MERA25 – Für Vision und Verantwortung

Ana Alba Schmidt, die den Master “Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung” an der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen studiert, wirft einen Blick auf die Bewegungspartei MERA25, deren Parteimitglieder sich stets als Aktivist*innen begreifen. Wie lässt sich die Wahlpolitik von MERA25 aus demokratietheoretischer und -praktischer Perspektive einordnen?

Anhand dieses Appells wird für Leser:innen und Zuhörer:innen schnell deutlich, mit welchem Selbstverständnis sich die Gründung der Partei MERA25 – als deutscher Wahlflügel der europäischen Bewegung Democracy in Europe Movement (im Folgenden DiEM25) – vollzog: MERA25 will ab sofort Teil des nationalen Parteiensystems sein, um ihre Ziele für Europa rebellisch, realistisch und radikal zu erreichen. Gleichzeitig betonen die Parteimitglieder von MERA25, die sich stets als Aktivist:innen verstehen, dass der Einzug in die Wahlarena dem alleinigen Ziel vorausgeht, Teil des Einflusses nationaler Parlamente werden zu wollen.

MERA25 – Für Vision und Verantwortung

Über die Potenziale & Herausforderungen der Bewegungspartei in der Gestaltung ihrer Wahlpolitik

Autorin

Ana Alba Schmidt studiert das Masterprogramm “Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung” an der NRW School of Governance am Institut für Politikwissenschaft der UDE. Der Essay ist im Kurs “Digital Activism, Digital Oppostion, Digital Movements, Digital Parties” unter der Leitung von Dr. Kristina Weissenbach entstanden.

MERA25 – Zwischen Rebellion & Realismus, Bewegung & Partei?

„Ihr seid absolut irre! Das ist komplett unvernünftig, was ihr da macht, in Deutschland eine neue Partei zu gründen dieser Tage. Aber es ist toll und ich bin froh, einer von euch zu sein, denn wir haben schon genug vernünftige Politiker:innen, die nichts hinbekommen. […] Lasst uns rebellisch sein und Politik radikal anders machen!“ (Zitat von Yanis Varoufakis auf dem Parteigründungstag von MERA25 in Berlin, 13. November 2021) (Presseportal, 2021)

Anhand dieses Appells wird für Leser:innen und Zuhörer:innen schnell deutlich, mit welchem Selbstverständnis sich die Gründung der Partei MERA25 („Metopo Evropaikis Realistikis Anipakois“; zu Deutsch: „Europäische Front Realistischen Ungehorsams“ (vgl. Schwerdtner & Scholle, 2021)) – als deutscher Wahlflügel der europäischen Bewegung Democracy in Europe Movement (im Folgenden DiEM25) – vollzog: MERA25 will ab sofort Teil des nationalen Parteiensystems sein, um ihre Ziele für Europa rebellisch, realistisch und radikal zu erreichen. Gleichzeitig betonen die Parteimitglieder von MERA25, die sich stets als Aktivist:innen verstehen, dass der Einzug in die Wahlarena dem alleinigen Ziel vorausgeht, Teil des Einflusses nationaler Parlamente werden zu wollen. So entsteht die hybride Organisationsform in Form einer Bewegungspartei, die versucht, „ihre organisatorischen und strategischen Praktiken von Bewegungen in der Wahlarena anzuwenden“ (Hutter et al., 2019, S. 172).

An nationalen Wahlen tritt MERA25 also in „Vision und Verantwortung“ (MERA25, 2021) an; ihren Charakter als soziale Bewegung legt sie keinesfalls ab. Dies beschreibt einen Typus der Parteiorganisation, der vor allem im europäischen Raum zunehmend beobachtbar ist (vgl. u.a. Coweel-Meyers, 2014, S. 62). Maßgebliche Rolle spielt hierbei die Krise repräsentativer Demokratie und partizipationsbasierte Modelle als Lösungsansätze dadurch hervorgerufener Legitimationsdefizite (vgl. Priester, 2018, S. 60). In diesem Zusammenhang ist bereits seit langem anhand der „Ende-der-Mitgliederparteien-Debatte“ (Wiesendahl, 2006, S. 12) sichtbar, dass sich vor allem junge Bürger:innen verstärkt von etablierten Parteien abwenden. Dies führt zu einer Veränderung der Beziehung zwischen Bürger:innen und Parteien sowie parteiinterner Strukturen (vgl. Bennett & Segerberg, 2013, S. 52). Gleichzeitig öffnet es den Raum für die Entstehung neuer Parteitypen sowie deren enge Interaktion mit intermediären Akteuren. All diese Aspekte verdeutlichen die Wandlungsfähigkeit des deutschen Parteiensystems (vgl. Weissenbach et al., 2018, S. 206), in dessen Lichte MERA25 als praktischer Bezugspunkt im vorliegenden Essay im Detail betrachtet wird.

