Ist der Liberalismus noch zu retten?

Gerade wenn man große Sympathien für die Errungenschaften des klassischen Liberalismus hegt und diese verteidigen will, ist man gut beraten, die Frage nach den Quellen der aktuellen Krise des Liberalismus in aller Härte und Schonungslosigkeit zu stellen. Dies bedeutet jedoch, dass man sich mit der oberflächlichen Erklärung, die auf einzelne Personen und die programmatische Ausrichtung einer Partei verweist, nicht zufrieden geben kann.

Dieser Ansatz ist zwar verführerisch: Es klingt ja auch einleuchtend, dass die „Generation Westerwelle“, all die strebsam, karrieristisch, ja bisweilen gar opportunistisch wirkenden Politiker wie Phillip Rösler, Silvana Koch-Mehrin, Jorgo Chatzimakakis oder Patrick Döring die ehrwürdige Partei zu Grunde gerichtet haben. 

Ist der Liberalismus noch zu retten?

 

Autor

Dr. Felix Heidenreich hat Politikwissenschaft in Heidelberg, Paris und Berlin studiert. Seit 2004 ist er Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart, wo er seit 2005 auch als wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur—und Technikforschung tätig ist. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Theorie, Kulturphilosophie, Kulturpolitik und Wirtschaftsethik.

 1. Krise des Liberalismus: Personell oder strukturell?

Gerade wenn man große Sympathien für die Errungenschaften des klassischen Liberalismus hegt und diese verteidigen will, ist man gut beraten, die Frage nach den Quellen der aktuellen Krise des Liberalismus in aller Härte und Schonungslosigkeit zu stellen. Dies bedeutet jedoch, dass man sich mit der oberflächlichen Erklärung, die auf einzelne Personen und die programmatische Ausrichtung einer Partei verweist, nicht zufrieden geben kann.

Dieser Ansatz ist zwar verführerisch: Es klingt ja auch einleuchtend, dass die „Generation Westerwelle“, all die strebsam, karrieristisch, ja bisweilen gar opportunistisch wirkenden Politiker wie Phillip Rösler, Silvana Koch-Mehrin, Jorgo Chatzimakakis oder Patrick Döring die ehrwürdige Partei zu Grunde gerichtet haben. Dass Guido Westerwelle als Außenminister zudem fehlbesetzt wirkte und von den anfänglichen Skandalen seltsamer Reisebegleitungen über die umstrittene Libyen-Entscheidung bis zu seinen Auftritten auf dem Maidan in Kiew nicht in die Rolle fand, hat sein Übriges getan. Aus dieser Perspektive reicht es, die Partei etwas neu auszurichten, mit Christian Lindner ein neues Gesicht an die Spitze zu stellen und gegen das Image einer durch Eliten finanzierten Lobby-Partei wegzukommen. Da Lindner außergewöhnliche rhetorische Qualitäten hat und die Partei schon aus Überlebenswillen jeden Bruch mit den Möllemann- und Westerwelle-Jahren schnell mitvollziehen wird, ist es durchaus denkbar, dass diese Strategie schnelle Erfolge bringen wird. Der Erfolg bei den Wahlen in Hamburg nährt diese Hoffnung.

Aber es darf bezweifelt werden, dass mögliche parteipolitische Erfolge der FDP reichen werden, um dem Liberalismus erneut qualitative Beiträge zur Gestaltung des politischen Gemeinwesens abzuringen. Womöglich reicht die Krise des Liberalismus viel tiefer, hat strukturelle Gründe, für die das Abdriften der  FDP unter Westerwelle ins Unseriöse und das Misstrauen der Wähler, ja die unverhohlene Häme vieler Journalisten nur der Oberflächenausdruck sind. Könnte es sein, dass die politischen Ideen des Liberalismus – aus strukturellen Gründen – unplausibel oder zumindest umdeutungsbedürftig werden?

