Trägheit politischer Veränderungsprozesse

David Kerkenhoff-Szopinski, der neben seiner Tätigkeit als Vorstandsreferent im öffentlichen Dienst mit dem Schwerpunkt (kommunal-)politische Kommunikation den berufsbegleitenden Studiengang „Master of Public Policy“ an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen studiert, geht der Frage nach denjenigen Faktoren nach, die für die Schwerfälligkeit und Langwierigkeit von Wandel und Transformation verantwortlich sind. Welche Faktoren erschweren eine nachhaltige Transformation und erklären, dass die Mühlen in diesem drängenden Bereich so langsam laufen?

Vermutlich jede am politischen Geschehen der Bundesrepublik interessierte Person hat sich bereits die folgende Frage gestellt: Es ist doch mehr als klar, wo in Deutschland massive Fehlentwicklungen stattfinden: z.B. beim Klimawandel, der Bundeswehr, dem Glasfaserausbau oder im Bildungssystem. Wieso kann da kein Ruck durch „die Politik“ gehen? Wieso tut der politische Apparat sich so immens schwer damit, wichtige, richtige und notwendige Veränderungen proaktiv durch- und umzusetzen?

Trägheit politischer Veränderungsprozesse

Über nachhaltige Transformation und die Ursachen für die Schwerfälligkeit des Wandels

Autor

David Kerkenhoff-Szopinski studiert neben seiner Tätigkeit als Vorstandsreferent im öffentlichen Dienst mit dem Schwerpunkt (kommunal-)politische Kommunikation den berufsbegleitenden Studiengang „Master of Public Policy“ an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Im Rahmen des Moduls „politische Rationalität & Politikmanagement“ hat er für die Lehrveranstaltung „Gestaltung von Politikwandel und Transformation“ von Dr. Maximilian Schiffers einen Essay über die Hürden politischer Veränderungsprozesse verfasst. Darin beschäftigt er sich mit der Trägheit von Wandel und Transformation – für den Themenschwerpunkt „Regieren und Nachhaltigkeit“ wurden die Ergebnisse hinsichtlich des Transformationsfeldes „Nachhaltigkeit“ konkretisiert, um dieses in die Diskussion um Politikwandelprozesse einzuordnen.

1. Die übliche Anklage an „die Politik“

Vermutlich jede am politischen Geschehen der Bundesrepublik interessierte Person hat sich bereits die folgende Frage gestellt:

Es ist doch mehr als klar, wo in Deutschland massive Fehlentwicklungen stattfinden: z.B. beim Klimawandel, der Bundeswehr, dem Glasfaserausbau oder im Bildungssystem. Wieso kann da kein Ruck durch „die Politik“ gehen? Wieso tut der politische Apparat sich so immens schwer damit, wichtige, richtige und notwendige Veränderungen proaktiv durch- und umzusetzen?

Um ebendiese Fragestellung ging es auch am 9. Mai 2023 im ZDF, als der Moderator Markus Lanz in seiner gleichnamigen Talkshow den CDU-Bundespolitiker Norbert Röttgen im Zwiegespräch – zunächst am Beispiel der sogenannten „Flüchtlingskrise“ – mit der Schwerfälligkeit politischen Wandels konfrontierte. Die beiden Gesprächspartner formulieren und konkretisieren darin aus ihrer jeweils subjektiv-individuellen Perspektive mehrere Facetten der betroffenen Fragestellung, deren Tenor1 wie folgt zusammengefasst werden kann:

Moderator Lanz fragte danach, wieso sich die Politik schwer damit tue, proaktiv Diagnosen zu stellen und Lösungen zu finden, auch bei Themen, die aktuell öffentlich nicht platziert seien. Dabei hinterfragte er zudem die politische Scheue, „das Offensichtliche“ zu thematisieren sowie den Menschen „die Wahrheit zu sagen“ und zuzumuten.

