Eine neue Netzpolitik ist verfügbar?

Prof. Dr. Christoph Bieber, der an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen und am Center for Advanced Internet Studies in Bochum forscht, analysiert den Entwicklungsprozess der Corona-Warn-App. Obwohl die App einige Schwachstellen hat, verlief die Entwicklung nach dem Prinzip „public money – public code“ unerwartet offen und konnten viele Interessierte die Möglichkeit nutzen, den offenen Quellcode zu kommentieren.

Wie oft haben wir es in den vergangenen Wochen gehört: Die Corona-Pandemie trägt dazu bei, dass die gesellschaftlichen Aspekte der Digitalisierung noch stärker in den Vordergrund öffentlicher Debatten treten als bisher. Es ist richtig, die derzeitige Situation wirkt als eine Art Digitalisierungsbeschleuniger in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern – arbeiten, lernen und einkaufen haben sich im „lock down“ verstärkt in digitale Räume verlagert. Gleiches gilt auch für diverse Freizeitaktivitäten oder den Kontakt mit Freunden und Familie.

Eine neue Netzpolitik ist verfügbar?

Die Corona-Warn-App als politisches Software-Projekt

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Prof. Dr. Christoph Bieber ist Inhaber der Welker-Stiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Ethik, Transparenz und Verantwortung in der Politik, öffentliche Kommunikation und Neue Medien. Seit April 2018 ist er delegiert an das Center for Advanced Internet Studies (CAIS.nrw) in Bochum, dort leitet er den Forschungsinkubator.

Wie oft haben wir es in den vergangenen Wochen gehört: Die Corona-Pandemie trägt dazu bei, dass die gesellschaftlichen Aspekte der Digitalisierung noch stärker in den Vordergrund öffentlicher Debatten treten als bisher. Es ist richtig, die derzeitige Situation wirkt als eine Art Digitalisierungsbeschleuniger in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern – arbeiten, lernen und einkaufen haben sich im „lock down“ verstärkt in digitale Räume verlagert. Gleiches gilt auch für diverse Freizeitaktivitäten oder den Kontakt mit Freunden und Familie. Und natürlich ist auch die Politik von dieser Entwicklung betroffen – zu sehen ist dies bei eingeschränkten (oder ausgefallenen) Versammlungen auf Partei- oder Fraktionsebene, im Bereich der parlamentarischen Arbeit, bei digital herbei geführten Entscheidungen oder der Diskussion um kontaktlosen Wahlkampf und eine pandemie-gerechte Durchführung von Wahlen.

Ein sehr anschauliches Beispiel für eine solche Pandemie-bedingte Digitalisierung liefert die am 16. Juni freigeschaltete Corona-Warn-App der Bundesregierung. Sie verbindet die unmittelbare Bekämpfung der Virus-Verbreitung mit der politisch vorangetriebenen (und öffentlich finanzierten) Entwicklung eines neuen digitalen Werkzeugs zur Verfolgung von Infektionsketten. Nun ist eine staatliche angeleitete digitale Produktentwicklung kein völlig neues Phänomen, im Gegenteil. Seit den 1990er Jahren lassen sich viele Beispiele aufzählen, bei denen Bund und/oder Länder als Auftraggeber für ambitionierte digitale Lösungen in Belangen des öffentlichen Lebens angetreten waren – und leider oft scheiterten. Die Beziehung zwischen den netizens (wie digital orientierte Bürger*innen einmal genannt wurden) und dem „digitalen Staat“ ist eine problematische.

Auch deswegen wundert es nicht, dass die Debatten um die Corona-Warn-App schon bei der Ankündigung im März und in der Entwicklungsphase in den vergangenen Wochen schnell „auf Temperatur“ gekommen sind. In den Tagen unmittelbar vor und nach der Veröffentlichung der App sind daher viele verschiedene Aspekte betont worden: Die hohen Entwicklungs- und Betriebskosten, die Kooperation mit Großunternehmen wie SAP und Telekom, die Bedingungen der US-amerikanischen Digitalkonzerne, die konkreten technischen Anforderungen der App sowie deren Akzeptanz und Verbreitung in der Bevölkerung. Über die Frage nach der Freiwilligkeit der Nutzung hat sich auch eine komplexere Perspektive auf eine gesetzgeberische Begleitung der Einführung ergeben – der Sonderstatus der Anwendung und die Bedingungen ihrer (Nicht-)Nutzung bedürfen einer genauen Betrachtung und Regelsetzung durch die Politik.

