Partizipation in einer digitalen Epoche

Markus Cammerzell, der den Master “Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung” an der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen studiert, kritisiert die Trennung zwischen Aktivismus und Protesten, die online und analog stattfinden. Beide Formate haben ihre Stärken und Schwächen und in der Praxis weisen Proteste häufig sowohl digitale als auch analoge Komponenten auf. Für ein Verständnis von Aktivismus und Protest scheint es produktiv, auf eine strikte Trennung zu verzichten, beide Formen zusammen zu denken und auf ein hybrides Verständnis hinzuarbeiten.

 

Eine Revolution, die über den Kurznachrichtendienst Twitter in Ägypten losgetreten wurde und sich von dort wie ein Lauffeuer auf weitere Länder der arabischen Welt ausdehnte. Das über Facebook und Twitter organisierte Aufbegehren gegen die internationale Finanzordnung im Zuge der Occupy-Bewegung, welches sich von der New Yorker Wall-Street bis in das Frankfurter Bankenviertel erstreckte. Oder aber der Protest einer Fünfzehnjährigen, die sich am ersten Schultag nach den Sommerferien 2018 vor dem Stockholmer Reichstag platzierte und mit Hilfe der digitalen Sphäre eine global-agierende Bewegung initiierte. Seit rund einer Dekade wird der digitale Kosmos zu einem immer populäreren Raum für politische und gesellschaftliche Partizipation von Bürger:innen.

Partizipation in einer digitalen Epoche

Die Notwendigkeit zur Schaffung eines hybriden Verständnisses von Protest und Aktivismus

Autor

Markus Cammerzell studiert das Masterprogramm “Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung” an der NRW School of Governance am Institut für Politikwissenschaft der UDE. Der Essay ist im Kurs “Digital Activism, Digital Oppostion, Digital Movements, Digital Parties” unter der Leitung von Dr. Kristina Weissenbach entstanden.

Die schöne neue Welt der Partizipation?

Eine Revolution, die über den Kurznachrichtendienst Twitter in Ägypten losgetreten wurde und sich von dort wie ein Lauffeuer auf weitere Länder der arabischen Welt ausdehnte. Das über Facebook und Twitter organisierte Aufbegehren gegen die internationale Finanzordnung im Zuge der Occupy-Bewegung, welches sich von der New Yorker Wall-Street bis in das Frankfurter Bankenviertel erstreckte. Oder aber der Protest einer Fünfzehnjährigen, die sich am ersten Schultag nach den Sommerferien 2018 vor dem Stockholmer Reichstag platzierte und mit Hilfe der digitalen Sphäre eine global-agierende Bewegung initiierte. Seit rund einer Dekade wird der digitale Kosmos zu einem immer populäreren Raum für politische und gesellschaftliche Partizipation von Bürger:innen.

All die aufgeführten Beispiele von Partizipation, die sich in Protest und Aktivismus niederschlugen, folgen vermeintlich einer anderen, einer neuen Funktionslogik von Partizipation. Aktivismus und etwaiger Protest wird immer sichtbarer, schnelllebiger und grenzenloser (vgl. Borucki 2020, S. 165). Protest und Aktivismus formieren sich nicht mehr nur ausschließlich im analogen Miteinander wie in den 1980er Jahren, wo Tausende Menschen aufgrund von Flugblättern, Medienberichten oder persönlichen Gesprächen zusammenkamen, um in den Straßenzügen westdeutscher Städte gegen die Stationierung von amerikanischen Pershing-Raketen zu opponieren. Aktivismus findet heutzutage oftmals äußerst niedrigschwellig und für fast jede Person nur einen Klick weit entfernt im grenzenlosen Raum des Internets statt. Diese sich so verändernde Gestalt der Partizipation beschäftigt die wissenschaftlichen Fachdisziplinen seit geraumer Zeit. Dadurch getrieben, die Besonderheiten des digitalen Raums zu erfassen, entwickelte sich in der Sozial-, Politik- und Kommunikationswissenschaft ein zunehmender Fokus auf den digitalen Raum und seine Besonderheiten für das Entstehen von Partizipation. Der digitale Raum erhielt eine immer wichtigere – vielleicht auch die wichtigste Rolle – für die Erklärung von Aktivismus und Protest. Doch inwieweit kann ein ausschließlich virtueller Aktivismus die Zukunft einer deliberativen Demokratie sein? Welchen Stellenwert nimmt Aktivismus und Protest im analogen Zusammenleben einer Gesellschaft ein, der Abseits des Surfens im Netz auf der heimischen Couch stattfindet?