Politiker Röttgen konstatierte, dass Öffentlichkeit Handlungsdruck erzeuge; dass dieser jedoch linear zur öffentlichen Thematisierung wieder abnehme, insbesondere wenn politische Reaktionen erfolgt und etwaige „Schadensfälle“ oberflächlich repariert seien. Dann würde neuer Handlungsdruck zu neuen Themen entstehen, ohne dass die bisher behandelte Problematik weiterbearbeitet und tatsächlich gelöst würde. Es gäbe bei großen bis hin zu existenziellen Themen und absehbaren Problemen also ein Muster, nach dem die Politik auf (plötzlich) aufgetauchte oder intensivierte Problemkonstellationen stets nur reagiere, statt Ruhephasen ohne Öffentlichkeit zu nutzen, um daran tiefergehend, konzeptionell und proaktiv (weiter) zu arbeiten – was insbesondere auch für das Transformationsfeld Nachhaltigkeit gelte (z.B. Klimawandel, Artenschutz, Biodiversität), also „die Bedrohung unseres Planeten“ als „Riesen-Thema“. Dies läge letztlich insgesamt daran, dass Politiker*innen für Letzteres kein „politisches Honorar“ und keinen Profit, sondern in der Regel ausschließlich Kritik erhielten – und dies unabhängig vom konkreten Thema/ Problem.

Die anklagende Fragestellung und die Aussagen des Zwiegesprächs sind von zwei Gemeinsamkeiten geprägt: Sie transportieren zum einen das Bewusstsein, dass an gleich mehreren Stellen (Politikfeldern) die dringende Notwendigkeit von Wandel und Transformation bestehen würde. Zum anderen konstatieren sie, dass ebendiese Notwendigkeit jedoch nicht zum „großen Wurf“ und einschneidenden Veränderungen führe – obgleich gesellschaftlich, strukturell oder institutionell. Unmittelbar damit verknüpft ist zudem regelmäßig ein negativer Unterton in Verbindung mit einem Gefühl zweifelnder Betroffenheit.

Vermutlich jede*r mündige Bürger*in ist als politischer Laie und ohne Expertise dazu in der Lage, nach seiner subjektiven Empfindung ad hoc-Lösungsansätze für einzelne Problemstellungen innerhalb eines konkreten Politikfelds zu formulieren – also Aussagen, mit denen Politiker*innen unter anderem gerne an Wahlkampfständen oder in Talkshows konfrontiert werden: „Sie müssen einfach mehr Lehrkräfte einstellen“; „der aufgeblähte Verwaltungsapparat der Bundeswehr muss verschlankt werden“; „führen Sie zur CO2-Reduktion doch einfach ein Tempolimit ein“. Während nun die Diskrepanz zwischen einer solchen simplifizierenden „man müsste doch einfach nur“-Kultur einerseits und dem tatsächlichen Ausbleibenden spürbarer Veränderungen anderseits mancherorts in Frustration oder gar Politikverdrossenheit mündet, lohnt sich andererseits der Blick in politikwissenschaftliche Erkenntnisse über ebendiese Diskrepanz.

2. Die Politikwissenschaft im Zeugenstand

Mit dem Phänomen, dass das Problembewusstsein und Handlungsnotwendigkeiten nicht unmittelbar auch in Problemlösungen und proaktivem Agieren münden, beschäftigt sich innerhalb der Politikwissenschaft die Politikfeldanalyse. Sie geht dabei der Frage nach denjenigen Faktoren nach, die für die Schwerfälligkeit und Langwierigkeit von Wandel und Transformation verantwortlich sind. Da eine Gesamtübersicht des aktuellen Forschungsstands und all seiner Dimensionen den Rahmen dieses Essays überschreiten würde, beschränkt es sich auf fünf ausgewählte, zentrale Aspekte.2

Zunächst ist jedoch kurz eine Abgrenzung der relevanten Begriffe vonnöten, die aus einer Veränderungsperspektive heraus im Sinne einer Klimax aufeinander aufbauen (Schiffers 2023: 91; Korte 2022: 418):

  • Stabilität = Beibehalten des Status‘ Quo/ Beharren im Ist-Zustand.
  • Inkrementalismus = zurückhaltendes Reformieren/ langsames Verändern.
  • Politikwandel = schrittweise Veränderung (Instabilität)
  • Transformation = substanzielle/ systematische Umformungen

