Zu wenig Diversität?

Simone Tosson, die an der Universität Duisburg-Essen unter anderem zu Themen der Repräsentation und Responsivität forscht, wirft einen Blick auf die Zusammensetzung des neuen Landtags in Nordrhein-Westfalen. Wie ist es um die Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen bestellt? Im Hinblick auf Geschlecht und Bildungsabschluss lassen sich deutliche Ungleichgewichte feststellen.

Zu wenige Personen mit Migrationsgeschichte, zu wenig Frauen, ein Parlament der Akademiker:innen sind Kritiken, die im Nachgang von Bundes- und Landtagswahlen wiederholt aufkommen. Der Kern der Kritik fokussiert eine als zu gering erachtete gesellschaftliche Diversität unter den Abgeordneten und bemängelt die Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen. Zudem impliziert solche Kritik die Vorstellung einer angemessenen, numerischen Vertretung verschiedener Gesellschaftsgruppen im Parlament.

Zu wenig Diversität?

Die Genese deskriptiver Unterrepräsentation bei der Landtagswahl 2022 in NRW

Autorin

Simone Tosson, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen und arbeitet im Forschungsprojekt „Gesellschaftliche Konflikte und Dynamiken des Parteienwettbewerbs in der Migrations- und Integrationspolitik (MigRep)“. Ihre Forschungsinteressen sind Repräsentations- und Responsivitätsforschung sowie politische Kulturforschung.

Einleitung

Zu wenige Personen mit Migrationsgeschichte, zu wenig Frauen, ein Parlament der Akademiker:innen sind Kritiken, die im Nachgang von Bundes- und Landtagswahlen wiederholt aufkommen. Der Kern der Kritik fokussiert eine als zu gering erachtete gesellschaftliche Diversität unter den Abgeordneten und bemängelt die Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen. Zudem impliziert solche Kritik die Vorstellung einer angemessenen, numerischen Vertretung verschiedener Gesellschaftsgruppen im Parlament und verweist auf die normative Idee der deskriptiven Repräsentation (Pitkin, 1967). Doch eine solche Idee des Parlaments als Spiegel der Gesellschaft bleibt eher ein Ideal denn politische Realität. Ein deutliches Ungleichgewicht im Hinblick auf Alters-, Bildungs- und Geschlechterstrukturen sowie Migrationsbiografien sind nur einige Beispiele für die deskriptive Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen in den deutschen Parlamenten (Bukow & Orth, 2020).

Erste Daten lassen vermuten, dass der neu gewählte Landtag in Nordrhein-Westfalen dabei keine Ausnahme bildet (Landtag NRW, 2022). Doch woraus resultiert eine solche ungleiche deskriptive Repräsentation im Landtag? Zur Beantwortung der Fragestellung bedarf es einer genaueren Betrachtung der Parteinominierungen, denn sie bilden den Ausgangspunkt für die spätere Zusammensetzung der Parlamente. Der Beitrag analysiert am Beispiel der Landtagswahl 2022 in Nordrhein-Westfalen die Landeslisten von SPD, CDU, Grünen, FDP und AfD sowie die von den Parteien nominierten Wahlkreiskandidierenden im Hinblick auf ihre Bildungs- und Geschlechtsstruktur. In einem zweiten Schritt werden die Merkmale ebenfalls unter den neu gewählten Abgeordneten des Landtags untersucht. Hierdurch wird die Genese einer ungleichen deskriptiven Repräsentation beginnend bei den Parteinominierungen nachvollzogen.1

Gesellschaftliche Vielfalt im Parlament

Die Idee der deskriptiven Repräsentation geht auf Hanna Pitkin (1967) zurück. In ihrem Werk „The Concept of Representation“ nähert sie sich ideengeschichtlich dem Begriff der Repräsentation an und führt die Unterscheidung zwischen deskriptiver und substantieller Repräsentation ein. Während die Idee der deskriptiven Repräsentation (standing for) darauf abzielt, dass die Bevölkerung durch  Abgeordnete in parlamentarischen Gremien in ihrer Vielfältigkeit widergespiegelt und gemäß ihrem Vorkommen in der Gesamtgesellschaft abgebildet wird, fokussiert die substantielle Repräsentation (acting for) auf das Handeln der Repräsentant:innen (Pitkin, 1967). Substantielle Repräsentation gelingt, wenn die Wünsche und Interessen der Repräsentierten von den Repräsentant:innen berücksichtigt werden. Anders als deskriptive Repräsentation umfasst die substantielle Repräsentation eine handlungsbezogene Dimension. In ihrer Argumentation kommt Pitkin zu dem Schluss, dass alleinig ein solches substantielles Verständnis die Idee von Repräsentation erfasst (Pitkin, 1967, S.144).

