Wahlkampf ohne Epizentrum: Konstellationen der bayerischen Landtagswahl 2023

Am 8. Oktober 2023 finden in Bayern Landtagswahlen statt. Dr. Michael Weigl von der Universität Passau wirft einen Blick auf den Wahlkampf in Bayern, die politische Stimmung und das schwarz-orange Bündnis – rund um die Folgen der “Causa Aiwanger”, die Wirkung der Mobilisierungsstrategien, die Rolle von Ministerpräsident Markus Söder und weitere zentrale Aspekte des bayerischen Wahlkampfs. Auch die Einflüsse auf die Regierungsparteien in Berlin werden mit Blick auf die anstehenden Wahlen in Bayern vielfältig diskutiert – Geschlossenheit und mehr Responsivität könnten eine kommunikative Devise sein, wenn die drohenden Stimmenverluste genauer analysiert werden, so Weigl.

Lange Zeit plätscherte der Wahlkampf zur bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober 2023 vor sich hin. Bei den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten stellt sich ein Déjà-vu-Erlebnis ein, Sieger und Verlierer scheinen längst festzustehen und das eine Wahlkampfthema, das das Wahlvolk bewegt,  will sich nicht finden lassen. Dann wirbelte die „Causa Aiwanger“ Staub auf, beschäftigte die Stammtische und schien der Bayernwahl neues Leben einzuhauchen. Doch inzwischen ist wieder Alltag in den bayerischen Landtagswahlkampf eingekehrt, dem es unvermindert an Esprit mangelt.

 

Wahlkampf ohne Epizentrum

Konstellationen der bayerischen Landtagswahl 2023

 

Autor

Dr. Michael Weigl ist akademischer Beamter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Regierungslehre der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind Fragen des Regierens und der Parteien mit besonderem Schwerpunkt auf bayerische Landespolitik.

 

Lange Zeit plätscherte der Wahlkampf zur bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober 2023 vor sich hin. Bei den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten stellt sich ein Déjà-vu-Erlebnis ein,1 Sieger und Verlierer scheinen längst festzustehen und das eine Wahlkampfthema, das das Wahlvolk bewegt,  will sich nicht finden lassen. Dann wirbelte die „Causa Aiwanger“ Staub auf, beschäftigte die Stammtische und schien der Bayernwahl neues Leben einzuhauchen. Doch inzwischen ist wieder Alltag in den bayerischen Landtagswahlkampf eingekehrt, dem es unvermindert an Esprit mangelt.

Die „Causa Aiwanger“

Mit den Diskussionen um ein antisemitisches Pamphlet aus der Schulzeit des Vorsitzenden der Freien Wähler (FW) und bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger2 hat der bayerische Landtagswahlkampf 2023 auch bundespolitische Aufmerksamkeit erlangt. Nicht nur die Oppositionsparteien im Freistaat erklärten einen stellvertretenden Ministerpräsidenten mit „braunen Flecken in seiner Vita“3 für nicht mehr tragbar, auch die bundespolitische Elite verlangte eine lückenlose Aufklärung der Vorgänge um das 1987/88 am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg (Niederbayern) verbreitete und nach eigener Aussage von Aiwangers Bruder verfasste Flugblatt. Selbst Anne Will fragte in ihrer ARD-Talkshow am 10. September, ob „der Fall Aiwanger“ einen „Schaden für die politische Kultur“ in Deutschland darstelle.

