrum für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Inhaber der Turek Consultant ist, liegen die Stärken von Mauro F. Guilléns Buch “2030. Die Welt von morgen” im weit gefassten Blick, der Verknüpfungen zwischen lokalen, nationalen und globalen Betrachtungswinkeln verknüpft, und in der Verständlichkeit. Eine klare Leseempfehlung für alle, die an Zukunftsszenarien interessiert sind!

Die Uhr kann nicht zurückgedreht werden. Und sie tickt gnadenlos in einer Zeit der großen Disruption. Die Menschen erleben einen sozioökonomischen Big-Bang. Sie werden mit verwirrenden neuen Wirklichkeiten konfrontiert. Oftmals regiert die Angst, den herannahenden Veränderungen zunehmend hilflos ausgeliefert zu sein. Doch dies, so sagt es der spanische Wirtschaftswissenschaftler Mauro F. Guillén, muss nicht so sein. Es benötige vielmehr eines Fahrplans auf der Grundlage eines lateralen Denkens, um verschiedene Prognosen in unterschiedliche Szenarien und Szenarien in Verhaltensweisen und Strategien umsetzen zu können. Nicht mehr und nicht weniger verspricht er mit seinem Buch „2030. Die Welt von Morgen“.

Mauro F. Guillén: 2030. Die Welt von morgen.

Hoffmann und Campe, Hamburg, 2021, 383 Seiten, ISBN 978-3-455-01255-2, 24,00 Euro

Autor

Jürgen Turek, M. A., ist Inhaber der Turek Consultant in München und Senior Fellow am Centrum für angewandte Politikforschung (C•A•P) der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

 

 

Die Uhr kann nicht zurückgedreht werden. Und sie tickt gnadenlos in einer Zeit der großen Disruption. Die Menschen erleben einen sozioökonomischen Big-Bang. Sie werden mit verwirrenden neuen Wirklichkeiten konfrontiert. Oftmals regiert die Angst, den herannahenden Veränderungen zunehmend hilflos ausgeliefert zu sein. Doch dies, so sagt es der spanische Wirtschaftswissenschaftler Mauro F. Guillén, muss nicht so sein. Es benötige vielmehr eines Fahrplans auf der Grundlage eines lateralen Denkens, um verschiedene Prognosen in unterschiedliche Szenarien und Szenarien in Verhaltensweisen und Strategien umsetzen zu können. Nicht mehr und nicht weniger verspricht er mit seinem Buch „2030. Die Welt von Morgen“, in dem er sich auf die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts und die in ihnen ablaufenden Wandlungsprozesse konzentriert. Der Wandel ist fundamental und wir müssen uns nach Guillén sowohl auf die Möglichkeiten, die das laufende Jahrzehnt bietet, als auch auf die Herausforderungen, vor die es uns stellt, vorbereiten. „Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Welt, wie wir sie heute kennen, wird bis 2030 verschwunden sein“ (S.14).

Acht Fokusfelder und ein neues Denken

Der Autor hebt acht Fokusfelder hervor und rät an, den Kontext dieser Felder nicht linear, sondern lateral zu denken. Das heißt, die Felder beeinflussen und treiben sich gegenseitig an. Es geht in Anlehnung an den Erfinder Edward de Bono also nicht darum, mit bereits existierenden Vorstellungen oder Entwicklungen zu spielen, sondern darum, sich diese Vorstellungen in einer Entwicklungsdynamik vorzustellen, die stures prognostisches Hochrechnen durch Szenarien ersetzt. In der Konsequenz sollen Fragen in einen neuen Zusammenhang gestellt werden. Durchbrüche kommen nicht zustande, indem man sich innerhalb der etablierten Paradigmen bewegt, sondern indem man diese relativiert oder aufgibt und Regeln ignoriert (S.19). Insofern geht es dem Autor darum, die aus seiner Sicht besonders relevanten Veränderungen zu identifizieren und sie als entscheidende Treiber des sozialen Wandels zu begreifen. Um die Herausforderungen und Chancen zu erkennen, die durch die globale Transformation des kommenden Jahrzehnts auf uns zukommen, geht er auf die seiner Meinung nach prägnantesten Trends ein.