Die bisherigen Impulse verdeutlichen somit einen spezifischen praktischen Nutzen des Essays für ein empirisches Phänomen im gesamteuropäischen Kontext. Gleichzeitig verfügt die Thematik aufgrund der damit zusammenhängenden Sinnhaftigkeit, sozialwissenschaftliche Forschungsstränge zur Bewegungs- und Parteienforschung zusammenzubringen (vgl. u.a. Cowell-Meyers, 2014, S. 73), über wissenschaftliche Relevanz. Dahingehend wird im Essay versucht, im Hinblick auf folgende zentrale Frage zu einer plausiblen Schlussfolgerung und Beantwortung zu gelangen: Welche zentralen Potenziale und Herausforderungen der Gestaltung ihrer Wahlpolitik können anhand von MERA25 – mit Blick auf Demokratietheorie und -praxis nachgezeichnet werden?

 „Wahlpolitik“ wird hierbei als das vote seeking – also als zentrale parteipolitische Prämisse (vgl. Wenzelburger, 2015, S. 82) – verstanden. Deren Erreichung wird hinsichtlich der besonderen Organisationsform von MERA25 als Bewegungspartei als neuer und spannender Untersuchungsgegenstand identifiziert.

Ziel des Essays ist es, aus der skizzierten thematischen Perspektive heraus, die Leitthese zu diskutieren, dass für MERA25 aus demokratietheoretischer und -praktischer Perspektive deutliche Defizite in der Gestaltung ihrer Wahlpolitik vorliegen. Dies liegt insbesondere – so die Annahme, die es zu prüfen gilt – an der Dominanz der tief verankerten Bewegungslogik, die im deutlichen Spannungsverhältnis zur Erreichung des vote seekings der Partei steht, sowie an der Wahrnehmung ebendieser als „notwendiges Übel“ (Finkeldey, 2021, S. 245). Um dies zu diskutieren, wird zunächst die Entscheidung der Parteigründung reflektiert. Anschließend liegt der Fokus auf der bei MERA25 beobachtbaren Institutionalisierung und der Interaktionsform zwischen Bewegung und Partei, um daran anknüpfend die zentralen Potenziale und Herausforderungen für die Gestaltung der Wahlpolitik zu identifizieren. So soll eine sowohl praxis- als auch theoriegeleitete Annäherung an die Beantwortung der Leitthese – mit der Aufdeckung einer potenziellen Dilemmasituation – geleistet werden.

Von DiEM25 zu MERA25 – Eine strategische Entscheidung der Parteigründung

Um die neu gegründete nationale Bewegungspartei zu verstehen und zu kontextualisieren, ist zunächst einmal ihr transnationaler Ursprung von hoher Relevanz: MERA25 ist als neuer Wahlflügel essentieller Teil der 120.000 Mitglieder umfassenden Bewegung DiEM25, die sich als internationale Organisation im Jahr 2016 gründete (vgl. Moffitt et al., 2019, S. 1). Diese setzt sich unter dem paneuropäischen Manifest „Europa wird demokratisiert oder es wird zerfallen!“ (Schuster, 2018, S. 102) drei wesentliche Ziele: Die radikale Umgestaltung der europäischen Staatengemeinschaft in einem Transformationsprozess, das Handeln gegen Nationalisierungstendenzen sowie die Stärkung der europäischen Demokratie (vgl. Moffitt et al., 2019, S. 2). Zunächst war DiEM25 als ausschließlich transnationale Bewegung geplant, was maßgeblich aus dem Selbstverständnis der Sinnhaftigkeit transnationaler Problemlösungsansätze hervorgeht und an der Dominanz transnationaler Gremien deutlich wird (vgl. u.a. Schuster, 2018, S. 101).