Die Opposition in Bayern sah in der Diskussion um Aiwanger die Chance, doch noch ein Momentum in eigener Sache zu schaffen und dem für sie schleppend verlaufenden Wahlkampf neuen Schwung zu verleihen. Entsprechend konzentrierten sich ihre Attacken nicht nur auf Aiwanger selbst, sondern ebenso auf den bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Markus Söder und dessen Umgang mit seinem Koalitionspartner. Tatsächlich verliert die CSU in der auf die „Affäre“ folgenden Umfrage an Zustimmung unter den Wählerinnen und Wählern (36 Prozent, – 3 Prozentpunkte).4 Einzig die FW konnten von den hitzigen Diskussionen profitieren und gewannen in derselben Umfrage fünf Prozentpunkte hinzu (17 Prozent). Welche Relevanz die 35 Jahre alten Vorgänge für die Politik im Hier und Jetzt haben sollten, zumal Aiwanger zwar bis dato wiederholt mit populistischen Ausfällen, nicht aber als Antisemit aufgefallen war, wussten die Oppositionsparteien bis zuletzt nicht überzeugend zu vermitteln. So waren die Diskussionen um Aiwangers Vergangenheit zwar eine Abwechslung im Wahlkampfalltag – folgenreich, sollte das Umfragehoch für die Freien Wähler bis zum Wahltag anhalten; nur eine Episode, sollten sich die Umfragewerte wieder dem für die FW bislang üblichen Wert von 10 bis 12 Prozent annähern. An der Logik des bayerischen Landtagswahlkampfes hat der Aufreger Aiwanger ohne nichts geändert. Es geht nicht darum, wer künftig regiert, sondern wie die Kräfteverhältnisse in Regierung und Landtag sein werden.

Fortsetzung der schwarz-orangen Koalition

Die bayerische Landtagswahl 2023 ist keine Entscheidung über die Zusammensetzung der künftigen Regierung im Freistaat. Nichts deutet darauf hin, dass die aktuell amtierende schwarz-orange Koalition aus CSU und Freien Wählern am Abend des 8. Oktober Geschichte sein wird. Nicht nur haben sich sowohl Aiwanger als auch Söder für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit ausgesprochen und andere Koalitionsvarianten – allen voran ein viel diskutiertes schwarz-grünes Bündnis – ausgeschlossen. Auch die Umfragen seit der letzten Landtagswahl 2018 zeigen fast durchgehend eine stabile Stimmen- und eine komfortable Mandatsmehrheit für die Koalitionsparteien (vgl. Abb. 1 und 2). Die vorherrschende Frage ist demnach nicht, ob es wieder zu Schwarz-Orange kommt, sondern vielmehr, wie die Kräfteverhältnisse innerhalb der nächsten Koalition sein werden und ob es der CSU gelingen wird, ihren bislang mehr als komfortablen Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern und vor allem den Freien Wählern zu halten.

Bayerisches Spezifikum seit 1946 ist, dass die Parteien Mitte-Rechts über 60 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können. Daran hat sich trotz der Fragmentierung der bayerischen Parteienlandschaft auch in den letzten Jahren nichts geändert. Früher war es die CSU, die das Feld Mitte-Rechts fast nach Belieben dominierte, die „Reststimmen“ fielen vor allem auf die FDP, die allerdings nicht selten selbst das Minimalziel – das Erreichen der Fünf-Prozent-Hürde – verfehlte.5 Heute konkurrieren gleich vier Parteien von potenzieller parlamentarischer Relevanz um die Stimmen Mitte-Rechts, wobei sich die Freien Wähler und die AfD eines Stimmenanteils von 10+x sicher sein können, während die FDP dagegen weiterhin um den Einzug in das Maximilianeum zittern muss. Eine absolute Stimmen- oder gar Mandatsmehrheit ist unter diesen Umständen für die CSU nicht mehr zu erreichen. Jedes Ergebnis um die 40 Prozent wäre für die Partei als Erfolg zu werten. Eine Mehrheit gegen die CSU ist aber angesichts des Ausschlusses der AfD aus den Koalitionsüberlegungen aller Parteien nach wie vor  nicht mehr als bloße Theorie. Im Jahr 2013 träumte der SPD-Spitzenkandidat – der damalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude – von einem Bündnis aller gegen die CSU.6 So fantastisch diese Pläne damals klangen, so unrealistisch sind sie heute. Selbst wenn eine Mehrheit gegen die CSU in Form eines Bündnisses von Freien Wählern, Grünen und SPD rechnerisch möglich wäre, wäre ein solches Bündnis kaum politisch zu realisieren.

Abb.1: Die politische Stimmung in Bayern 2018-2023

Quelle: Eigene Darstellung. Datenbasis: GMS.

Abb. 2: Mehrheit der amtierenden Regierungskoalition (CSU-FW) im Landtag 2018-2023

Darstellung der Summe von CSU und FW im Verhältnis zu allen im Landtag vertretenen Parteien gemäß Umfragen (in Prozent). Keine Berücksichtigung von Überhangs- und Ausgleichsmandaten.
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung. Datenbasis: GMS.