All das ist nicht ganz unkompliziert, scheint aber nach der Lage der Dinge eher besser als schlechter funktioniert zu haben. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung in den App-Stores von Google und Apple ist die Anwendung bereits über 6 Millionen Mal heruntergeladen worden (beeindruckend, auch wenn nicht alle Downloads zwingend zu einer Installation geführt haben werden). Selbst der normalerweise kritische Chaos Computer Club lobt die Datensparsamkeit der Anwendung und auch internationale Beobachter sprechen anerkennend über die Corona-Warn-App. Ein Grund dafür ist sicher auch die für viele unerwartet offene Prozessabwicklung: Quellcode und Dokumentation der App waren seit Anfang Juni über die Entwickler-Plattform GitHub einsehbar, mehrere Tausend Interessierte sind der Einladung gefolgt, haben sich das Material angesehen und es kommentiert. Das Prinzip „public money – public code“ gilt als verwirklicht, was man beileibe nicht von allen öffentlichen Software-Projekten sagen kann.1

Insofern kann die Organisation der App-Entwicklung und -Veröffentlichung durch die öffentliche Hand als sehr gelungen angesehen werden – in der gerade erst beginnenden Nutzungsphase wird sich nun zeigen, inwieweit dieser neue Baustein zur Eindämmung des Coronavirus beitragen kann.

Nur von wenigen thematisiert wurde dagegen eine mögliche Schwachstelle der App, nämlich die „innere Funktionslogik“ der Kontaktverfolgung. Seit Beginn der Diskussion um den Einsatz einer App hat die epidemiologische Forschung immer wieder neue Erkenntnisse über die Verbreitungswege hervor gebraucht – und nicht selten auch gleich wieder hinterfragt. Der eher verschlungene und keineswegs gradlinige Erkenntnisfortschritt ist für Wissenschaftsvertreter eher der Normal- als der Ausnahmefall, führt in der öffentlichen Debatte aber immer wieder zu Irritationen. Lieder davon singen und in Podcasts davon erzählen kann nicht nur Christian Drosten.

Zum Start der App-Entwicklung stand die Idee im Vordergrund, dass sich das Virus weitgehend gleichmäßig durch die Bevölkerung „bewegt“ und also jede infizierte Person in etwa gleich viele andere Menschen anstecken würde. Aus dieser Perspektive ließ sich die dezentrale Datenverwaltung direkt auf den Endgeräten gut rechtfertigen und eine Absage an das Anlegen zentraler Register erteilen – zusätzlich zu den in der Öffentlichkeit breit diskutierten Aspekten des Datenschutzes und der Datensparsamkeit. Einige Monate später reift nun jedoch die Wahrnehmung, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Infizierten für eine erhebliche Menge neuer Ansteckungen verantwortlich sein dürfte – typischerweise manifestiert sich diese „Ungleichverteilung“ der Infektionsereignisse in den so genannten „superspreading events“, also dem geballten Auftreten von Neuinfektionen, die auf unterschiedliche Anlässe zurückgeführt werden können.

Für die technische Konstruktion der App sind die Ergebnisse der virologischen Forschung von großer Bedeutung – denn der Fokus auf individuelle Kontakthistorien hat die Entwicklung einer dezentral ausgelegten App begünstigt: Die Speicherung der Kontaktereignisse auf den Endgeräten und der – aus Datenschutzperspektive sehr korrekte – Austausch der Daten zwischen den Nutzer*innen erschwert die Identifikation von Cluster-Ereignissen. Eine zentrale Verwaltung der Daten hätte die Zusammenführung in Form eines „social graph“ erlaubt, der die Beziehungen zwischen den Kontakten abbildet und eine Cluster-Erkennung vereinfacht. Genau dies ist in der datensparsamen dezentralen Variante – vorerst – nicht möglich.2

Das bedeutet auf keinen Fall, dass die App eine „Fehlplanung“ ist und auch nicht, dass sie unbrauchbar wäre – im Gegenteil. Bei einer wachsenden Verbreitung in der Bevölkerung ist sie dennoch ein gutes Werkzeug zur Beobachtung des Pandemie-Verlaufs, zur Sensibilisierung im gesellschaftlichen Umgang mit dem Virus und nicht zuletzt immer noch ein sehr gutes Beispiel für eine öffentlich-private Zusammenarbeit im Software-Bereich.