Der erste Versuch des Einzugs in die Wahlarena erfolgte bei der Europawahl 2019, bei der sich DiEM25 mit dem eingangs zitierten Spitzenkandidat Yanis Varoufakis als Wahlbündnis „European Spring“ formierte. Hier trat sie in Deutschland mit der politischen Vereinigung „Demokratie in Europa“ sowie in weiteren sechs Ländern mit demselben Programm an (vgl. Schwartz, 2020, S. 81). Trotz vorausgesagt durchaus hoher Potenziale musste DiEM25 hier jedoch enorme Wahlverluste einbüßen und verfehlte den Weg in das europäische Parlament (vgl. ebd.). Doch der erste Schritt zur Parteigründung auf nationaler Ebene wurde genau hier realisiert: In Griechenland wurde bereits im Kontext des Antritts bei der Europawahl ein nationaler Wahlflügel gegründet, der dort einige Tage nach der Europawahl Einzug in das inländische Parlament erhielt (vgl. Pagoulatos, 2021, S. 55). Die in Deutschland bereits für die Europawahl gegründete politische Vereinigung „Demokratie in Europa“ gründete sich unter dem Vorbild der griechischen Partei am 13. November 2021 neu als Partei.

So will sie nicht mehr nur auf nationaler Ebene die Europawahl für DiEM25 steuern, sondern als eigenständiger Teil die nationale Parteienlandschaft gestalten. Die sozialen Konflikte, mit denen sich DiEM25 konfrontiert sieht, werden folglich in den institutionalisierten Bereich des politischen Prozesses gebracht – und die Parteigründung wird zur polit-strategischen Entscheidung. Während die auf Deliberation unterschiedlicher Nationalitäten aufbauende Logik von DiEM25 (vgl. Schuster, 2018, S. 105) beibehalten wird, öffnet sich gleichzeitig das „Fenster zur Parteibildung“ (vgl. Cowell-Meyers, 2014, S. 74) für MERA25 und entfaltet seine Wirkung in vollzogener Gründung.

MERA25 & ihre Institutionalisierung – Einblicke in eine rebellische Agenda

Hinter der nun im Detail beleuchteten Entscheidung der Parteigründung steht also die „Taktik“ von DiEM25, sich institutionalisieren zu wollen und so das Potenzial für „langfristigen Einfluss“ zu erhöhen (Cowell-Meyers, 2014, S. 62). Den Weg hierhin ebnet die Überbrückung der transnationalen und nationalen Dimension (vgl. Moffitt et al., 2019, S. 2). Yanis Varoufakis bezeichnet dies als Schritt, um „Teil des politischen Fachwerks“ (Schwerdtner & Scholle, 2021) zu werden.

Eine starke Annäherung an eine solche Form der Institutionalisierung zeigt sich anhand der Adaption formaler Handlungsweisen in der Programmfindung von MERA25. Der Parteigründungstag stand diesbezüglich im Lichte der „rebellischen Agenda“ (Presseportal, 2021) – dem elf Programmpunkte umfassenden Parteiprogramm, welches in einem partizipativ-kommunikativem Prozess im Rahmen einer basisdemokratisch organisierten Plattform für das Crowdsourcing politischer Impulse ausgearbeitet wurde (vgl. MERA25, 2021). Die im Ergebnis erzeugte Verfestigung als Partei mit einem ihre Ziele umfassenden Programm (§1 Abs. 3 PartG) wird somit bei MERA25 mit „besonderen Kommunikationsformen“ (Jun, 2019, S. 83), die aus der Bewegungslogik stammen, verbunden. Die durch das Programm dominierenden Hinweise auf eine starke interne Institutionalisierung lassen sich besonders auf bereits vorhandene „gemeinsame politische Ziele und geteilte Werte“ (Weissenbach & Beyer, 2020, S. 3)zurückführen, die durch den Ursprung in der Bewegung DiEM25, die maßgeblich für Partizipation,  Transparenz und Inklusivität steht, vorliegen.

Bekräftigt wird die Entwicklung der Institutionalisierung durch die externe Wahrnehmung von MERA25 als politischer Akteur: Die Form der medialen Berichterstattung verstärkt die Sichtweise auf MERA25 als neuen systemischen Player (vgl. u.a. Presseportal, 2021): Die „Wahrnehmung als relevanter Akteur“ (Weissenbach & Beyer, 2020, S. 11) deutet durchaus daraufhin, dass eine gewisse Routinisierung und Etablierung des Akteurs im politischen – vor allem parteipolitischen Umfeld – stattfindet und so den Institutionalisierungsprozess extern begünstigt. Erklärt werden kann dies anhand der „Art der Gründung und dem Ursprung vor dem Einzug in das Parlament“ (ebd., S. 2): Die Genese der Vorfeldaktion DiEM25 ist entscheidend, um die Institutionalisierung von MERA25 zu verstehen. Für sie ist die skizzierte „Taktik“ der Institutionalisierung in das Parteiensystem ein „Mittel, um sich eine Stimme bei der Beeinflussung der Politik zu sichern“ (Schwartz, 2010, S. 601).