Einige feministische Repräsentationsforscher:innen sehen diese Schlussfolgerung kritisch und argumentieren, dass die Bedeutung deskriptiver Repräsentation nicht unterschätzt werden darf (Schäfer, 2013, S. 9). Ihrem Verständnis nach besteht zwischen deskriptiver und substantieller Repräsentation ein Zusammenhang. Als Erklärung führen sie an, dass mit größerer numerische Stärke einer Gruppe im Parlament die Wahrscheinlichkeit steigt, dass deren Belange in Policy-Outcomes bzw. politischen Entscheidungen Berücksichtigung finden (Schäfer, 2013, S. 9).

Besonders legislative Gremien werden auf ihre Abbildung der Gesamtbevölkerung hin analysiert. In der Bundesrepublik bilden der Bundestag sowie die Landtage die zentralen legislativen Institutionen. Die politischen Parteien sind dabei maßgeblich an der Zusammensetzung der Parlamente beteiligt (Höhne, 2020, S. 105). Unabhängig davon, inwiefern ein Zusammenhang zwischen deskriptiver und substantieller Repräsentation besteht, scheint es notwendig, zu klären, woraus die Unterrepräsentation einzelner Gruppen in den deutschen Parlamenten resultiert.

Methodisches Vorgehen

Der Beitrag betrachtet am Beispiel der Landtagswahl 2022 in Nordrhein-Westfahlen die Wahlkreis- sowie die Listenkandidierenden von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und AfD im Hinblick auf ihre Bildungs- und Geschlechtsstrukturen.2 Gleichzeitig werden jene Merkmale unter den Mandatsgewinner:innen untersucht. Hierdurch soll geklärt werden, inwieweit sich die Unterrepräsentation verschiedener Gesellschaftsgruppen bereits bei den Parteinominierungen zeigt und sich in der Zusammensetzung des neu gewählten Landtags manifestiert.

Die Datengrundlage bildet ein Datensatz, der Angaben zum Bildungsstand sowie dem Geschlecht der Kandidierenden enthält. Der Datensatz basiert auf Angaben (Kurzbiografien, Lebensläufe etc.), die von den Kandidierenden, Parteien oder Fraktionen im Internet veröffentlicht wurden.3 Für die Ermittlung der Geschlechterstruktur wird eine (fremdzuschreibende) Unterscheidung zwischen Männern und Frauen vorgenommen, wohingegen der Anteil der Akademiker:innen über das Vorliegen eines (Fach-)Hochschulabschlusses gemessen wird.

Der Datensatz umfasst insgesamt fünf Landeslisten von CDU (134 Bewerber:innen), SPD (129 Bewerber:innen), FDP (118 Bewerber:innen), Bündnis 90/Die Grünen (90 Bewerber:innen) und AfD (23 Bewerber:innen) sowie die Wahlkreiskandidierenden der Parteien. Mit Ausnahme der AfD (118 Wahlkreisnominierte) stellten die Parteien in allen 128 Wahlkreisen eigene Bewerber:innen auf.

Die Genese deskriptiver (Unter-)Repräsentation – Von der Nominierung bis zum Einzug in den Landtag

Am 15. Mai 2022 fanden die Landtagswahl in NRW statt. Hierzu waren rund 13 Millionen Wahlberechtigte in 128 Wahlkreisen aufgerufen den 18. Landtag zu wählen. Neben den 128 Gewinner:innen der Wahlkreise sieht das Landeswahlrecht mindestens 53 weitere Kandidierende vor, die über die Landesliste ins Parlament einziehen.