Populismus als Mobilisierungsstrategie

Die Freien Wähler verstehen sich selbst als pragmatische Partei, die konkrete Herausforderungen eher sachorientiert als ideologisch angeht.7 Und tatsächlich lässt das Selbstbild der FW als bürgerlich-liberale Partei viel Raum für tagespolitische Positionierungen. An ihrer Verortung Mitte-Rechts aber gibt es keine Zweifel. Indem die CSU in ihrem Selbstverständnis als Volkspartei den gesellschaftlichen Wandel – zuweilen zögerlich und inkonsequent, aber doch spürbar – mitvollzieht, gibt sie Räume der thematischen Profilierung im bürgerlichen-konservativen Segment frei, die die FW seit ihrer Gründung als ‚Fleisch vom Fleische der CSU’ wertkonservativ zu besetzen versuchen. Noch dezidierter als die CSU versuchen sich die Freien Wähler auch im laufenden Landtagswahlkampf mit Fragen des ländlichen Raums, der Landwirtschaft, der Heimatverbundenheit und auch der Inneren Sicherheit zu profilieren8 – und nutzen damit die Möglichkeiten, die sich ihnen seit dem Modernisierungsschub der CSU unter Markus Söder9 verstärkt bieten. Dem Bild eines Bäume umarmenden Ministerpräsidenten setzen die FW ein Stück ‚alte CSU‘, ein Stück traditionelle bayerische Identitätspflege entgegen.

Bis heute sind die FW keine Partei, die eindeutig rechts von der CSU zu verorten wäre oder gar dem rechtspopulistischen Spektrum zugeordnet werden könnte. Ihr aktueller Höhenflug in den Umfragen ist daher keineswegs und ohne Weiteres als „Rechtsruck“10 der bayerischen Politik zu werten. Polarisierende, polemisierende und dezidiert wertkonservative Pfeile hat der FW-Vorsitzende Aiwanger allerdings immer häufiger im Kampagnenköcher. Spätestens seit seiner Auslassung, „die schweigende Mehrheit“ müsse sich „die Demokratie zurückholen“,11 muss sich Aiwanger nicht nur den Vorwurf populistischer Entgleisungen gefallen lassen. Er entfernt seine Freien Wähler so auch immer weiter von den Grünen und der SPD, die in einer Sitzung des Landtages sogar seine Entlassung als Wirtschaftsminister forderten.12 Von einem Bündnis der Parteien jenseits der CSU, um diese aus der Bayerischen Staatsregierung zu drängen, spricht angesichts dieser immer größer werdenden Kluft zwischen den FW einerseits und SPD, Grünen und FDP andererseits niemand mehr. Mehr noch als die CSU, die theoretisch auch mit den Grünen koalieren könnte, sind die FW auf ein Bündnis mit der CSU angewiesen, um sich ihrer Regierungsverantwortung auch in Zukunft sicher sein zu können.

Stabil und doch labil: Das Bündnis Schwarz-Orange

Ob Söders Absage an eine schwarz-grüne Koalition und seine Festlegung auf eine Fortsetzung des schwarz-orangenen Bündnisses bereits 2022 verfrüht war oder nicht, wurde angesichts der Äußerungen Aiwangers wiederholt diskutiert. Tatsächlich hat sich Söder damit in eine Situation manövriert, in der er Aiwangers Auslassungen lediglich kritisieren, aber nicht mehr sanktionieren kann. Gleichzeitig hat er mit dieser Festlegung den Grünen jede Machtoption und deren Wahlkampagne manche Durchschlagskraft genommen. Ganz umsonst haben die Grünen ihr Programm zur Landtagswahl mit „Regierungsprogramm“13 überschrieben. Auch die Koalitionsaussage zugunsten der Freien Wähler hat den bayerischen Landtagswahlkampf zu einem Lagerwahlkampf ‚alten Stils‘ – CSU und FW hier, Grüne und SPD dort – und zu einer Auseinandersetzung um Regierungskompetenz – CSU in Bayern, Grüne, SPD und FDP im Bund – werden lassen. Solange die aktuellen Regierungsparteien dieser Wahlkampflogik folgten, funktionierte die Strategie Söders durchaus, die Umfragewerte wiesen stabil um die 40 Prozent der Stimmen für die CSU aus. Doch mit dem Austritt Aiwangers aus der Kampfgemeinschaft wurde aus dem Wahlkampf Regierung vs. Opposition eine Auseinandersetzung der Regierungsparteien untereinander („Jeder kämpft natürlich in dieser Zeit für sich“)14 – und die Strategie der vorzeitigen Koalitionsaussage wurde für die CSU eher zur Wahlkampfbremse als zum Wahlkampfbeschleuniger.