In diesem Sinne fokussiert er sich auf die Wucht des demographischen Wandels, der von 2020 bis 2030 voll zum Tragen kommen wird. Wie auch an anderen Stellen bereits konstatiert, steuert die Welt dabei auf eine signifikante Ausweitung der Menschheit zu, die zur Mitte des Jahrhunderts bei etwa acht bis neun Milliarden Menschen liegen, dann aber in eine Phase der Stagnation hineingleiten werde. Bemerkenswert dabei sei eine Verschiebung der Wachstumszonen. Nicht Europa oder Nordamerika werden hier dominieren, sondern an erster Stelle Subsahara und Süd- und Südostasien, dann China, gefolgt von den USA, Europa und dem Rest der Welt. Hand in Hand damit gehe eine technologische und sozioökonomische Transformation der Schwellen und Entwicklungsländer. Dies zeichne sich etwa in der Subsahara ab, wo sich die Nutzung informationstechnologischer Gadgets und eine in allen sozialen Segmenten wirkende Gründungsstimmung zeige. Bemerkenswert sei das Entstehen einer breiten Mittelschicht in den Ländern, die bisher eher sozial gespalten und verarmt gewesen seien.  Und in der Tat: Die Bevölkerung wächst so schnell wie keine andere auf der Welt. 1,4 Milliarden Menschen leben dort heute. 2030 könnten es 1,7 Milliarden sein. Und dann gäbe es mehr Afrikaner als Chinesen.

In vielen Ländern gehe eine auffällige Alterung einher. In Deutschland zum Beispiel werde die Zahl der über 60-Jährigen von 24 Millionen im Jahr 2020 auf 28,2 Millionen im Jahr 2030 steigen, was den in ‚Stein gemeißelten‘ Rhythmus eines Lebens im Industriezeitalter (Kindheit – Ausbildung/ Beruf – Alter) ändern wird. Das Stufenmodell des Lebens werde zu einer Patchwork-Biografie, was die gewohnten Zyklen von Ausbildung, Arbeit und Ruhestand durcheinanderwirbeln und insbesondere das Gewicht der älteren Generation aufwerten werde. Besonders die über 60-jährigen ‚Silver-Surfer‘ seien dabei sowohl als Konsument als auch als erfahrene Arbeitskräfte stark gefragt. Bemerkenswert hierbei sei in den nächsten zehn Jahren die Ausbreitung feministischer Macht, die sich in besserer Ausbildung, wachsender Berufstätigkeit und steigendem Einkommen der Frauen manifestiere. Seine Beobachtung hier: Frauen verdienten zunehmend mehr Geld und gingen anders damit um als Männer. Dies betreffe auch den Zugewinn an Macht, der mit der Verbesserung der materiellen Lebensgrundlagen verbunden sei. Dies führe dazu, dass der Wohlstand in den kommenden Jahren bei Frauen insgesamt schneller wachsen werde. Bis 2030 werde mehr als die Hälfte des Weltvermögens in den Händen von Frauen liegen.

Gravierend seien vor allem disruptive Technologien in der postindustriellen Welt. Standardisierung von Tätigkeiten, Automatisierung, Mechanisierung und künstliche Intelligenz (KI) sowie Robotisierung pflügten Lebensfelder wie Arbeit, Wirtschaftsweisen, Gesundheit, Mobilität und Altersversorgung mit geradezu atemberaubenden Folgen für die Sozialstruktur und Arbeitswelt völlig um. Die Automation definiere die Beziehung zwischen Menschen und Arbeit neu, KI ersetze geistige Tätigkeiten durch maschinelles Lernen und Sprache durch linguistische Datenverarbeitung, und der 3-D-Druck gestalte den Austausch zwischen Kunden und Wirtschaftsunternehmen von Grund auf neu und verändere unsere gesamte Verkehrs- und Logistikstruktur. In zehn Jahren werde es mehr Roboter als Angestellte und mehr Mikroprozessoren als menschliche Gehirne geben. Die künstliche Intelligenz schreite in ihrer Entwicklung so rasch voran, dass ein Zustand der „Singularität“ erreicht werden könne – also jener Punkt, ab dem KI ausgereift und klug genug sei, um die Kontrolle zu übernehmen und uns Menschen als Ganzes überflüssig zu machen. Das Internet der Dinge oder die Blockchain-Technologie wälzten die uns bekannte Produktionsweise gänzlich um, wobei Kryptowährungen Zentralbankgeld ergänzen würden und gar zum Hauptzahlungsmittel avancieren könnten. Deshalb fordert Guillén an dieser Stelle Strategien zur Bewältigung des Wandels wie etwa die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens oder die Maschinensteuer als Antworten auf die technologiebegründete Arbeitslosigkeit.