Gemäß des Landeswahlgesetzes verfügen die wahlberechtigten Bürger:innen über eine Erst- und eine Zweitstimme. Mit der Erststimme wird mit relativer Mehrheit ein Direktkandidat bzw. eine Direktkandidatin gewählt, mit der Zweitstimme entscheiden sich die Wähler:innen für die Landesliste einer Partei (Korte, 2020, S. 60). Der Anteil der Zweitstimmen entscheidet dabei maßgeblich über die Anzahl der Mandate im Parlament. Allerdings werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der Stimmen erlangen. Sofern eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr über den Zweitstimmenanteil zustehen, sieht das Landeswahlrecht Ausgleichs- und Überhangmandate vor, um das ursprüngliche Zweitstimmenverhältnis wiederherzustellen (Korte, 2020, S. 60).

Bei Bundestags- als auch bei Landtagswahlen werden die Direktmandate überwiegend von den „großen“ Parteien CDU/CSU sowie SPD gewonnen (Bieber, 2022, S. 93). Dieses Muster ergibt sich auch bei der diesjährigen Landtagswahl in NRW (Tabelle 1). Mit Ausnahme von sieben Wahlkreisen in denen sich Direktkandierende von Bündnis 90/Die Grünen durchsetzen konnten, wurden die verbleibenden 121 Wahlkreise von Kandidierenden der CDU (76 Wahlkreise) und der SPD (45 Wahlkreise) gewonnen. Durch den Zweitstimmenanteil standen der CDU genau 76 Sitze zu, sodass ausschließlich die Gewinner:innen der Direktmandate einen Sitz im Landtag erlangten. Die SPD kam dagegen auf 56 Sitze, sodass neben den 45 Gewinner:innen der Wahlkreise weitere 11 Nominierte über die Landesliste in den Landtag einzogen. Bündnis 90/Die Grünen, FDP und AfD erzielten ihre Mandate hauptsächlich über die Landeslisten. Folglich unterscheidet sich Bedeutung von Wahlkreis- und Listennominierung erheblich zwischen den Parteien (Höhne, 2017, S. 234). Während der Schwerpunkt bei CDU und SPD vor allem im Wahlkreis liegt, werben „kleinere“ Parteien besonders um die Zweitstimme der Wähler:innen (Höhne, 2017, S. 234).

Tabelle 1: Ergebnis Landtagswahl NRW (2022) und Zusammensetzung der Gesamtmandate nach Partei; Quelle: eigene Darstellung basierend auf dem amtlichen Wahlergebnis.

Für die Nominierung der Direktkandierenden sind die örtlichen Gliederungen der Parteien im Wahlkreis zuständig, wohingegen die Aufstellung der Landesliste über zentrale Gremien erfolgt. Über die eigenen Landeslisten können die Parteien die Repräsentation verschiedener Gesellschaftsgruppen zumindest in Teilen regulieren. Mittels eines Frauenstatus in der Satzung regelt Bündnis 90/Die Grünen die paritätische Listenzusammensetzung, um ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis herzustellen und der Unterrepräsentation von Frauen entgegenzuwirken. Auch CDU und SPD verfolgen dieses Ziel und haben in ihren Satzungen unterschiedliche Quotierungen und Regelungen festgelegt, welche die Gleichstellung von Männern und Frauen sicherstellen sollen.

Wenig überraschend ist, dass Bündnis 90/Die Grünen als Partei mit einer paritätischen Listenbesetzung und einer Mindestquotierung von 50 Prozent bei Ämtern und Mandaten eine statistische Überrepräsentation von Frauen unter den Parlamentarier:innen (59 Prozent) im Landtag erreicht. Während der Frauenanteil bei den Wahlkreisbewerber:innen etwas geringer ausfällt (44,5 Prozent), liegt der Anteil an Frauen unter allen Listenkandidierenden bei 55,6 Prozent. Die SPD erreicht den zweithöchsten Frauenanteil (42,9 Prozent) unter den neu gewählten Parlamentarier:innen. Mit 40,6 Prozent (Direktkandidierende) und 40,3 Prozent (Listenkandidierende) ist der Anteil der Frauen zwischen Wahlkreis- und Listenkandidierenden fast identisch. Während der Verlauf für SPD und Bündnis 90/Die Grünen positiv ist, d.h. der Frauenanteil von der Nominierungen zu den Mandatsgewinner:innen hin steigt, ist bei AfD, CDU und FDP eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten.