MERA25 & ihre Interaktionsform – Einblicke in eine enge Kooperationspraxis

Um diesen Versuch der Stimmensicherung zur gestaltungspolitischen Realität zu führen, wird MERA25 nicht nur zur Bewegungs-, sondern auch zur „Protestpartei“ (Hutter & Vliegenthart, 2018, S. 358): Sie lehnt in ihrer Verknüpfung von Bewegung und Partei das etablierte Parteiensystem und bestehende Repräsentationskanäle ab, nimmt jedoch gleichzeitig die institutionelle Form innerhalb dieses Systems an (vgl. Hutter et al., 2019, S. 172). So versucht sie, einen wesentlichen Beitrag für langfristige Veränderungen im Parteiensystem zu erreichen, in welchem Ihres Erachtens ohne ihren systemischen Einfluss keine paneuropäische Stimme laut werden kann.

Die Kooperationspraxis, die aus genau dieser Art, Politik zu begreifen, entsteht, meint das gegenseitige Lernen und Adaptieren bestimmter Handlungsmuster zwischen Partei und Bewegung. Während diese Sichtweise auf das voneinander lernende Verhältnis zwischen Partei und Bewegung von Konkurrenzen geprägt oder von gegenseitiger Abschottung gekennzeichnet sein kann, lässt sie sich hier als durchaus komplementär und kooperativ beschreiben (vgl. Jun, 2019, S. 84). In Anlehnung an ein prozessuales Verständnis der Kooperationspraxis auf einem Kontinuum zwischen Kooperation und Disruption lässt sich dies durchaus als kooperierende Form mit gleichzeitiger Permeabilität zwischen Partei- und Bewegungslogik beschreiben. Diese wird von der Hoffnung auf neue Ressourcen und der gleichzeitigen Sicherung, dass die Stimme der Bewegung gehört wird, gekennzeichnet (vgl. Schwartz, 2010, S. 590). Ihres Erachtens gilt hierfür der ausschließlich externe Einfluss auf etablierte Parteien als Bewegung als nicht ausreichend (MERA25, 2021). Aus der Parteilogik heraus nutzt MERA25 die Adaption formaler Techniken aus dem Parteiraum – auf dem Weg „vom informellen in das formelle“ (Coweel-Meyers, 2014, S. 63). Aus der Bewegungslogik heraus stammt bei MERA25 der gleichzeitige Fokus auf den transnational deliberativen Austausch – sichtbar beispielsweise anhand der Programmfindung via Crowdsourcing (vgl. Presseportal, 2021).

DiEM25 und MERA25 verbinden sich so durch eine gemeinsame kollektive Identität als intermediäre Akteure, die sich in ihrer Organisationsform und ihrem institutionellen Ort aufgrund zahlreicher Spill-Over-Effekte nicht mehr starr voneinander abgrenzen lassen. Der Einblick in die Kooperationspraxis ermöglicht, die Perspektive für eine zentrale Erklärung der Entstehung solcher Interaktionsmuster zu öffnen: Die eingangs bereits aufgezeigte Entwicklung hin zu „instabilen Repräsentationsmustern“ (Hutter et al., 2019, S. 163) bereitet den Weg für eine deutlich vielfältigere Interaktion von Parteien und Bewegungen. Diese scheinen die Veränderungen im Zusammenspiel von Bewegungen, Parteien und Zivilgesellschaft nachhaltig zu prägen. Hervorgerufen wird im Ergebnis eine durchaus engere, aber potenziell auch „folgenreichere“ (ebd., S. 163) Kooperationspraxis, die die Wahlpolitik von MERA25 im Parteiensystem substanziell beeinflusst.

MERA25 & ihre Wahlpolitik – Dilemma zwischen Potenzialen & Herausforderungen?