Sollte es tatsächlich zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Koalition aus CSU und Freien Wählern kommen (was derzeit keineswegs sicher prognostiziert werden kann), sollten also die Freien Wähler tatsächlich stärker werden und den Abstand zur CSU verringern können, wäre dies für die CSU zunächst ein Problem. Die Gefahr, von einer vor Selbstbewusstsein strotzenden FW vor sich hergetrieben zu werden, ist real. Schon bei der Kabinettsbildung könnten die Freien Wähler ein Ministerium mehr als bislang (drei plus zwei Staatssekretäre) für sich beanspruchen, was den Patronagespielraum Söders empfindlich einschränken würde.15 Langfristig könnte sich eine solche Konstellation für die FW allerdings  als Hypothek erweisen. Die CSU könnte unter diesen Umständen erwägen, den eingeschlagenen Modernisierungskurs weiter zu forcieren und sich damit auch wieder den Grünen zu öffnen. Zurückbleiben könnten die Freien Wähler, die für eine Regierungsbildung nicht mehr benötigt werden und im Parteienspektrum stärker als bisher isoliert wären.

Der alte und der neue Ministerpräsident

Wie lange Hubert Aiwanger dem bayerischen Kabinett noch angehören wird, bleibt abzuwarten. Er selbst liebäugelt mit einem Wechsel von der Landes- in die Bundespolitik, sollten seine Freien Wähler bei der Bundestagswahl 2025 den Einzug in den Reichstag schaffen. Vorerst scheint es aber unwahrscheinlich, dass es in der Führungsetage des bayerischen Kabinetts zu weitreichenden Änderungen kommen wird. Aiwanger hat bereits seinen Anspruch auf die Leitung des Wirtschaftsministeriums geltend gemacht– und auch der Name des neuen alten bayerischen Ministerpräsidenten scheint längst festzustehen. Da sich in der CSU derzeit niemand als mehrheitsfähige personelle Alternative zum Parteivorsitzenden zu positionieren vermag, droht Söder selbst bei einem für die Partei enttäuschenden Ausgang der Landtagswahl kaum das Schicksal des ‚Königsmordes‘. Schwieriger könnte es für den noch kurz vor der Wahl mit 96,6 Prozent der Delegierten wiedergewählten Parteivorsitzenden16 dennoch werden.

Tatsächlich hat sich Markus Söder bislang nicht als erfolgreicher Wahlkämpfer beweisen können, alle drei von ihm als Parteivorsitzendem angeführten Urnengänge (Landtagswahl 2018, Europawahl 2019, Bundestagswahl 2021) endeten für die einst erfolgsverwöhnte CSU mit enttäuschenden Ergebnissen.17 Die Landtagswahl 2023 könnte sich mit einem Ergebnis unter  40 Prozent in diese Reihe der Ernüchterungen einreihen und Söders innerparteiliche Position schwächen. Die innerparteilichen Kritiker Söders würden in einem solchen Fall Auftrieb erhalten, die Diskussionen um den Vorsitzenden und seinen bisweilen als zu wenig diskursiv kritisierten Stil würden an Fahrt gewinnen. Sollte das Ergebnis keinen Stimmenzuwachs gegenüber 2018 ausweisen, könnte Söder sogar zu einem Parteivorsitzenden auf Bewährung werden, hinter dessen Rücken sich die Reihen neu sortieren und Nachfolger in Stellung bringen. Söders Hinweis, entgegen ursprünglichen Überlegungen nun gegebenenfalls für eine dritte Amtsperiode zur Verfügung zu stehen,18 ist so als Versuch zu verstehen, sich über den Wahlabend hinaus innerparteiliche Loyalitäten zu sichern. Die Europawahl 2024 wäre dann die nächste Gelegenheit, bei der Söder beweisen kann und muss, dass er Wahlen gewinnen kann, um so mögliche Absetzbewegungen von seiner Person zu verhindern. Für Söder geht es bei der anstehenden Landtagswahl also nicht um alles, aber um viel. Wer führen will, braucht Follower. Wer Führung fordert, muss Führung bekommen. Söder wird Ministerpräsident bleiben, aber sein Führungsanspruch könnte Schaden nehmen – in Bayern, aber auch im Bund.