Im Falle der CDU lässt sich der geringe Frauenanteil auf die Wahlkreisnominierung zurückführen. Nur 24,2 Prozent aller Wahlkreisbewerber:innen der CDU sind Frauen. Gleichzeitig erlangte die Partei alle ihre Mandate in den Wahlkreisen. Der Versuch, durch eine paritätisch zusammengestellte Landesliste, zumindest auf den ersten 20 Plätzen, den Frauenanteil zu steigern, blieb wirkungslos. Gleichzeitig findet die in der Satzung festgelegte Quotierung, dass Frauen zu einem Drittel an Parteiämtern und öffentlichen Mandaten beteiligt werden sollen, bei der Aufstellung der Direktkandidierenden keine Anwendung. Feststellbar ist auch, dass der Frauenanteil unter den Mandatsgewinner:innen um 3,1 Prozentpunkte (21,1 Prozent) geringer ist als unter den Direktkandiderenden. Zwar kandidieren Frauen seltener in Wahlkreisen, gleichzeitig gilt zu berücksichtigen, dass besonders bei der CDU „erfolgreiche Direktkandidaturen eine Männerdomäne“ sind (Debus & Stecker, 2019).

Bei AfD und FDP resultiert der geringe Frauenanteil dagegen aus der Listenaufstellung. Unter allen Listennominierten liegt der Frauenanteil bei der FDP bei 26,3 Prozent, bei der AfD dagegen bei nur 8,7 Prozent. Ein Blick auf die ersten zwanzig Listenplätze macht deutlich: Beide Parteien nominierten deutlich häufiger Männer als Frauen, sodass für die AfD nur eine und für die FDP nur zwei Frauen im Landtag vertreten sind und der Anteil an weiblichen Abgeordneten bei 8,3 Prozent (AfD) bzw. 16,7 Prozent (FDP) liegt.

Abbildung 1: Frauenanteil nach Parteien; Quelle: eigene Berechnungen, Darstellung in gültigen Prozenten.

Rund 15,89 Prozent der nordrhein-westfälischen Bevölkerung haben einen Hochschulabschluss (Destatis, 2022). Der Anteil der Nicht-Akandemiker:innen ist somit bedeutend höher als der Anteil der Akademiker:innen. Im neu gewählten Landtag in NRW dreht sich dieses Verhältnis jedoch vollständig um (Abbildung 2), sodass nur jedes sechste bzw. jedes fünfte Fraktionsmitglied keinen Hochschulabschluss besitzt.

Die Daten zeigen für AfD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und SPD ein Muster: Unter den Nominierten in den Wahlkreisen gibt es die „größte“ Bildungsdiversität. Die AfD kommt mit deutlichem Abstand zu den restlichen Parteien auf den höchsten Wert und hat mit 43 Prozent den größten Anteil an Nicht-Akademiker.innen unter den Wahlkreisbewerber:innen. Der Anteil unter den Nominierten der jeweiligen Landeslisten ist bei allen vier Parteien etwas geringer als unter den Direktkandidierenden. Besonders auffällig ist bei der AfD die Spannbreite zwischen Wahlkreis- und Listenkandidierenden mit einer Differenz von knapp 20 Prozentpunkten. Allerdings ist zu bedenken, dass fehlende Werte nicht berücksichtigt werden. Bei 32 der insgesamt 118 Direktkandidierenden der AfD kann der Bildungsabschluss nicht eindeutig rekonstruiert werden. Die Fälle werden daher ausgeschlossen, wodurch sich die Fallzahl deutlich verringert.4

Bei den Parteien, die den Großteil der eigenen Mandate über die Landelisten erhalten (AfD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP), ist erkennbar, dass die erwartungssicheren Plätze häufiger mit Personen besetzt sind, die einen hohen formalen Bildungsabschluss aufweisen. Hierdurch verringert sich der prozentuale Anteil der Nicht-Akademiker:innen von den Listenkandidierenden gegenüber den Mandatsträger:innen noch einmal. Die FDP verzeichnet mit 16,7 Prozent den niedrigsten Anteil. Für die SPD, die den Großteil ihrer Mandate in den Wahlkreisen erlangt, ist festzustellen, dass sich häufiger Kandidierende mit Hochschulabschluss durchsetzen. Einzig die CDU erreicht unter den Mandatsträger:innen einen höheren Nicht-Akademiker:innenanteil (1,1 Prozentpunkte) als unter den Wahlkreisbewerber:innen.