Im Zuge dieser Ausarbeitung soll dargelegt werden, dass eine solch strenge Unterscheidung von Kollektivität und Konnektivität nur bedingt geeignet ist, um die Besonderheiten unserer hybriden Epoche abzubilden. Darüber hinaus wird unterstrichen, dass zukünftige Forschung gleichsam die analoge als auch die digitale Sphäre von Aktivismus und Protest in ihren theoretischen Überlegungen stärker zusammenführen sollte.

Die Epoche der Hybridität: Die Relevanz neuer Perspektiven auf das deliberative Zusammenspiel

Omnipräsenz, Revolution und Neuordnung. All diese Ausdrücke werden immer wieder genutzt, wenn es darum geht, die neuen Funktionslogiken des digitalen Raums und die daraus folgenden Resultate für Aktivismus und Protest in demokratischen Systemen zu erfassen. Doch obwohl wir längst in einer zweidimensionalen Epoche angekommen sind, wird der Versuch unternommen, bestehende Konstrukte der analogen und digitalen Epoche zu übernehmen. Diese sollen dann vermeintlich auf die Besonderheiten der Hybridität zwischen analoger und digitaler Sphäre anzuwenden sein. Dabei treten jedoch immer häufiger blinde Flecken hervor, die zu einem Entweder-oder führen.

Umso wichtiger ist es, diese blinden Flecken aufzulösen und die neuen Logiken mit geeigneten Konstrukten zu erfassen, die eben nicht einfach aus einer analogen oder digitalen Epoche adaptiert werden, sondern tatsächlich diese epochalen Neuerungen im analogen und digitalen Zusammenspiel demokratischer Systeme erfassen können. Die Bandbreite der wissenschaftlichen Handlungsbedarfe im Einzugsgebiet der Demokratie-, Aktivismus- und Protestforschung ist weit: von den neuen Logiken der politischen Mobilisierung und Partizipation in politischen Parteien (Bieber et al. 2022, S. 40), über die Suche nach Lösungen zur Vermeidung von digitaler Spaltung und zunehmender Polarisierung im Feld von Beteiligungs- und Kommunikationsprozessen (vgl. Borucki 2020, S. 166) bis hin zur genaueren Betrachtung der kommunikativen Kopplungen zwischen Online- und Offline-Räumen (Baringhorst 2014, S. 110). Daneben besitzt dieses Themenfeld auch eine alltägliche Relevanz für Gesellschaften in deliberativen Demokratien: Nur wenn kurz- bis mittelfristig eine weitere Eröffnung der Black Box des digitalen Raumes erfolgt, können demokratische Gesellschaften eine Resilienz gegenüber den zunehmenden Herausforderungen unserer hybriden Epoche entwickeln.