Bundespolitik als Angriffsfläche und Hypothek

Die CSU generiert ihre landespolitische Stärke nicht zuletzt aus ihrer bundespolitischen Relevanz – und vice versa. Aufgrund ihrer in der deutschen Parteienlandschaft einzigartigen Aufstellung als Hybrid aus Regional- wie Bundespartei ist es allein ihr möglich, sich als bayerische Interessenvertretung im Bund zu inszenieren. Auch im aktuellen Landtagswahlkampf ist dieser Topoi christlich-sozialen Selbstverständnisses wieder präsent, beispielsweise wenn die CSU das neue von der Berliner Ampel beschlossene Wahlgesetz bekämpft, für eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs wirbt, die schwache bundespolitische Repräsentanz der bayerischen Landesverbände der Oppositionsparteien thematisiert oder generell die Berliner Ampelregierung kritisiert. Kritik an Rot-Grün-Gelb meint immer auch einen Verweis auf 52 Jahre christlich-soziale Regierungsbeteiligung im Bund, meint immer auch ein ‚Wir können es besser‘. Doch auch wenn Söder im Landtagswahlkampf ein Feuerwerk an Kritik in Richtung Berlin abbrennt, fehlt den Attacken die letzte Durchschlagskraft – sei es aus eigener Schwäche, sei es, weil die Oppositionsparteien den Attacken aus dem Weg gehen.

Die derzeitige Oppositionsrolle auf Bundesebene schränkt die Möglichkeiten der CSU, sich als kraftvolle Vertretung bayerischer Interessen auf Bundesebene darzustellen und derart landespolitisch zu mobilisieren, erheblich ein. Es fehlen die Bühnen der Bundesregierung und des Koalitionsausschusses, um sich bundespolitisch zu inszenieren. Als Vorsitzender der gemeinsamen Fraktionsgemeinschaft im Bundestag und der CDU steht Friedrich Merz im Fokus der medialen Aufmerksamkeit, Alexander Dobrindt als Vorsitzender der CSU-Landesgruppe gelingt es in dieser Konstellation nur selten, sichtbare Akzente zu setzen. Auch die Tatsache, dass die Bundesregierung im Umfragetief steckt und die Zufriedenheit mit der Regierung Scholz auf einem Tiefpunkt ist, kommt der CSU nur bedingt zugute. Zwar wird ihr Wahlkampf von Attacken gegen Berlin dominiert. So wie es der Union auf Bundesebene kaum gelingt, aus der Unzufriedenheit mit der Bundespolitik Kapital zu schlagen, tut sich die CSU auch in Bayern schwer, ihre Themenagenda zu platzieren. Die aktuelle bundespolitische Themenlandschaft erweist sich für alle Parteien – ob in Regierung oder Opposition (mit Ausnahme der AfD) – als kompliziert:

  • Die Position, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen und nicht im Dialog mit Russland zu opfern, eint Regierung und große Teile der Opposition. Für die SPD und vor allem die Grünen stellt sich angesichts dieser Konstellation auch landespolitisch die Herausforderung, pazifistische Unterstützernetzwerke für sich zu mobilisieren. Die CSU wiederum kann die Ukrainepolitik der Bundesregierung lediglich im Detail, nicht im Grundsätzlichen kritisieren.
  • Auch der realpolitische Kurs, den die Bundesregierung angesichts der besonderen Rahmenbedingungen in Klima- und Umweltfragen einschlagen muss, ist wenig geeignet, die alten Angriffe der christlich-sozialen Ideologiepolitik gegen die Grünen allzu offensiv aufzuwärmen. Diese wiederum deklinieren das Thema Umwelt in ihrem Wahlprogramm19 zwar ausführlich als Querschnittsthema durch und fordern einen weitreichenden Wandel hin zu einer Politik, dem Leitbild der Nachhaltigkeit die in allen Lebensbereichen folgt. Doch die Glaubwürdigkeit grüner Umweltpolitik hat mit dem Kurs der Parteispitze in Berlin gelitten.
  • Schließlich spielt das Thema Migration auch im Landtagswahlkampf eine wichtige Rolle: Rund ein Viertel der bayerischen Wählerinnen und Wähler hält Fragen der Zuwanderung für das aktuell wichtigste Thema20 , und wie andernorts sehen sich auch im Freistaat viele Kommunen bei der Unterbringung und Integration von Geflüchteten am Limit. Mit der Forderung nach einer Obergrenze von 200.000 aufzunehmenden Flüchtlingen pro Jahr – von Söder als „Integrationsgrenze“21 bezeichnet – hat der CSU-Vorsitzende seine Forderung nach einer Wende in der Migrationspolitik medienwirksam im Wahlkampf platziert. Allerdings ist auch dieses Thema vermint, eine auch nur rhetorische Nähe zur AfD will die Partei unbedingt vermeiden – die Erfahrungen der Jahre nach 2015 haben die CSU gelehrt, sich von der AfD dezidiert abzugrenzen, statt sich ihr anzubiedern. Die Oppositionsparteien wiederum verteidigen den Kurs der Bundesregierung in der Migrationspolitik, wissen aber auch um die Sorgen der Kommunen. Kommunalpolitikerinnen und -politiker auch der Ampelparteien haben sich einer Initiative von 71 bayerischen Landräten angeschlossen, die angesichts erschöpfter Kapazitäten mehr bundespolitisches Engagement bei der Aufnahme von Geflüchteten fordern.22

Die komplexe bundespolitische Themenlandschaft führt dazu, dass die Ampelparteien (allen voran Grüne und SPD) im bayerischen Landtagswahlkampf zwischen Nähe und Distanz zu ihren Bundesparteien hin- und hergerissen sind und auch die CSU ihre bundespolitische Oppositionsrolle nicht mit letzter Konsequenz in die Waagschale werfen kann. Während sich die Wahlkampagnen der Ampelparteien im Wesentlichen auf Schadensbegrenzung konzentrieren, indem sie Angebote an die eigene Kernwählerschaft formulieren und manchen Attacken der CSU ausweichen, versucht die CSU, Stabilität, Kontinuität und die Stärke des Freistaats zu versprechen. Ein dominierendes Wahlkampfthema ist daher kaum auszumachen, stattdessen ist der Wahlkampf durch einen  Themenpluralismus gekennzeichnet, dem sich selbst klassische Themen früherer Landtagswahlkämpfe wie der Wohnungs- und Mietmarkt oder die Schulpolitik beugen müssen. Die Konstruktion des Landtagswahlkampfes – Lagerwahlkampf einerseits und Wettbewerb um Regierungskompetenz andererseits – greift, ein emotionalisierendes Epizentrum der Auseinandersetzung fehlt jedoch.

Auswirkungen der Wahl auf den Bund

Es ist kaum zu erwarten, dass vom  bayerischen CSU-Ergebnis wesentliche Impulse für die Union auf Bundesebene ausgehen, egal wie hoch der  Stimmbalken der CSU am Abend des 8 Oktober ausschlagen wird. Konnte sich die CSU  in der Vergangenheit mit schöner Regelmäßigkeit rühmen, das größte landespolitische Stimmenpaket für die Unionsparteien geschnürt zu haben, so liegt die Messlatte seit der Landtagswahl in Schleswig-Holstein 2022, bei der der CDU-Spitzenkandidat Daniel Günther stolze 43,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte (+ 11,4 Prozentpunkte), für die CSU beinahe unerreichbar hoch. Und auch eine erneute Kanzlerkandidatur Söders bleibt unabhängig vom Ausgang der Bayernwahl in weiter Ferne. Mit Merz, Günther und Hendrik Wüst schielen gleich drei CDU-Schwergewichte auf die Kanzlerkrone, neben denen Söder nicht mehr als eine Außenseiterrolle einnimmt. Selbst wenn die CSU bei der Landtagswahl ein Ergebnis über 40 Prozent einfahren könnte, würde sich die Union kaum einem bayerischen Kanzlerkandidaten beugen. Insofern ist Söders Hinweis, keine weitere Kanzlerkandidatur anzustreben,23 nicht nur eine Wiederholung seiner Beteuerungen von 2021, sondern eine realistische Einschätzung der eigenen Chancen im Kandidatenpoker der Schwesterparteien.