Letztgenannte engere und vor allem folgenreichere Praxis der Kooperation deutet darauf hin, dass eine normative Betrachtung von MERA25 sinnvoll zu sein scheint, um eine abschließende Abwägung zwischen Potenzialen und Herausforderungen zu gewährleisten und so die hier zentrale Frage hinsichtlich der Gestaltung der Wahlpolitik von MERA25 – aus demokratietheoretischer und -praktischer Perspektive – zu beantworten. Die Organisationsform von MERA25 als Bewegungspartei kann in diesem Kontext – im Hinblick auf entsprechende Potenziale in der Gestaltung ihrer Wahlpolitik – zunächst einmal legitimations- und partizipationsfördernd wirken. In ihrer Entscheidungsfindung ermöglichen sie, wie die Programmfindung als digitales Crowdfunding politischer Impulse zeigen konnte (vgl. MERA25, 2021), eine breite Beteiligung. So weitet MERA25 Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse partizipativ aus (Hanel & Marschall, 2012, S. 10). Als Resultat solch netzwerkartiger Aushandlungsprozesse kann MERA25 so in Zeiten wahrnehmbarer Einschnitte in das Repräsentationsprinzip (vgl. u.a. Hutter et al., 2019, S. 163) ein relevantes Potenzial zur demokratischen Stärkung der Beziehung zwischen intermediären Akteuren und Bürger:innen entfalten. Darüber hinaus vermag der transnationale Fokus, das Potenzial einer Vitalisierung europäischer Demokratie zu entfalten. MERA25 scheint so aus demokratietheoretischer Perspektive die „Muster der demokratischen Repräsentation“ (Cowell-Meyers, 2014, S. 61) potenziell verändern zu können. Begünstigt wird dies durch den Blick der Bewegungspartei auf die fehlende „adäquate Berücksichtigung von Interessen, Werten und Meinungen wesentlicher Teile der Bevölkerung durch die etablierte Politik“ (Jun, 2019, S. 85). Eindeutig hervorgehoben werden dadurch darüber hinaus die Mobilisierungspotenziale von Bewegungsparteien wie MERA25 – nicht nur in Bezug auf die Veränderungen von Partizipationsmöglichkeiten, sondern auch auf den erzeugten Druck gegenüber etablierten Parteien. Als daran anknüpfende erste Schlussfolgerung müssten die in der Leitthese diagnostizierten Defizite in der Wahlpolitik von MERA25 abgelehnt werden – jedenfalls in Bezug auf die skizzierte demokratietheoretische Perspektive.

Gerade aus der demokratiepraktischen Perspektive heraus müssen jedoch auch die Herausforderungen für die Wahlpolitik von MERA25 benannt werden. Diese entfalten durchaus starke Wirkung in Bezug auf die tatsächlich mögliche Umsetzung der bisher nur potenziell beziehungsweise theoretisch identifizierten Vorteile. Zu nennen ist hier zunächst – in Anlehnung an bisherige Ausführungen zum Scheitern von DiEM25 bei der Europawahl 2019 (vgl. Finkeldey, 2021, S. 233) – die potenzielle mangelnde Bereitschaft bewegungsorientierter Mitglieder, sich auf die Wahlpolitik einzulassen. Darüber hinaus ist bereits deutlich geworden, dass die Partei tief in ihrer Bewegungslogik verankert zu sein scheint. Somit lässt sich die Schlussfolgerung treffen, dass das „Primat der institutionalisierten Politik“ (ebd., S. 245) nicht mit der politischen Vorstellungskraft der Parteiaktivist:innen zusammenhängt. Dies trägt eine enorme Herausforderung in der Entwicklung einer Resilienz im Parteiensystem mit sich. Mit Blick auf die objektive Institutionalisierung der Partei (vgl. Weissenbach & Beyer, 2020, S. 11) gilt dies als zentral, da sie neben der internen und externen Institutionalisierung ebendiese „Überlebensdauer“ in Form der Resilienz neuer Parteien prägt. Bei MERA25 wird dies potenziell durch die unvollständige Entwicklung „vom radikalen in das moderate“ (Coweel-Meyers, 2014, S. 63) durch die dominierende Hybridität negativ beeinflusst. Es zeigt sich also ein Spannungsverhältnis zwischen der Parteiprämisse des vote seekings und der tief verankerten, netzwerkartigen Struktur der Bewegungspartei.