2.1 Pfadabhängigkeiten und Stabilitäten

Das Konzept der Pfadabhängigkeit bezeichnet „einen vergangenheitsdeterminierten Prozess relativ kontinuierlicher bzw. inkrementeller Entwicklungen. Die jeweils erreichten Zustände können kollektiv ineffizient oder suboptimal sein, ohne dass der Prozess deshalb notwendigerweise zum Erliegen kommt oder radikal geändert wird“ (Werle 2007: 119). Der „Pfad“ bezeichnet dabei eine (historisch) gewachsene Struktur und/oder die Kumulation vergangener Entscheidungen, die jeweils aus sich heraus und angesichts ihres sukzessiven Entstehens und Bestehens Veränderungen gegenüber sehr resistent sind.

Korte beschreibt Pfadabhängigkeiten als „vorgefundene Routinen, Gewohnheiten und Regeln“, die man in der Geschichtswissenschaft auch als „Traditionslinien“ bezeichnen könnte (Korte 2022: 418-419) oder aber – mit Blick auf die Stabilität – in der Naturwissenschaft auch als „Trägheit der Masse“, der ein Beharrungsvermögen immanent ist. Die gewachsenen Strukturen und Entscheidungen bilden dabei gewissermaßen auch bestehende oder überlieferte (Macht-)Interessen und Empirien ab, gegen die sich politische Veränderungen in der Regel höchstens inkrementell/langsam, selten jedoch in Form von Wandel oder gar Transformation durchsetzen können (Schiffers 2023: 91).

Dies bedeutet letztlich, dass – unabhängig vom jeweiligen Politikfeld – der Policy Status Quo aus sich selbst heraus und ohne externe Einwirkungen bleiben will, wie er ist; und dass im Umkehrschluss Wandel und Transformation von einem Punkt aus formuliert, eingebracht und umgesetzt werden müssen, der außerhalb der vorherrschenden und beibehaltenden Interessenslage liegt. „Selbst in disruptiven Momenten der Veränderung durch Schocks versuchen die Systeme und wir als Bürgerinnen und Bürger eher das Fortsetzen von Routinen zu organisieren, als produktiv mit der Veränderung als Angebot umzugehen“ (Korte 2022: 414).

2.2 Institutionelle Hindernisse

Institutionelle Dimensionen stellen eine zweite Hürde von Wandel und Transformation dar. Hierunter fallen zum Beispiel die obersten fünf Verfassungsorgane (Bundestag, -rat, -regierung, -verfassungsgericht und -präsident), normierte Gesetzgebungsverfahren, Parteien und Fraktionen, institutioneller Bürokratismus, die Verfassung selbst oder „routinierte Praktiken und Regelsysteme“ (Korte 2022: 415) des politischen Systems. Die institutionelle Trägheit gegenüber Wandel und Transformation fußt dabei auf „institutionellen, politikverflechtenden Barrieren und politisch-kulturellen Befindlichkeiten der Sicherheitsdeutschen“ (Korte 2022: 415). Veränderungen spielen sich dadurch zwar eher langsam ab; dies wiederum sichere jedoch „gleichzeitig den hohen Standard an gesellschaftlichem und sozialem Frieden“ (Korte 2022: 415).

Zudem zeichnet sich das institutionelle Setting seinerseits ebenfalls durch eine Art Eigeninteresse an Stabilität (vgl. Kapitel 2.1) aus, sodass am Beispiel der „sozial-ökologischen Transformation (…) institutionelle Reibungen und Machtgleichgewichte (…) weitgehend stabil [bleiben]“ (Schiffers 2023: 92-93).

Institutionelle Barrieren sind also allein aufgrund ihrer Strukturen und Mechanismen fähig, Wandel- oder Transformationsbestrebungen massiv zu verlangsamen oder gar auszubremsen – insbesondere, wenn Veränderungsbestrebungen auf sie selbst abzielen, wie zum Beispiel Ansätze zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder des Wahlrechts auf Bundesebene.