Abbildung 2: Anteil der Nicht-Akademiker:innen nach Parteien; Quelle: eigene Berechnungen, Darstellung in gültigen Prozenten.

Fazit

Der Beitrag untersuchte die Diversität des neu gewählten nordrhein-westfälischen Landtages und ging der Frage nach, inwiefern eine politische Unterrepräsentation hinsichtlich Bildungs- und Geschlechterstrukturen vorliegt. Die Daten belegen eine Unterrepräsentation von Frauen (33,8 Prozent) als auch Nicht-Akademiker:innen (19,4 Prozent). Hierbei ist festzustellen, dass in den meisten Fällen bereits unter den nominierten Kandidat:innen eine deutliche Unterrepräsentation besteht. Diese verstärkt sich im Fortgang und manifestiert sich am deutlichsten unter den Mandatsträger:innen.

Ein wichtiger Erklärungsfaktor für diesen Verlauf ist das Wahlsystem sowie die damit verbundenen Aufstellungsmodi. Die Landeslisten der Parteien bieten die Möglichkeit einer Unterrepräsentation entgegenzuwirken, wie das Beispiel des Frauenstatus bei Bündnis 90/Die Grünen eindrücklich zeigt. Am Beispiel der CDU werden jedoch die Grenzen einer solchen Regelung deutlich, denn die Wahlkreismandate, die de facto den größten Anteil der Gesamtmandate in NRW ausmachen, bleiben hiervon (bei allen Parteien) unberücksichtigt. Bei der Nominierungen in den Wahlkreisen ist festzustellen, dass männlichen Wahlkreisbewerbern über alle Parteien hinweg ein größerer Vorrang eingeräumt wird (Höhne, 2020, S.122). Obwohl Bündnis 90/Die Grünen und SPD einen adäquaten Frauenanteil unter den Parlamentarier:innen aufweisen, kann der hohen Männeranteil bei den Landtagsfraktionen von CDU, FDP und AfD letztlich nicht kompensiert werden. Eine Regulierung zur Berücksichtigung bestimmter Bevölkerungsgruppen bezieht sich bei allen Parteien, sofern vorhanden, ausschließlich auf das Geschlecht. Auch im Hinblick auf den Bildungsabschluss zeigt sich wenig Diversität: So erreichen die Parteien einen ähnlich geringen Anteil an Nicht-Akademiker:innen unter den Mandatsträger:innen. Die Daten verdeutlichen, dass es besonders viele Kandidierende mit einem hohen, formalen Bildungsabschluss gibt. Gleichzeitig ist erkennbar, dass sich die Nicht-Akademiker:innen unter den Kandidierenden seltener durchsetzen, sodass sich in der Folge eine Akademisierung des Parlamentes beobachten lässt.

Zur Erklärung der Genese deskriptiver Repräsentation gilt ebenfalls strukturelle Probleme zu bedenken. So sind beispielsweise Männer und Akademiker:innen deutlich häufiger Parteimitglieder als Frauen und Nicht-Akademiker:innen (Klein et al., 2019, S.86-90). Diese Unterschiede im Hinblick auf die politische Partizipation sind u.a. durch persönliche Ressourcen wie zum Beispiel Zeitkapazitäten und finanzielle Mittel erklärbar (Klein et al., 2019, S.98) und führen dazu, dass bereits bei der Parteimitgliedschaft ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen besteht. Dieses Ungleichgewicht bedingt wiederum einen deutlich kleineren Pool an potentiellen Bewerber:innen.

Insgesamt scheint es notwendig, dass sich die Parteien in Deutschland auf allen politischen Ebenen mit ihren Repräsentations- und Diversitätsdefiziten auseinandersetzen. Hierbei gilt es zu klären, ob und inwiefern die Interessen einzelner Gruppen, die im (Landes-)Parlament unterrepräsentiert sind, inhaltlich vertreten werden. Sofern die Parteien eine numerische Veränderung einzelner Gruppen im Parlament anstreben, bedarf es eines innerparteilichen Diskurses, der nicht nur in einer Diskussion um Quotenregelungen mündet, sondern darüber hinaus das Wahlsystem sowie grundlegende, strukturelle Probleme thematisiert und einbezieht.