Der Weg in eine vernetzte Welt – Von der collective zur connective Action

Der Grundstein für die Einordnung von sozialen Bewegungen wurde bereits in den 1960er-Jahren in den Vereinigten Staaten gelegt. Runde eine Dekade später begannen auch Forschende aus dem deutschsprachigen Raum damit, soziale Bewegungen und ihre auf das Kollektiv ausgerichteten Merkmale zu erforschen (Goodwin/Jasper 2015, S. 3). Als konstituierend für soziale Bewegungen werden von Vertreter:innen des sogenannten Collective-Action Ansatzes fünf wesentliche Merkmale vorgebracht: (1.) kollektiver Protest, (2.) verstetigende Stabilisierung der kollektiven Aktivitäten, die über bloße Spontanzusammenkünfte und -aktivitäten hinaus gehen, (3.) Herausbildung spezifischer Formen von sozialer Organisierung, (4.) Erkennbarkeit von Führungspersönlichkeiten und organisierenden Kernstrukturen und (5.) die Herausbildung einer kollektiven Identität (Dolata 2017, S. 268). Den wohl bedeutendsten Mehrwert liefern die Collective-Action Ansätze jedoch bei der Erklärung, warum Personen abseits von nutzenmaximierenden Kalkülen dennoch an Aktivitäten von Bewegungen teilhaben, auch wenn sie keinen unmittelbaren individuellen Vorteil aus der Partizipation gewinnen können (Dolata 2017, S. 268).

Doch seit der immer stärkeren Ausbreitung des Internets scheinen die Erklärungsansätze der collective Action nicht mehr die alleinige Erklärungskraft für Partizipation zu besitzen. Den wohl wichtigsten Beitrag zur Interpretation neuer sozialer Bewegungen lieferten W. Lance Bennett und Alexandra Segerberg, die eine Neuausrichtung anhand der sogenannten connective Action vorschlugen (Bennett/Segerberg 2013). Der Ansatz der connective Action bezieht die Aspekte einer zunehmend individualisierten und technologisierten Gesellschaft mit ein, in der soziale Bewegungen nicht mehr zwangsläufig eine gemeinsame Identifikation in Form eines „Wir-Gefühls“ entwickeln müssen (Bennett/Segerberg 2013, S. 32). Viel relevanter sind hier neue Formen der Kommunikation, welche über die einschlägigen Kanäle des Internets stattfinden und neben der kommunikativen Komponente auch eine organisierende Komponente aufweisen (Bennett/Segerberg 2013, S. 196). Bennett und Segerberg unterstreichen in ihrem Beitrag insbesondere, dass diese neuartige Form des Aktivismus ohne etwaige Führungspersönlichkeiten oder organisierende Grundstrukturen auskomme.

Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis

Insbesondere die Ausrichtung des Connective-Action Ansatzes, welche die zunehmende Individualisierung von Gesellschaften, die von Ulrich Beck bereits in den 1980er Jahren proklamiert wurde (Beck 1983), mitberücksichtigt und die Besonderheiten des Digitalen miteinbezieht, scheint auf den ersten Blick geeignet zu sein, um die Gestalt sozialer Bewegungen im 21. Jahrhundert erfassen zu können. Doch wenn man vor seinem inneren Auge die zunehmend politisierten Protestbewegungen betrachtet, die in den letzten Jahren für Furore sorgten, scheint der Ansatz der Connective Action, die ihren Fokus nahezu vollständig auf den digitalen Raum legt, nur noch in Teilen als Erklärungsansatz geeignet.

Es waren die Occupy-Aktivist:innen in den Finanzhochburgen des Globus, die dem Protest seine Schlagkraft verliehen. Es sind Aufmärsche von tausenden jungen Menschen, die jeden Freitag in den Metropolen dieser Erde für Klimagerechtigkeit und ernsthaften Klimaschutz protestieren. Und es waren Ägypter:innen, die 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo standen und mit ihrem vehementen Protest den Arabischen Frühling einleiteten. All die genannten Beispiele haben eine echte, eine physische Komponente. Es sind Menschen, die mit ihrer Präsenz vor Ort auf Missstände aufmerksam machen und tatsächliche Veränderungen einleiten. Konnektivität und Vernetzung scheinen somit nicht die alleinige Erklärungskraft zu liefern. Vielmehr scheint die vielfache Absolutheit dieses Erklärungsansatzes nicht deckungsgleich mit den gegenwärtigen Realitäten moderner Gesellschaften zu sein.