Vielmehr zeigt sich hier eine weitere Dimension des schon vielfach zitierten „politischen Handelns unter den Bedingungen großer Unsicherheit“. Möglicherweise ist diese Entwicklung das Resultat einer „Kommunikationsstörung“ zwischen technischer, epidemiologischer und politischer Perspektive – ob es tatsächlich eine substanzielle Debatte um die Passung von Virusverbreitung und Datenerhebung gegeben hat, muss sich wohl erst noch zeigen. Deutlich geworden ist allerdings, dass der im Umfeld der App entstandene Handlungszusammenhang unterschiedliche Impulse integriert hat und letztlich auch eine verbindliche Entscheidung zur Umsetzung getroffen hat. Rolle und Reaktion der Politik sowie deren Umgang mit Kritik werden dabei gelobt (datensparsamer Ansatz, Transparenz des Entwicklungsprozesses) – und dennoch könnte die App ein „Funktionsdefizit“ haben, wenn es um die Auseinandersetzung mit einem wichtigen Treiber der Virusverbreitung geht.

Was folgt nun daraus? Zunächst einmal sollten sich die beteiligten Akteure von möglicher Kritik nicht irritieren lassen, sondern den Arbeitszusammenhang weiter etablieren. Es ist zu prüfen, ob angesichts der neueren Forschungsergebnisse der Funktionsumfang der App zu ergänzen und zu erweitern ist – was keineswegs zwangsläufig in der Adaption einer zentralen Datenspeicherung münden muss. Vielmehr ist darüber nachzudenken, inwiefern vorhandene Leerstellen der Datenerhebung kollaborativ gefüllt werden können. Sind eventuell zusätzliche „Datenspenden“ durch die Nutzer ein Mittel, um Cluster-Ereignissen auf die Spur zu kommen? Erlauben andere Formen eines digital gestützten Tracing eine bessere Nachverfolgung von Infektionsereignissen, künftig etwa im Umfeld von Veranstaltungen mit allmählich wieder ansteigenden Teilnehmerzahlen? Im Wissen um die tendenzielle Unabschließbarkeit und den dauerhaften Überarbeitungsbedarf von Software-Lösungen könnte es also bald heißen: „Eine neue Version ist verfügbar.“

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Vertreter*innen der viel gescholtenen „Netz- und Digitalpolitik“ in Deutschland im internationalen Vergleich eine gute Figur abgegeben haben – durchaus mit Blick auf das (immer noch unfertige) Produkt, vor allem aber auch im Bereich des Prozesses, der die App-Entwicklung begleitet und gerahmt hat. Es bleibt zu hoffen, dass diese Lerneffekte nicht rasch verfliegen, sondern die Corona-Warn-App im Rückblick als jenes Beispiel wahrgenommen wird, das dem Geschäftsbereich „Digitalisierung“ im politischen Raum zu der Bedeutung verholfen hat, den er seit mehreren Jahren längst schon verdient.

Zitationshinweis:

Bieber, Christoph (2020): Eine neue Netzpolitik ist verfügbar?, Die Corona-Warn-App als politisches Software-Projekt, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/eine-neue-netzpolitik-ist-verfuegbar/

 

This work by Christoph Bieber is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. vgl. dazu auch den Kommentar von Christian Schiffer für BR.de: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/ja-zur-corona-warn-app-ein-akt-der-solidaritaet,S1yYn3F []
  2. Eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik liefert Michael Seemann: https://www.ctrl-verlust.net/warum-die-festlegung-auf-die-dezentrale-variante-der-corona-warn-app-ein-fehler-war/. []

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