Ein wesentlicher Punkt, auf den Guillén eingehen will, ist der Zusammenhang von wachsender Weltbevölkerung, dem Aufkommen stark konsumfreudiger Mittelschichten in den Entwicklungs- und (ehemaligen) Schwellenländern, industriellem Überkonsum und der Erderwärmung. Alles dies versieht er mit sinnvollen Antworten der Kompensation, die heute in der Diskussion sind. Dies betrifft die Notwendigkeit einer teilenden Ökonomie (Sharing Economy), die die wertvollen Ressourcen der Erde besser nutzt, einer Kreislaufwirtschaft mit digital-kollaborativen Plattformen (wie etwa Airbnb oder Uber), die diese Ressourcen länger erhält und einer Urbanität, die soziale Ungleichheit kompensiert und den Klimawandel durch ein wesentlich grüneres ‚Outfit‘ der Städte erträglicher macht.

Schließlich wendet sich Guillén einem entscheidenden Thema zu: der Bedeutung von Kryptowährungen im Verhältnis zu nationalem, von Zentralbanken kontrolliertem Geld. Seine These lautet: Bis 2030 werden nationale Währungsmonopole erodieren wie vor ihnen die Monopole der Luftfahrt- Strom- und Kommunikationsbranche. Landeswährungen würden weiter existieren, doch ihre digitalen Alternativen würden allgemein verfügbar und mittels Blockchain-Technologien einem strikten zentralbankpolitischen Zugriff entzogen sein.  Er reflektiert darüber hinaus den grundlegenden Wert der Blockchain-Technologie, alle materiellen Transaktionen von Menschen transparent und von allen kontrollierbar zu gestalten. Dies bezieht neben dem Finanzbereich Anwendungsfelder im Gesundheitswesen oder den Schutz geistigen Eigentums ein.

Herrscht 2030 ein neues gesellschaftliches Narrativ?

Guillén ist so frei, seine Auswahl der wichtigsten Ereignisfelder als zentrale Prägestempel der Zukunft zu etikettieren. Eine systematisch und methodisch fundierte Ableitung der Felder bietet er damit nicht. Ihre Auswahl mutet etwas willkürlich an, was allerdings nicht illegitim, sondern lediglich Ausdruck seiner persönlichen Wahrnehmung ist. Die intellektuelle Konstruktion seiner Argumentation ist nachvollziehbar. Damit geht er von der Überlegenheit lateralen Denkens aus und führt dies bis hin zu einem Reaktionsschema, das allerdings nur grob konturiert und mehr als Handlungsanleitung denn als Masterplan gesellschaftlicher Gestaltung zu verstehen ist. Inhaltlich transportiert das Buch Entwicklungslinien, Verknüpfungspunkte und einige provokante Ideen. Die populärwissenschaftliche Ausrichtung ist handlich und an Zahlen, Fakten und illustrierenden Beispielen mangelt es nicht. Der Mainstream der Entwicklung ist seit Jahren aber schon Gegenstand einer breiteren öffentlichen Diskussion. Man denke hier nur an die Frage des Grundeinkommens oder die medizinisch-pflegerische Versorgung der alternden Bevölkerungen. Die Fokusfelder sind – auch aus Sicht der Zukunftsforschung – allerdings relevant, wenngleich zuweilen ein etwas zu hohes Maß an Optimismus herrscht. So hat Guilléns Beschreibung der zukünftigen Netzwerk- und Sharing-Ökonomie schon fast einen Hauch von Schwärmerei. Wenngleich die hohe Nachfrage nach solchen Diensten unbestreitbar ist, tragen sie auch spezifische Problematiken wie etwa das Entlohnungssystem bei Uber, die Verdrängung von städtischer Bevölkerung durch Airbnb oder die Frage einer ‚gerechten‘ Nutzung kollektiven Eigentums in sich. So ist es gut, wenn Guillén die persönlichen und gesellschaftlichen Nachteile der Gig-Economy und die Gefahren eines digitalen Prekariats erwähnt. Er weist auch auf die politischen Manipulationsmöglichkeiten des Internets im Rahmen von Fake News und Desinformationskampagnen hin, wie sie der Trumpismus in Nordamerika praktiziert hat. Es stellt sich schon vehement die Frage, ob monopolistische Digitalplattformen mit überdimensionierten Marktanteilen schließlich Beschäftigte sowie Konsumenten ausbeuten und ob der politische Machtmissbrauch des Netzes autokratische Machtambitionen geradezu provoziert. Guillén vertraut hierbei auf die dezentralisierte Regulierungsmacht politischer Entscheidungen und die aktive Mitwirkung von Konsumenten und Wählern, ein Ansatz, den man nicht unbedingt teilen muss.