Und auch die Ampelparteien, die ihre Landtagswahlkämpfe mit Gegenwind aus Berlin bestreiten müssen, dürften der Bundespolitik keinen neuen Schwung verleihen. Allen drei Ampelparteien drohen Stimmenverluste, nicht nur in Bayern, sondern auch in Hessen, wo die Bürgerinnen und Bürger am selben Tag wie im Freistaat zur Urne gerufen sind. So könnte der 8. Oktober für die Berliner Ampel zum Desaster mit Ansage werden. Zeig genug, eine Sprachregelung zu finden, warum die Ampelparteien auch bei diesen Landtagswahlen nicht zu überzeugen wussten. Inwieweit die anstehenden Landtagswahlen der Berliner Ampelkoalition ein neues Gesicht geben werden, bleibt hingegen abzuwarten. Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es nur noch zwei Jahre – und nur noch vier Landtagswahlen (Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Hamburg), wobei vor allem die ostdeutschen Urnengänge 2024 den Parteistrategen Sorgen bereiten dürften. Mehr Geschlossenheit und mehr Responsivität könnte die kommunikative Devise für die Bundesregierung lauten. Mehr Spannungen zwischen den Regierungsparteien angesichts parteipolitischer Profilierungszwänge erscheinen wahrscheinlicher.

Zitationshinweis

Weigl, Michael (2023): Wahlkampf ohne Epizentrum, Konstellationen der bayerischen Landtagswahl 2023, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/wahlkampf-ohne-epizentrum/