Abseits des Slacktivism von der heimischen Couch – Veränderung braucht echte Partizipation

Der digitale Raum bringt viele Vorteile mit sich. Innerhalb kürzester Zeit können Menschen in Form eines Hashtags Aufmerksamkeit für einen Themenkomplex schaffen und Millionen von Menschen erreichen. Soziale Bewegungen können sich über den digitalen Raum organisieren und Probleme einer breiten Masse von Menschen artikulieren (Dolata 2017, S. 276). All das ist auch für eigentlich unpolitische Menschen möglich, die vom gemütlichen Sofa zu politischen Aktivist:innen werden können. Als Grund dafür wird immer die Niedrigschwelligkeit der Partizipation angebracht. Morozov nennt diese niedrigschwelligen Mitmachangebote auch „feel good Activism“ oder „Slacktivism“ (Morozov 2009). Diese Form der Partizipation sollte keinesfalls belächelt werden. Beispielsweise können niedrigschwellige Online-Petitionen den Druck auf wirtschaftliche Akteure so erhöhen, dass diese von in ihren in die Kritik geratenen Geschäftspraktiken absehen (Baringhorst 2014, S. 105).

Ob aus diesen niedrigschwelligen Formen von Aktivismus und Protest, eine nachhaltige Verstetigung stattfinden kann, die auch langfristig eine Haltung in den öffentlichen Diskurs einspeist und zu Veränderung führt, scheint jedoch fraglich zu sein. Dazu braucht es nämlich eine Identitätsbildung zwischen den Aktivist:innen (Gerbaudo/Trere 2015). Und eben darin besteht die Schwierigkeit im digitalen Raum. Viele Ideen, Sichtweisen und Haltungen kommen dort innerhalb kürzester Zeit zusammen. Viele davon liegen weit auseinander, andere sind womöglich deckungsgleich oder nur wenige Nuancen voneinander entfernt. Daraus jedoch eine gemeinsame Stoßrichtung zu formulieren, ist oftmals nicht möglich. Mit spitzer Zunge gesprochen kann man sagen, dass “eine von Konnektivität getriebene Bewegung […] gut genug sein mag, um jemandem zu helfen, sein verlorenes Mobiltelefon wiederzufinden […], aber nicht, um eine Regierung oder einen hegemonialen kulturellen Code herauszufordern“ (Bakardjieva 2015, S. 986).

Zum anderen ist Aktivismus auch unweigerlich mit der Frage verbunden, was Menschen in ihn investieren möchten. Hier gibt es die Sichtweise, dass sich durch das Internet die Frage der Transaktionskosten erübrigt habe, da es durch das Netz so einfach geworden sei, mit Menschen zusammen zu kommen (Shirky 2008, S. 201). Auch Bennett und Segerberg unterstreichen, dass durch Konnektivität das Problem des kollektiven Handelns gelöst werde (Bennett/Segerberg 2013). Diese Sichtweise mag insbesondere in einer Anbahnungsphase des Protestes überzeugen. Protest auf der Straße ist jedoch kostenintensiver (Van Aelst/Van Laer 2010, S. 1161). Lange Anreisen der Aktivist:innen zum Ort der Demonstration, die Furcht vor möglichen Repressalien aufgrund der Teilnahme oder aber auch nass-kaltes Novemberwetter verlangen mehr persönlichen Einsatz von Aktivist:innen als der Online-Aktivismus, der von der heimischen Couch aus stattfindet. Und seien wir doch ehrlich, digitale „Aufmärsche“ entfalten eben nicht die gleiche moralische Kraft und eine virtuelle Zusammenkunft erzeugt eben nicht die gleiche politische Drucksituation, wie eine Menschenmasse auf der Straße (Haunss 2018, S. 243).