Eine Konklusion wäre hilfreich, denn man wüsste gerne, welche große Erzählung – zugespitzt formuliert – die Summe der Entwicklungen ist. Zugleich bleibt die Publikation an einigen Stellen doch vage oder ungenau. Trends – wie etwa die Etablierung von Kryptowährungen und Blockchain-Technologien, die Guillé betont – werden wohl, wenn überhaupt, nur in abgeschwächter Form zur Geltung kommen. Bei der hohen Bedeutung, die er Kryptowährungen beimessen will, berücksichtigt er die fundamentalen Funktionen des Geldes nicht. Dies sind die Tauschmittelfunktion, die Wertaufbewahrungsfunktion und die Funktion einer Rechnungseinheit. Kryptowährungen sind keine Währungen im engeren Sinn. Sie realisieren keine Geldordnung, die den rechtlichen und institutionellen Unterbau einer Währung ausmacht. Die Geldordnung bestimmt, was Geld ist, wer es schaffen darf, wie der Außenwert bestimmt ist. Eine Währung hat einen explizit institutionellen und rechtlichen Charakter. Dies definiert die Rolle der Zentralbanken, der Geschäftsbanken, der Bankenaufsicht oder des Wechselkursregimes, die konstitutionell für das Funktionieren eines (globalen) Geldmarktes sind. All dies realisieren Kryptowährungen nicht. Guillén räumt solche Defizite im Buch indirekt selbst ein, womit er seine in der Einleitung gemachte steile These von der umwälzenden Bedeutung der Kryptowährungen mit Blick auf die konstitutionelle Bedeutung des traditionellen Bankensystems etwas relativiert.

Wenn er – auch in diesem Zusammenhang – schreibt, dass die Wirtschaft revolutionären Veränderungen gegenübersteht, begründet er dies mit den neuen Technologien, die im Sinne Schumpeters Wirtschaftsstrukturen zerstören, um an anderer Stelle wieder neue entstehen zu lassen. Das ist eine schöpferische Revolution im Sinne des deutsch-österreichischen Ökonomen, aber kein Umsturz fundamentaler Ordnungsverhältnisse. Wie so oft bei dem Blick in die Zukunft wird vieles schnell zur Revolution erklärt. Unklar aber ist, ob hier systemisch etwas umstürzlerisch wirkt. Das Buch zeigt nicht auf, ob und welches ökonomische und politische System als Ganzes aus den Fugen zu geraten droht. Die Marktwirtschaft, die Demokratie, die Autokratie oder die Weltwirtschaft? Guillén spricht hier von einer „kambrischen Explosion“ (S.231), mit der Technologie den Status quo verändert und meint wohl insbesondere den totalen Siegeszug der Digitalisierung, die aber mehr ein starker evolutionärer Impuls denn eine wahre Revolution zu werden scheint.

Trotz solcher Ungenauigkeiten ist die Lektüre des Buchs interessant und empfehlenswert. Die Stärke der Publikation sind ihr weit gefasster Blick, der lokale mit nationalen und globalen Betrachtungswinkeln verknüpft, und die Anschaulichkeit, die die behandelten Sachverhalte für jedermann verständlich darstellt. Guillén schüttet ein Füllhorn an Beobachtungen aus und konkretisiert, was auf uns zukommen wird, wobei er sehr unterschiedliche Quellen heranzieht. Und er zeigt im Einzelnen Formen und Etappen der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts auf. Das Unsichtbare sichtbar machen, das sei seine Mission mit diesem Buch, das versuche, das metaphorisch schwarze Loch (entlehnt aus der Astrophysik, Anm. d. Verf.) einer heraufziehenden Welt in den Blick zu bekommen, die aus dem demographischen Wandel, der Erderwärmung, der technologischen Revolution und einer geopolitischen Unordnung entsteht. Schlussendlich formuliert Guillén seinen anfangs angekündigten Plan, der im Wesentlichen aus Verhaltensempfehlungen und mentalen Hilfestellungen zur Erfassung des kolossalen Umbruchs besteht. Dies sind Optimismus, Resilienz, Kooperation, Integration und laterales Denken, das sture Unbeirrtheit durchbricht und neue Wahlmöglichkeiten schafft. Es fehlt am Ende auch nicht der Appell, sich von dem sozioökonomischen Wandel nicht zu Populismus, Abschottung oder Migrantenhass hinreißen zu lassen. Hier hat Guillén recht, wenn er immer wieder schreibt, dass Abschottung, Hass und Desintegration nicht die Antwort auf die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Eruptionen von Gegenwart und Zukunft sein können. Darauf hinzuweisen ist nicht das Kernanliegen dieses Buchs, aber dennoch eine wichtige Botschaft zur Abrundung des ganzen Sachverhalts.

Zitationshinweis:

Turek, Jürgen (2022): Mauro F. Guillén: 2030. Die Welt von morgen, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/mauro-f-guillen-2030-die-welt-von-morgen/

This work by Jürgen Turek is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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