2.3 Komplexität politischer Systeme

Bereits für den Versuch, politische Systeme vereinfacht schematisch-linear darzustellen, werden hochkomplexe Modelle benötigt. So bedarf schon der Policy Zyklus als recht simples Schema mehrerer Phasen: Problemdefinition, Agenda-Setting, Politikformulierung, Implementation, Evaluierung und Terminierung sowie jeweils zugehöriger Unterkategorien. Also Phasen, „in denen oft unterschiedliche Akteure beteiligt sind und unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen relevant sind“ (Wenzelburger/Zohlnhöfer 2023: 10). Allein das Abstimmen von Startpunkten, von Zielen und von Wegen, über die die abgestimmten Ziele erreicht werden sollen, zeigt sich insofern äußerst zeit-, arbeits- und ressourcenintensiv.

Während der Policy Zyklus jedoch bestenfalls lineare oder routinierte politische Prozesse abbilden kann, zeigt die politische Realität hingegen, dass vor allem unvorhersehbare Ereignisse, Dynamiken und gegenläufige Interessen – ob Sie nun in der breiten Öffentlichkeit oder nur in einschlägig interessierten Kreisen thematisiert werden – sehr regelmäßig vom betroffenen Prozess ablenken oder ihn konterkarieren können. Hinzu kommen weitere einschränkende Faktoren wie anstehende Wahlereignisse, Koalitionskonflikte, (interne/externe) Schocks oder die Änderung von politischen Überzeugungen im Laufe der Zeit.

2.4 Machtinteresse und Interessensvertretungen

Sind Wandel oder Transformation überhaupt gewollt? Diese Frage müssen sich Entscheidungsträger*innen immer dann stellen, wenn ihnen in Bezug auf konkrete Veränderungsvorhaben die dadurch tangierten Interessen in ihrer gesamten Bandbreite vorgetragen werden. „Hierunter fallen Konfliktlinien zwischen Industrie und Umwelt, aber auch die Asymmetrien der Interessensgruppenlandschaft zugunsten der Wirtschaftsinteressen gegenüber öffentlichen Interessen“ (Schiffers 2023: 93). Am Beispiel der USA konnte dargelegt werden, dass Interessensvertretungen – insbesondere Lobbyorganisationen – es vermochten, den Policy Satus Quo in zwei Drittel aller Fälle gegen Veränderungsvorhaben (von inkrementell bis transformationell) zu verteidigen (Baumgartner et al. 2009: 211). Vor allem in diesem Punkt ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Interessensvertretung sehr viel besser ist als ihr Ruf gemeinhin annehmen lässt. So werden zwar Lobbyorganisationen für Waffen, Tabak oder Alkohol aus moralischer Perspektive heraus negativ bewertet; wenn jedoch der NABU für Klimaschutzmaßnahmen oder Hebammen für bessere Versicherungsbedingungen eintreten, erfolgt öffentlich regelmäßig eine positiv konnotierte Rezeption.

Ähnliches gilt für Kontinuitäten der Machstrukturen (Schiffers 2023: 91). So kann das Interesse am Erhalt politischer Macht innerhalb eines Status‘ Quo den Interessen von Wandel und Transformation entgegenlaufen und sie unterdrücken – Establishment vs. Veränderung. Denn politische Macht kann sich unter anderem auch „gerade darin ausdrücken, bestimmte Themen von der Agenda fernzuhalten“ (Wenzelburger/Zohlnhöfer 2023: 9). Dem gegenüber stehen im Umkehrschluss möglich werdende Policy-Handlungsfenster in Zeiten, die sich durch ein Schwinden politischer Macht auszeichnen – eine solche „Machtauflösung“ kann prominent am Beispiel der letzten Regierungsmonate Angela Merkels („Kanzlerinnendämmerung“) festgemacht werden (Blum 2022: 3).