Schöne neue (unfreie) Welt? – Die Intransparenz der neuen Funktionslogiken

Doch auch wenn der digitale Raum eher als eine vorangegangene und begleitende Kanalisierungsinstanz des physischen Protests angesehen werden sollte, ist er unweigerlich ein Zugewinn in Sachen Partizipation und Aktivismus. Es sind die vielfältigen Angebote wie Twitter, Instagram oder eben Facebook, die erst diese neuartige Form der Partizipation ermöglichen. Die Netzwerkstrukturen des Internets – insbesondere die der zuvor genannten sozialen Medien – kommen den Strukturen von sozialen Bewegungen nah, die vielfach auch als Netzwerke der Kommunikation angesehen werden (Castells 2009, S. 320). Diese These lässt sich anhand von vielfältiger Forschung zu Netzwerkstrukturen im Internet ausreichend belegen und scheint den geneigten Nutzenden sozialer Medien durch gemachte Erfahrungen auf einschlägigen Kanälen auch recht stichhaltig zu erscheinen.

Andererseits stechen die Schattenseiten dieser Plattformen – oder konkreter gesagt, die tiefgreifenden Probleme, die sie für eine deliberative Demokratie mitbringen – in den letzten Jahren immer deutlicher hervor. Die Nutzung dieser Plattformen war lange Zeit mit der Erzählung verbunden, dass Transparenz, Zugänglichkeit für alle Teile der Gesellschaft und ein gemeinsamer Diskurs möglich sei. Diese Interpretation des Internets als ein anwendungsoffenes Instrument wurde mehrfach unreflektiert übernommen (so z.B. bei Carty 2015).

Hingegen sind Intransparenz, digitale Spaltung und Fragmentierung ein wesentlicher Bestandteil der Debatten über soziale Medien in Wissenschaft und Gesellschaft geworden. Ein äußerst relevantes Problem ist die Intransparenz der großen Plattformbetreiber:innen wie Facebook, Twitter oder Instagram, die umfassende Informationsmonopole geschaffen haben. Diese Kanäle funktionieren quasi als informationelle Einbahnstraßen, da die Nutzenden zwar eine Reihe von persönlichen Daten und Verhaltensmustern anstandslos bereitstellen, aber nahezu keinerlei Information darüber erhalten, wie sich beispielsweise Diskurse um ein bestimmtes Thema bilden oder wie Accounts (einzelne Akteur:innen) Teil eines Diskurses werden. Exemplarisch für eine Reihe dieser Plattformen bringt es der Kommunikationswissenschaftler Siva Vaidhyanathan mit der – zugegebenermaßen – steilen These zur Mutter aller Plattformen auf den Punkt: „The problem with Facebook is Facebook“ (Vaidhyanathan 2018, S. 1). Soziale Medien sind eben nicht nur Möglichmacher der neuen Partizipationsformen, sondern sie setzen auch klare Regeln, strukturieren Handlungen der Nutzenden im digitalen Raum und intervenieren mitunter stark in diesen Handlungen.

Doch nicht so heterogen wie gedacht? – Der digitale Raum und seine Hürden

Daneben stellt sich zuletzt auch eine recht banale Frage: Wen erreicht man über die digitale Sphäre überhaupt für Protest? Häufig entsteht der Eindruck, dass das Internet einen niedrigschwelligen Einstieg bereite und somit nahezu jede Person partizipieren könne. Doch ist das tatsächlich der Fall? Die Zweifel an dieser These sollen anhand eines prominenten Beispiels dargelegt werden.

Die Nutzung von sozialen Medien während des Arabischen Frühlings kann unweigerlich als eine Sternstunde des digitalen Protestes beschrieben werden. Die oft proklamierte bedeutendere Rolle gegenüber klassischen Medien wie Telefon, Fernsehen oder Printmedien war es jedoch in keinem Fall. Die Untersuchung des Tahrir-Data-Project zeigt, dass Facebook zwar von rund 42 Prozent der Aktivist:innen genutzt wurde, jedoch nutzten nur 13 Prozent der Protestierenden den Kurznachrichtendienst Twitter. Klassische Medienformen wurden hingegen von deutlich mehr Aktivist:innen genutzt: 92 Prozent nutzten das Fernsehen, 82 Prozent griffen auf das Telefon beziehungsweise Handy zurück und 57 Prozent orientierten sich an klassischen Printmedien (Wilson/Dunn 2011, S. 1252).