This work by Michael Weigl is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Die CSU (Markus Söder), die Freien Wähler (Hubert Aiwanger), die Grünen (Katharina Schulze, Ludwig Hartmann) und auch die FDP (Martin Hagen) vertrauen 2023 auf die gleichen Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten wie schon 2018. Die SPD hat mit Florian von Brunn einen neuen Kandidaten nominiert, die AfD stellt ein Spitzenkandidaten-Duo (Katrin Ebner-Steiner, Martin Böhm). []
  2. Erstmals berichtet die Süddeutsche Zeitung über diese Vorgänge am 25. August auf ihrem Online-Portal. Vgl. Auer, Katja/Beck, Sebastian/Glas, Andreas/Ott, Klaus. 2023. Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben, in: Süddeutsche.de v. 25.08.2023, online: https://www.sueddeutsche.de/bayern/aiwanger-antisemitismus-rechtsextremismus-vorwurf-flugblatt-1.6163002?reduced=true. []
  3. So Martin Hagen, Vorsitzender und Spitzenkandidat der FDP Bayern, gegenüber der Mediengruppe Bayern. Hier zitiert nach: Takac, Momir: „Nicht mehr tragbar“: Rücktrittsforderungen und Rügen in Flugblatt-Affäre um Aiwanger, in: Merkur.de vom 30.08.2023, online: https://www.merkur.de/politik/flugblatt-affaere-hubert-aiwanger-skandal-ruecktritt-ruegen-scholz-soeder-reaktionen-92490641.html. []
  4. Vgl. Infratest dimap: BayernTREND September 2023. Repräsentative Studie im Auftrag des BR. Erhebungszeitraum 05. bis 09. September 2023. []
  5. Bei den Landtagswahlen 1966, 1982, 1986, 1994, 1998, 2003 und 2013 verfehlte die FDP den Einzug in den bayerischen Landtag. []
  6. Vgl. Schultze, Rainer-Olaf. 2014. Die bayerische Landtagswahl vom 15. September 2013: Bund und Land Hand in Hand, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 45 (2), S. 326-348, hier: S. 330. []
  7. Vgl. Kranenpohl, Uwe. 2018. Freie Wähler Bayern (FW Bayern), in: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, (3. erw. u. akt. Aufl.) Wiesbaden: Springer VS, S. 340-345, hier: S. 342 []
  8. Vgl. Freie Wähler. 2023. Anpacken für Bayern. Wahlprogramm zur Landtagswahl 2023, München: FW. []
  9. Vgl. Weigl, Michael. 2020. Baustelle CSU. Das Experiment einer postmaterialistisch ergänzten Volkspartei, in: Jun, Uwe/Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017. Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland, Wiesbaden 2020, S. 221-251, hier: S. 236-245. []
  10. Sowohl die Spitzenkandidatin der Grünen – Katharina Schulze – als auch der Spitzenkandidat der SPD – Florian von Brunn – haben vor einem Rechtsruck bei den bayerischen Landtagswahlen gewarnt. Vgl.: Jerabek, Petr. 2023. Rechtsruck in Bayern? Zoff zwischen Freien Wählern und SPD, in: BR24 v. 12.09.2023, online: https://www.br.de/nachrichten/bayern/rechtsruck-in-bayern-zoff-zwischen-freien-waehlern-und-spd,Tpk6HU7. []
  11. So auf einer Demonstration gegen das Heizungsgesetz der Bundesregierung am 10.06.2023 im oberbayerischen Erding. Hier zitiert nach: Glas, Andreas/Schmitt, Philipp. 2023. Buhrufe für Söder, Applaus für Aiwanger, in: Süddeutsche Zeitung v. 12.06.2023, Nr. 132, S. 19. []
  12. Vgl. Bayerischer Landtag. 2023. Plenum 147. Sitzung, Mittwoch, 14.06.2023. Plenarprotokoll 18/147, München: Bayerischer Landtag, S. 21009-21035. []
  13. Vgl. Bündnis 90/Die Grünen Bayern. 2023. Für unser schönes Bayern. Regierungsprogramm zur Landtagswahl 2023, München: B90/Die Grünen. []
  14. So Hubert Aiwanger in einem Interview mit dem TV-Sender Welt, hier zitiert nach: Jerabek, Petr: Landtagswahlkampf: Aiwanger erhöht Druck auf die CSU, in: BR24 v. 15.09.2023, online: https://www.br.de/nachrichten/bayern/landtagswahlkampf-aiwanger-erhoeht-druck-auf-die-csu,TpuR3uw. []
  15. Bereits zwei Wochen vor der Wahl beanspruchten die Freien Wähler auch das Landwirtschaftsministerium für sich, was Söder aber dezidiert zurückwies. Vgl. Schwarz, Franziska. 2023. Freie Wähler im Hoch. Aiwanger verrät Pläne für die Zeit nach der Bayern-Wahl, in: Merkur.de v. 19.09.2023, online: https://www.merkur.de/politik/waehler-landwirtschaftsministerium-umfragen-csu-bayern-wahl-2023-aiwanger-posten-aemter-freie-zr-92521394.html. []
  16. So auf dem CSU-Parteitag in München am 23. September 2023. []
  17. Landtagswahl 2018: CSU 37,2 Prozent (- 10,5 Prozentpunkte); Europawahl 2019: CSU 40,7 (+ 0,2); Bundestagswahl 2021: CSU 31,7 (- 7,1). []
  18. So Söder in einer Rede auf der Klausur der CSU-Landtagsfraktion im Kloster Banz am 18.01.2023. Vgl. Beck, Sebastian/Glas, Andreas, Sebald, Christian. 2023. Söder kündigt seine Laufzeitverlängerung an, in: Süddeutsche Zeitung v. 19.01.2023, Nr. 15, S. 24. []
  19. Vgl. Bündnis 90/Die Grünen Bayern. 2023. Für unser schönes Bayern. Regierungsprogramm zur Landtagswahl 2023, München: B90/Die Grünen. []
  20. Vgl. Infratest dimap: BayernTREND September 2023. Repräsentative Studie im Auftrag des BR. Erhebungszeitraum 05. bis 09. September 2023. []
  21. Zitiert nach: DPA. 2023. Chipkarten statt Geld für Asylbewerber, in: Süddeutsche Zeitung v. 18.09.2023, Nr. 215, S. R7. []
  22. Vgl. BR24. 2023. Flüchtlingszahlen: Bayerns Landräte fordern Grenzkontrollen, in: BR24 v. 16.09.2023, online: https://www.br.de/nachrichten/bayern/fluechtlingszahlen-bayerns-landraete-fordern-grenzkontrollen,TpvuCZn. []
  23. So seine Aussage in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“, hier zitiert nach: DPA. 2023. Söder sagt wieder ab, in: Süddeutsche Zeitung v. 04.05.2023, Nr. 102, S. 6. []

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