2.5 Risikoscheue

Wiederwahlüberlegungen und der damit verbundene Parteienwettbewerb spielen ebenfalls eine zentrale Rolle bei dem Forcieren von Wandel und Transformation. Wiederwahl und Wettbewerb zählen zu den wichtigsten Elementen, die den Rahmen von Policy-Entscheidungen setzen. „Wenn etwa Wiederwahlüberlegungen gegen ein Handeln sprechen, (…) ist die kausale Kette (…), die zum Policy-Output führt, unterbrochen“ (Wenzelburger/Zohlnhöfer 2023: 23). Grundsätzlich gilt es damit, aus der Perspektive von Politiker*innen Probleme nicht einfach nur zu lösen, sondern Probleme so zu bearbeiten, dass dadurch gleichzeitig die Chancen und Optionen auf eine Wiederwahl zumindest nicht minimiert werden können (Korte 2023: 425). Damit sind „Vorteile [aus Veränderungsvorhaben], die sich erst in der Zukunft entfalten, schwer zu ermitteln, [sic!] und werden daher besonders von kurzfristig orientierten Akteuren (wie zum Beispiel gewählten Amtsträgern in demokratischen Regimen) nicht berücksichtigt. Wenig risikofreudige Akteure [, zu denen vorliegend auch Politiker*innen gezählt werden dürfen,] scheuen sich daher vor schnellem institutionellen Wandel“ (Stefes 2015: 130).

Angesichts des Regelfalls des Beharrungsvermögens und des Interesses an Stabilität (vgl. Kapitel 2.1) kann das Streben nach Veränderung nur mit vielseitigen Risiken verbunden sein – Risiken, die sich aus der Konkurrenz zu institutionellen Hindernissen (vgl. Kap 2.2) oder gänzlich gegenläufigen Interessen (vgl. Kapitel 2.4) ergeben können. Risiken können zudem für Wähler*innen Unsicherheiten bedeuten, vor allem auch im Politikfeld der nachhaltigen Transformation, wie die aktuelle Debatte zum Heizungsgesetz verdeutlicht. Damit sind Risiken eine immense Gefahr für die Chancen einer Wiederwahl. Die Risikovermeidung liegt damit im existenziellen Interesse politischer Akteur*innen.

3. Fazit: Urteil und Bewertung

Zunächst ist festzuhalten, dass die fünf behandelten Aspekte nun auf der Grundlage sehr abstrakter politikwissenschaftlicher Erkenntnisse beleuchtet wurden – und im Gegensatz zum konkreten Fallbeispiel der eingangs erwähnten Talkshow nicht auf einzelne Politikfelder oder bestimmte Veränderungsvorhaben bezogen sind. Mit Blick auf spezifische Wandel- oder Transformationsvorhaben besteht also die Notwendigkeit diese unter die genannten abstrakten Erkenntnisse zu subsummieren, sodass letztlich auch deskriptiv Antworten dafür gefunden werden können, wieso explizit bei dem wohl wichtigsten, dringendsten und notwendigsten Politikfeld unserer Zeit – nämlich der nachhaltigen Transformation – die politischen Mühlen unerhört langsam laufen. Diesen Transferaufwand kann das vorliegende Essay höchstens in Bezug auf die getätigten Aussagen der Herren Lanz und Röttgen hin leisten, die nun anhand der gegebenen Erkenntnisse sehr viel besser eingeordnet und verstanden werden können:

Beispielsweise sind etwa das proaktive Stellen von Diagnosen und das Finden von Lösungen bei derzeit nicht öffentlich präsenten Themen (wie der Biodiversität oder Artenvielfalt), für das Politiker*innen laut Norbert Röttgen regelmäßig ausschließlich Kritik ernten, oder aber das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten wenig vereinbar mit dem in Kapitel 2.5 dargelegten Wiederwahlinteresse und dem Vermeiden von Risiken: Sie erwirtschaften schlicht kein „politisches Honorar“. Hieraus lässt sich ebenso die von Markus Lanz benannte „politische Scheue“ ableiten. Der von Norbert Röttgen beschriebene „Handlungsdruck“ bei „großen Themen“ sowie das dann oftmals relativ zügige wieder Verschwinden aus der öffentlichen Debatte kann auf die Dynamiken und Komplexität politischer Systeme zurückgeführt werden – nämlich beispielsweise auf den Umstand, dass das Agenda Setting innerhalb eines linearen Policy Zyklus-Modells selten einer kontrollierten Steuerung unterliegt (wie zum Beispiel dem zielgerichteten, sukzessiven Abarbeiten von Vorhaben des Ampel-Koalitionsvertrags), sondern vielmehr von den genannten einschränkenden Faktoren abhängig ist (zum Beispiel von Krisen und Schocks wie der Wahl Donald Trumps, der Corona-Pandemie oder dem russischen Angriffskrieg). Im Umkehrschluss zeigen explizit singuläre Ereignisse mit Bezug zum Klimawandel wie die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal im Jahr 2021 (Krise/Schock, siehe Kapitel 2.3), dass das Politikfeld der nachhaltigen Transformation seinerseits oftmals an den üblichen Hürden von Politikwandel abprallt: Zwar sprach die gesellschaftspolitische Öffentlichkeit eine gewisse Zeit lang in vielen verschiedenen Facetten über die Begriffe „Klimaschutz“ und „Klimaresilienz“. Jetzt – zwei Großkatastrophen-freie Jahre später – findet die zugehörige, eigentlich sehr notwendige Debatte jedoch nicht mehr statt. So konstatierte auch Norbert Röttgen allgemeiner: „ein Riesen-Thema, die Bedrohung unseres Planeten, aber es hat im Moment überhaupt keine Öffentlichkeit.“ Auch hier argumentiert Röttgen somit mit der in Kapitel 2.5 beschriebenen Risikoscheue: Aus kontroversen Lösungsvorschlägen, die gegebenenfalls den Menschen zudem etwas zumuten würden, würden die Kolleg*innen im Bundestag vor allem Nachteile erfahren. Letztlich binden bereits Stabilitäten (vgl. Kapitel 2.1) und institutionelle Hindernisse (vgl. Kapitel 2.2) oftmals die sehr limitierten Kapazitäten und Ressourcen einzelner Akteur*innen – zum Beispiel die Arbeitskraft von Abgeordneten und ihren Büromitarbeiter*innen.

Röttgen schneidet als „Akteur der Praxis“ ohne politikwissenschaftlichen Hintergrund die beschriebenen Hürden von Wandel und Transformation bereits in vielen Facetten an. Insofern kann man ihm für seine spontanen Antworten und Aussagen im Rahmen der Talkshow durchaus eine zufriedenstellende Antwortleistung attestieren. Aus Sicht des Verfassers bleibt die Hoffnung, dass die spontanen Aussagen Röttgens anhand dieses Essays nun in wissenschaftliche Erkenntnisse eingebettet, eingeordnet und dadurch strukturiert erläutert werden konnten.

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass anklagende Fragestellungen zur Schwerfälligkeit von Wandel und Transformation in der Regel erst dann ansetzen, wenn sich eine Problemstellung oder Krise bereits (öffentlich) entfaltet hat. So waren beispielsweise die schweren Folgen einer planetaren Klimaerwärmung mit der einhergehenden Notwendigkeit eines nachhaltigen Wirtschaftens spätestens zum Ende des 20. Jahrhunderts hinlänglich bekannt; eine das politische System anklagende Debatte hat es hierzu jedoch bis dahin niemals in der mittlerweile vorliegenden Intensität (unter anderem in Form der Bewegungen „Fridays for Future“ oder „Letzte Generation“) gegeben. Erst also, wenn die Erkenntnis einer Handlungsnotwendigkeit gegeben ist – wie auch immer sie zustande gekommen ist – und dies von einer breiten Öffentlichkeit flankiert wird, tauchen Anklagen an die Schwerfälligkeit von Wandel und Transformation auf. Betroffene Fragesteller*innen müssten sich folgerichtig die Rückfrage gefallen lassen, ob und wo sie denn selbst Themen identifizieren könnten, die aktuell explizit (noch) nicht öffentlich als krisenbehaftet rezipiert werden, sondern bei denen etwaige Krisen, die erst in Zukunft entstehen können, antizipiert werden – sodass bereits aus einer bisher gegebenen Ruhephase heraus proaktiv gegengesteuert werden könnte.3 Eine anklagende Fragestellung zu einer lediglich reaktiven Politikgestaltung ist insofern bereits als solche selbst genauso reaktiv.

Abschließend lässt sich nun konstatieren, dass an vielen Stellen – auch über die in der Talkshow angesprochenen Politikfelder hinaus – zwar die Handlungsnotwendigkeit eines „Ruck[s] durch „die Politik““ (vgl. Eingangsfragestellung) notwendig wäre. „Doch Demokratie braucht neben stiller Zustimmung auch aktive Mehrheiten, die die Politikgestaltung im Detail übernehmen und auch gegen Widerstände legitimieren. Selbst wenn man zurecht unterstellt, dass Verständnis und Wille für Transformation vorhanden sind, existieren strukturelle Beharrungskräfte des Status quo. Selbst ohne aktive Bremser ist Veränderung kein Selbstläufer“ (Schiffers 2023: 91).