Die Gründe für die geringe(re) Bedeutung von internetbasierten Medien können äußerst vielfältig sein und unterscheiden sich je nach globaler Region und Thema des Protestes mitunter stark. Ein Grund könnten zum Beispiel die demographischen Gegebenheiten einer sozialen Bewegung sein. Hier kommt der sogenannte Digital Divide ins Spiel. Oftmals herrscht eine Kluft zwischen älteren und jüngeren Generationen, wenn es um die Nutzungsfähigkeit von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien geht. Somit besteht die Gefahr, dass ein internetbasierter Aktivismus größere Teile einer älteren Generation ausschließt, da schlichtweg grundsätzliche Kompetenzen im Umgang mit diesen modernen Technologien fehlen (Kersting 2019, S. 114). Und auch ein kritischer Blick auf den Kurznachrichtendienst Twitter könnte den Grund für eine recht homogene Struktur in gewissen sozialen Bewegungen herauskristallisieren. Insbesondere in europäischen Staaten wird Twitter von einer recht homogenen, gut ausgebildeten und politisch interessierten Gesellschaftsschicht genutzt. Es wird daher oftmals als eine Art Elitenmedium gesehen, das vornehmlich von einer politischen Bubble genutzt wird (Karlsen/Enjolras 2016, S. 353).

Dies spricht dafür, dass die digitale Sphäre eben nicht der Raum ist, wo alle Teile der Gesellschaft zusammenkommen, um im Sinne einer deliberativen Demokratie zu interagieren.

Kein Entweder-oder – Partizipation der digitalisierten Epoche als analog-digitale Hybridform fassen

Die vorangegangene Ausarbeitung hat aufgezeigt, dass der digitale Raum große Potenziale für Partizipation bietet. Auch hinsichtlich einer Stärkung von deliberativen Demokratien besitzt er vielfältige Möglichkeiten. Doch es ist eben nicht ausschließlich der digitale Raum, der soziale Bewegungen schlagkräftig macht. Der isolierte Blick auf das Internet allein kann keine Antwort auf die Frage geben, warum aus einem Hashtag eine global agierende soziale Bewegung wird, die jeden Freitag in den Metropolen dieser Erde auf die Straßen geht. Es braucht mehr als das. Konnektivität als wirkliche und alleinstehende Alternative zu klassischen kollektiven Formen der Partizipation zu betrachten, scheint nicht in die Realität übertragbar zu sein.

Zum einen besitzt die soziale Komponente des Protestes ein hohes Gewicht. Es ist nicht stets der rein rational denkende Mensch, der seinen Aktivismus an einer reinen Kosten-Nutzen-Logik ausrichtet, sondern durch eine Haltung auf die Straße getrieben wird. Die digitale Sphäre ist eben nicht ausschließlich transparent und ermöglichend, sondern eben auch von den großen Plattformökonom:innen unserer Zeit durchreguliert und handlungsstrukturierend. Und der digitale Raum besitzt eben nicht die soziale Durchmischung und die Möglichkeiten für digitale Partizipation in allen Alters- und Gesellschaftsschichten, die ihm oftmals nachgesagt werden.

Die eingangs aufgeworfene Fragestellung konnte mit ersten stützenden Indikationen untermauert werden und aufzeigen, dass es in Zeiten von hybriden Gesellschaften, die sich sowohl aus dem digitalen als auch aus dem analogen Raum speisen, kein entweder oder geben darf. Dennoch sollte auch nicht darüber hinweggesehen werden, dass in den nächsten Jahren noch deutlich mehr Klarheit in das Zusammenspiel zwischen den beiden Räumen gebracht werden sollte. Das weite Forschungsfeld im Bereich der deliberativen Demokratie besitzt unzählige Forschungsbedarfe. Die digitale Sphäre ist für Wissenschaft und Gesellschaft vielfach noch völlig unbekannt und gleicht in vielen Bereichen noch einer Black Box. Insbesondere die Funktionslogiken der großen Social-Media-Plattformen müssen verstärkt Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung werden. Denn nur wenn Wissen über die Formierung von etwaiger Partizipation auf diesen Kanälen existiert, können treffsichere Ansätze zur Herausbildung einer resilienteren deliberativen Demokratie erfolgen. Denn nur mit diesem Wissen können Gesellschaften perspektivisch den digitalen Raum steuern und gestalten und nicht andersherum.