All diese aus demokratiepraktischer Perspektive bestehenden Herausforderungen entsprechen somit – so die zweite Schlussfolgerung – der Grundannahme des Essays, die die Defizite der Wahlpolitik an der tief verankerten Bewegungslogik sowie in der Wahrnehmung ebendieser zentralen Parteiprämisse als notwendiges Übel festmacht.

Dies sollte jedoch hinsichtlich der erstgenannten Schlussfolgerung und den damit zusammenhängenden demokratietheoretisch zu verortenden Potenzialen im Ergebnis verknüpft werden, um so abschließend zur Leitthese Stellung nehmen zu können: Es scheint äußert fraglich, ob die grundlegend zwar korrekte Grundannahme des Essays sowohl aus demokratietheoretischer als auch aus -praktischer Perspektive – so der Wortlaut der Leitthese – zu Defiziten in der Gestaltung der Wahlpolitik führen. Grundlegend ist hierfür der spezifische demokratietheoretische Beitrag von MERA25, der im Essay eindeutig identifiziert werden konnte. Somit scheint zwar die vollständige Umsetzung der demokratietheoretischen Potenziale als schwieriges Vorhaben; nicht zutreffend ist jedoch nach umfassender Prüfung die ausschließlich defizitäre Gestaltung der Wahlpolitik der Partei. Letzteres stellt, so kann es das Essay zeigen, eine zu pessimistische Perspektive auf die Entwicklung von MERA25 dar.

Das Ergebnis deckt somit tatsächlich ein Dilemma auf, mit welchem MERA25 aufgrund der Schwierigkeit, die Bewegungslogik in das Parteiensystem zu institutionalisieren, konfrontiert wird. Demokratietheoretisch identifizierte Potenziale als Lösungsansätze des „decline of parties“-Diskurses (Hanel & Marschall, 2012, S. 6) stehen hier im Gegensatz zu demokratiepraktischen Herausforderungen der Gestaltung einer „transnationalen Identität“ (Moffitt et al., 2019, S. 2) im deutschen Parteiensystem. Dies ruft die Frage hervor, ob die Potenziale der Institutionalisierung hinsichtlich ihrer „Versprechungen von Hierarchieabbau und Partizipation“ (Priester, 2018, S. 60) tatsächlich langfristig Entfaltung finden und so das System „rebellisch“ – so will es MERA25 jedenfalls – verändern können. Die Empirie zeigt zwar bereits „parteiübergreifende Trends“ (Weissenbach et al., 2018, S. 58) in Form der Demokratisierung von Beteiligungsarchitekturen, der Digitalisierung der Mitgliederorganisation und der Öffnung der Partei für Nichtmitglieder als Spill-Over-Effekte für etablierte Parteien. Gerade dadurch erscheint es jedoch fraglich, ob die Bewegungspartei in ihrer Rebellion im Parteiensystem tatsächlich erfolgreich ist oder ob die Trends, die MERA25 einzubringen wagt, bereits durch den ausschließlich externen Druck auf etablierte Parteien umgesetzt werden können. Können sich also bei der Bewegungspartei Rebellion und Realismus gleichermaßen durchsetzen? Haben radikale Forderungen mehr Chancen auf Erfolg, wenn die Organisation bewegungsförmig bleibt, indem sie ihren Einfluss über Medien und öffentliche Sichtbarkeit ausübt (vgl. Baringhorst, 2019, S. 151)? Sollte sie sich zu eigen machen, dass etablierte Parteien auf Protestparteien zu reagieren scheinen (vgl. Hutter & Vliegenthart, 2018, S. 361)? All diese Fragen werfen eine eindeutige Dilemmasituation für Bewegungsparteien auf. Entsprechende Lösungsansätze, die es künftig zu erforschen gilt, könnten einen spezifischen Beitrag dazu leisten, das demokratische System mit den Anreizen dieser Form von Parteiorganisation nachhaltig zu prägen und zu verändern – genährt von einer „Demokratisierung der Demokratie“ (vgl. Rucht, 2018, S. 48), deren Forderung in Zeiten kritischer Analysen postdemokratischer Zustände aktueller denn je scheint.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Wiesendahl, E. (2006). Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion (1. Aufl). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Zitationshinweis:

Alba Schmidt, Ana (2022): MERA25 – Für Vision und Verantwortung, Über die Potenziale & Herausforderungen der Bewegungspartei in der Gestaltung ihrer Wahlpolitik, Student Paper, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/mera25-fuer-vision-und-verantwortung/

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