Literaturverzeichnis

Bieber, I. E. (2022). Noch immer nicht angekommen?–Strukturelle Geschlechterungleichheit im Deutschen Bundestag. Politische Vierteljahresschrift, 63(1), 89-109.

Bukow, D. S., & Orth, M. (2020). Frauen sind in Landesparlamenten weiterhin unterrepräsentiert. Im Internet: https://www.boell.de/de/2020/03/04/kein-land-sicht-frauen-sind-landesparlamenten-weiterhin-unterrepraesentiert (letzter Zugriff: 02.08.2022)

Debus, M., & Stecker, C. (2019). Repräsentationseffekte geschlechterparitätischer Listen – Kurzanalyse. Im Internet:https://www.mzes.uni-mannheim.de/publications/misc/paritaet.html (letzer Zugriff: 02.08.2022)

Destatis. (2022). Bevölkerung (ab 15 Jahren): Bundesländer, Jahre (bis 2019), Geschlecht, Beruflicher Bildungsabschluss. Im Internet: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=12211-9015&transponieren=true#abreadcrumb (letzter Zugriff: 02.08.2022)

Höhne, B. (2017). Wie stellen Parteien ihre Parlamentsbewerber auf? In: Koschmieder, C. (Hrsg.) Parteien, Parteiensysteme und politische Orientierungen. Wiesbaden: Springer VS, 227-253.

Höhne, B. (2020). Mehr Frauen im Bundestag? Deskriptive Repräsentation und die innerparteiliche Herausbildung des Gender Gaps. ZParl Zeitschrift für Parlamentsfragen, 51(1), 105-125.

Klein, M.; Becker, P.; Czeczinski, L.; Lüdecke, Y.; Schmidt, B. et al. (2019): Die Sozialstruktur der deutschen Parteimitgliedschaften. Empirische Befunde der Deutschen Parteimitgliederstudien 1998, 2009 und 2017. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 50(1), S. 81-98.

Korte, K.-R. (2020). Wahlen in Nordrhein-Westfalen: Kommunalwahl – Landtagswahl – Bundestagswahl – Europawahl. Berlin: Wochenschau Verlag.

Landtag NRW. (2022). Statistiken der 18. Wahlperiode (2022-2027). Im Internet: https://www.landtag.nrw.de/home/der-landtag/abgeordnete-und–fraktionen/die-abgeordneten/statistiken.html (letzter Zugriff: 02.08.2022)

Pitkin, H. F. (1967). The concept of representation. Berkley: University of California Press.

Schäfer, A. (2013). Die Akademikerrepublik: Kein Platz für Arbeiter und Geringgebildete im Bundestag? Gesellschaftsforschung (2), 8-13.

Zitationshinweis:

Tosson, Simone (2022): Zu wenig Diversität? Die Genese deskriptiver Unterrepräsentation bei der Landtagswahl 2022 in NRW, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/zu-wenig-diversitaet/

This work by Simone Tosson is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Die Autorin bedankt sich für die Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) unter dem Förderkennzeichen 3920405INZ. []
  2. Berücksichtigt werden ausschließlich Parteien, die in den neu gewählten Landtag eingezogen sind. []
  3. In Ausnahmen wurde auf weitere Quellen (u.a. Kanidierendencheck WDR, Kandierendencheck Abgeordnetenwatch und Zeitungartikel) zurückgegriffen. []
  4. Bei einigen Personen ist der Bildungsabschluss nicht genau identifizierbar, sodass die Werte als fehlend eingetragen werden müssen. Unter allen Nominierten lässt sich der Bildungsabschluss bei insgesamt 78 Personen (davon 16 CDU, 2 SPD, 18 Grüne, 9 FDP und 33 AfD) nicht nachvollziehen. Unter den neu gewählten Mandatsträger:innen kann der Bildungsabschluss bei insgesamt 4 Personen (davon 1 AfD und 3 Grüne) nicht festgestellt werden. []

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