Literaturverzeichnis

Bakardjieva, Maria (2015): Do Clouds Have Politics? Collective Actors in Social Media Land. In: Information, Communication & Society. Vol. 18 (8). S. 983–990.

Baringhorst, Sigrid (2014): Internet und Protest. Zum Wandel von Organisationsformen und Handlungsrepertoires. Ein Überblick. In: Kathrin Voss (Hg.): Internet und Partizipation. Wiesbaden: Springer VS. S. 91-114.

Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Klasse und Stand. In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt. Göttingen: Schwartz & Co. S. 35-74.

Bennett, W. Lance und Segerberg, Alexandra (2013): The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics. Cambridge: Cambridge University Press.

Bieber, Christoph; Borucki, Isabelle; Ruttloff, Daniel; Weissenbach, Kristina und Ziegler, Stine (2022): Perspektiven der digitalen Parteiendemokratie. In: Digitale Gesellschaft – APuZ. Vol. 10-11. S. 35-41.

Borucki, Isabelle (2020): Die digitalisierte Demokratie. Ein Überblick. In: Zeitschrift für Politikwissenschaften. Vol. 30. S. 163-169.

Carty, Victoria (2015): Social Movements and New Technology. o. A.

Castells, Manuel (2009): Communication Power. Oxford: Oxford University Press.

Dolata, Urlich (2017): Technische erweiterte Sozialität. Soziale Bewegungen und das Internet. In: Zeitschrift für Soziologie. Vol. 46 (4). S. 266-282.

Gerbaudo, Paolo und Emiliano Treré (2015): In Search of the “We” of Social Media Activism. Introduction to the Special Issue on Social Media and Protest Identities. In: Information, Communication & Society. Vol. 18 (8). S. 865-871.

Goodwin, Jeff und Jasper, James M. (2015): The Social Movements Reader. Cases and Concepts. Chichester: Wiley Blackwell.

Haunss, Sebastioan (2018): Das Internet und das Versprechen neuer Formen der politischen Kollaboration. In: Naci Ghanbari, Isabell Otto, Samantha Schramm und Tristan Thielmann (Hg.): Kollaboration. S. 235-262.

Karlsen, Rune und Enjolras, Bernard (2016): Styles of Social Media Campaigning and Influene in a Hybrid Politival Communication System. Linking Candidate Survey Data with Twitter Data. In: The International Journal of Press/Politics. Vol. 21 (3). S. 338-357.

Morozov, Evgeny (2009): The Brave New World of Slacktivism. In: Foreign Policy. Vol. 19. Unter: https://foreignpolicy.com/2009/05/19/the-brave-new-world-of-slacktivism/. Abgerufen 02.03.2022.

Shirky, Clay (2008): Here Comes Everybody. The Power of Organizing Without Organizations. New York: The Penguin Press.

Vaidhyanathan, Siva (2018): Anti-Social Media. How Facebook Disconnects Us and Undermindes Democracy. Oxford: Oxford Univesity Press.

Van Laer, Jeroen und Van Aelst, Peter (2010): Internet and Social Movement Action Repertoires. In: Information, Communication & Society. Vol. 13 (8). S. 1146-1171.

Wilson, Christopher und Dunn, Alexandra (2011): Digital Media in the Egyptian Revolution: Descriptive Analysis from the Tahrir Data Sets. In: International Journal of Communication. Vol. 5. S. 1248-1272.

Zitationshinweis:

Cammerzell, Markus (2022): Partizipation in einer digitalen Epoche, Die Notwendigkeit zur Schaffung eines hybriden Verständnisses von Protest und Aktivismus, Student Paper, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/partizipation-in-einer-digitalen-epoche/

 

This work by Markus Cammerzell is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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