Literaturverzeichnis

Berg-Schlosser, Dirk (2015): Vergleichende Methoden in der Transformationsforschung: Politische Kultur; in: Kollmorgen, R., Merkel, W., Wagener, H.-J. (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung, Springer VS, Wiesbaden.

Blum, Sonja (2022): Re(a)gieren im permanenten Krisenzustand; in: Korte, K.-R., Schiffers, M., von Schuckmann, A., Plümer, S. (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2021. Springer VS, Wiesbaden.

Korte, Karl-Rudolf (2022): Transformatives Regieren in Zeiten der Krisenpermanenz – ein Essay; in: dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 15 (2022).

Schiffers, Maximilian (2023): Neue Treiber, alte Hürden – Dynamiken von Politikstabilität und -wandel in der sozial-ökologischen Transformation; in: Korte, K.-R., Richter, P., von Schuckmann, A. (Hrsg.): Regieren in der Transformationsgesellschaft. Impulse zur Bewältigung von Vielfachkrisen aus Sicht der Regierungsforschung, Springer VS, Wiesbaden.

Stefes, Christoph (2015): Historische Institutionalismus und Gesellschaftstransformation; in: Kollmorgen, R., Merkel, W., Wagener, H.-J. (Hrsg.): Handbuch Transformationsfor-schung, Springer VS, Wiesbaden.

Plümer, Sandra (2023): Transformation durch Policy-Lernen: Die Krise als Chance des Wandels; in: Korte, K.-R., Richter, P., von Schuckmann, A. (Hrsg.): Regieren in der Transformationsgesellschaft. Impulse zur Bewältigung von Vielfachkrisen aus Sicht der Regierungsforschung, Springer VS, Wiesbaden.

Wenzelburger, Georg., Zohlnhöfer, Reimut (2023): Konzepte und Begriffe in der Vergleichenden Policyforschung. In: Wenzelburger, G., Zohlnhöfer, R. (eds) Handbuch Policy-Forschung. Springer VS, Wiesbaden.

Werle, Raymund (2007): Pfadabhängigkeit; in: Benz, A., Lütz, S., Schimank, U. & Simonis, G. (Hrsg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Springer VS, Wiesbaden.

Der Anhang kann in der PDF-Version des Textes abgerufen werden.

Zitationshinweis:

Kerkenhoff-Szopinski, David (2023): Trägheit politischer Veränderungsprozesse, Über nachhaltige Transformation und die Ursachen für die Schwerfälligkeit des Wandels, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/traegheit-politischer-veraenderungsprozesse/

This work by David Kerkenhoff-Szopinski is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Die Inhaltsangabe der für dieses Essay zentralen Wortbeiträge der Talkshow findet sich im Anhang. []
  2. Dabei ist dem Autor dieses Essays bewusst, dass es sich dabei um – mehr oder minder – willkürlich herausgesuchte Aspekte (Modi von Politikwandel und Transformation) handelt. Diese orientieren sich jedoch an der einleitend dargestellten Fragestellung sowie dem Tenor des Talkshow-Zwiegesprächs. Insofern wird hiermit betont, dass die Darstellung der fünf Aspekte keinen Anspruch auf eine vollumfängliche Darstellung der Politikfeldanalyse (in Hinblick auf Wandel und Transformation) erhebt. Dasselbe gilt für die zugrundeliegenden Modelle, Konzepte, Mechanismen, Akteure, Begrifflichkeiten etc. und der damit verbundenen, ineinandergreifenden, vielschichtigen Prozesse und Strukturen von Wandel und Transformation. []
  3. Denn im Gegensatz zu den in dieser Arbeit ausschließlich behandelten Hürden von Wandel und Transformation gehören zu den „Modi von Politikwandel und Transformation“ gleichermaßen auch die Treiber von Wandel und Transformation. []

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