Stefan Kühl: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen

Kühl präsentiert eine sorgfältig recherchierte, immer gut lesbare organisationssoziologische Abhandlung, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Die anwendungsbezogenen Beispiele im Buch sind treffgenau und illustrieren die Konsequenzen von Abweichungen in Organisationen. Die Ausführungen regen auch Politikwissenschaftler zum Denken an.  Denn Facetten der Organisationssoziologie spielen beispielsweise in der Parteien- und Koalitionsforschung eine Rolle.

Zur Ordnung der Freiheit im demokratischen Verfassungsstaat gehört die Rechtsstaatlichkeit. Dem Amtsprinzip folgend, gilt die Rechtsgebundenheit aller Herrschaft. Aber welche Spielräume verbleiben innerhalb der Rechtsgebundenheit, um in Organisationen zu handeln? Wann ist abweichendes Verhalten rechtswidrig, wann regelwidrig? Brauchen wir „Schattenkabinette“, um erfolgreich entscheiden zu können? Und weiter: Was folgt daraus für die Überlebensfähigkeit einer Organisation?

Stefan Kühl: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen

Campus, Frankfurt/New York, 2020, 278 Seiten, ISBN 978-3-593-51301-0, 22,00 Euro

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs- , Parteien- und Wahlforschung.

 

Zur Ordnung der Freiheit im demokratischen Verfassungsstaat gehört die Rechtsstaatlichkeit. Dem Amtsprinzip folgend, gilt die Rechtsgebundenheit aller Herrschaft. Aber welche Spielräume verbleiben innerhalb der Rechtsgebundenheit, um in Organisationen zu handeln? Wann ist abweichendes Verhalten rechtswidrig, wann regelwidrig? Brauchen wir „Schattenkabinette“, um erfolgreich entscheiden zu können? Und weiter: Was folgt daraus für die Überlebensfähigkeit einer Organisation?

Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl beginnt mit Heinrich von Kleist, dem „Prinz von Homburg“. Die Geschichte illustriert treffgenau den Spielraum zwischen strikter Gefolgschaft, Einhaltung von Befehlswegen und Regelabweichungen. Der Prinz nutzt den Regelbruch, was ihn in der Schlacht zum Erfolg führt. Das Happy End auf dem Schlachtfeld hat aber Konsequenzen für denjenigen, der sich den Befehlen des Kurfürsten widersetzt hat. Oder sollte die Gehorsamsverweigerung nachlässig behandelt werden, wenn der Sieg das Ergebnis war? Das Dilemma ist nicht aufzulösen und mit dramatischer Wucht bei Kleist nachzulesen.

Organisationen brauchen Regeln, um berechenbar zu sein – von innen und von außen. Situative Anpassungen bleiben aber nie aus. Da dies zum Erfolg dazu gehört, spricht man mit Luhmann auch von „brauchbarer Illegalität“.

Kühl präsentiert eine sorgfältig recherchierte, immer gut lesbare organisationssoziologische Abhandlung in sieben Kapiteln. Er schreibt für Praktiker und für Wissenschaftler. Seine anwendungsbezogenen Beispiele sind treffgenau und illustrieren die Konsequenzen von Abweichungen in Organisationen. Das achte Kapitel liefert ein Ergebnis: Zum Management von Regelkonformität und Regelabweichungen. Theoretische und methodische Ausführungen sind für Feinschmecker im Anhang gut präsentiert.

Das Buch ist keinesfalls ein Aufruf zum Regelbruch. Es lädt dennoch ein, darüber systematisch nachzudenken, wie Korridore des Abweichens letztlich der Organisation helfen – solange die Anpassungen nicht angeordnet sind, sondern sich selbständig entwickeln.

In der Politikwissenschaft, insbesondere in der modernen Regierungsforschung, zeigen sich viele Schnittpunkte zur Organisationssoziologie. Viele Facetten spielen in der Parteien- und Koalitionsforschung eine Rolle, um zu markieren, wie aus Ideen parteipolitische Entscheidungen werden können. Ein anderes Feld eröffnet sich im Hinblick auf die Betrachtung des Kontinuums zwischen Formalität und Informalität im politischen Entscheidungshandeln.

Intensive Konsequenzen hat die Studie zudem für die Analyse des Politikmanagements in politischen Zentralen. Wie kommt es auf welchen Wegen zur politische Lageeinschätzung? Das ist von systemischen, administrativen und personellen Faktoren abhängig. Alle drei Dimensionen enthalten Potentiale von Regelbrüchen, die zum Funktionieren eines Frühwarnsystems in politischen Zentralen machtpolitisch unverzichtbar sind. Ein paar Ausflüge in diese Welt hätte ich mir von Kühl noch gewünscht, der aus der Organisationssoziologie eher in Richtung betriebswirtschaftlicher Überlegungen argumentiert und hierzu viele Beispiele liefert.

Auch das System der Machtmakler, die für Spitzenakteure in der Politik unverzichtbar sind, hätte den Mehrwert von informellen, nicht-transparenten, Organigramm-abweichenden Routinen gut dokumentieren können. Aber zu solchen Parallelüberlegungen aus Sicht anderer Fächer lädt der Autor unmittelbar ein. Denn der Herausforderung des Themas sollten sich alle stellen, die Gestaltungsziele verfolgen. Hilfreich sind auch einige Begriffe, wie „situative Elastizität“, „Sofa-Kulturen“ oder „Regelfetischismus“. Man kann es auch mit den Abweichungen übertreiben, wie ein russisches Sprichwort belegt: „Die Fehlerhaftigkeit unserer Gesetze wird durch ihre Nichtbeachtung kompensiert.“

Das Buch ist für alle Sozialwissenschaftler sehr empfehlenswert, die sich schon immer gefragt haben, welche Konsistenz einer Formalstruktur zukommt, wenn man sie auch anders nutzen könnte. Risiken und Nutzen zeigen die Fälle von Kühl auf, die mit den alltäglichen Regelabweichungen einhergehen.

Zitationshinweis:

Korte, Karl-Rudolf (2020): Stefan Kühl: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/stefan-kuehl-brauchbare-illegalitaet-vom-nutzen-des-regelbruchs-in-organisationen/

 

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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