2. Kernelemente des liberalen Politikverständnisses

Wer eine solche Frage stellt, muss natürlich ausführen, was er unter Liberalismus versteht, denn hinter dem Schlagwort verstecken sich viele Varianten einer Weltsicht. Dennoch gibt es so etwas wie Familienähnlichkeiten, eine Art Bauprinzip dieser politischen Theorien. Drei Grundideen machen gewissermaßen die DNA des liberalen Denkens aus. Erstens fordert der Liberalismus die größtmögliche Freiheit des Einzelnen und verlangt als Preis dafür die größtmögliche Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Zweitens verteidigt er den Markt als zentrales Prinzip sozialer Koordination. Und drittens plädiert der Liberalismus für eine möglichst klare Trennung zwischen öffentlich-politischem und privatem Raum. Verschiedene Formen des Liberalismus können verschiedene Akzentsetzungen vornehmen, aber sie werden alle drei Elemente in der einen oder anderen Art aufweisen. Alle drei Elemente sind jedoch erläuterungsbedürftig.

Der Begriff der Freiheit wird in der liberalen Denktradition in der Regel als „Freiheit von…“ oder als „negative Freiheit“ ausgelegt. Frei ist der Einzelne, insofern er keinen (staatlichen) Hindernissen ausgesetzt ist. Der Katalog der bürgerlichen Freiheitsrechte stellt gewissermaßen eine Liste der Einschränkungsaufhebungen dar. Der Liberalismus ist zugleich verbunden mit einer ganzen Kultur der Freiheit, die auf Begriffe wie Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung rekurriert und oft mit Individualismus in Verbindung gebracht wird. Liberal ist, wer „sein eigenes Ding“ machen will und die Anderen dabei in Ruhe lässt.

Hinter dem Versprechen des Marktes verbirgt sich ebenfalls eine sehr handfeste Vorstellung. Der klassische Liberalismus forderte das Ende eines feudalen Gerechtigkeitsprinzips, in dem in der Regel die Herkunft festlegte, welche soziale Rolle man zu spielen hatte: Edelmann, Handwerker, Leibeigener. Dem Markt hingegen ist es egal, ob man einen Adelstitel trägt und wer die Eltern waren: Allein Leistung soll sich lohnen. Auf einem anonymen Markt unabhängig vom sozialen Status etwas kaufen zu können, war und ist ein emanzipatorisches Versprechen. Das Versprechen lautet: Auch als Frau, als Schwarzer oder als Arbeiter sagen zu können: „Ich will das haben und ich kann es bezahlen und wo ich herkomme geht Sie nichts an!“ Noch heute ist der Smartphone-Konsum gefragtes Symbol sozialer Inklusion, gerade bei unterprivilegierten Personen. Wie dabei das Verhältnis von Staat und Markt im Einzelnen gedacht wird, unterscheidet sich erheblich in den verschiedenen Varianten des Liberalismus und Neoliberalismus. Ein Minimalkonsens ist mit Sicherheit die Ablehnung von planwirtschaftlichen Verfahren. Strittig bleibt indes die Frage, inwiefern Staaten selbst als quasi-ökonomische Akteure zu verstehen sind, die ihre Bürgerinnen und Bürger als Humankapital ausbilden oder von außen anwerben.

Die Trennung zwischen privater und politisch-öffentlicher Sphäre lässt sich drittens verstehen als eine Ausdifferenzierung von Moral und Recht. Damit wendet sich der Liberalismus historisch gegen eine theokratische oder republikanische Tugendherrschaft. Seine These lautet: Nicht alles, was unanständig ist, kann und sollte auch verboten werden. Ehebruch mag unmoralisch sein, darf aber nicht strafbar werden. So lange man sich an die Gesetze hält, darf man auch ein Egoist sein, der sich nutzenmaximierend in gegebenen Anreizstrukturen bewegt. Die Grundintuition dahinter ist einfach: Es muss eine (klar definierte) Sphäre geben, in der der Einzelne schalten und walten kann, wie er will. Ein Gemeinwohl, eine res publica, eine Vorstellung vom gemeinsamen guten Leben gibt es daher im Liberalismus nur in einem sehr spezifischen Sinne: als Absicherung der formalen Bedingungen des Glücksstreben (innere Sicherheit, Rechtstaat), nie als inhaltliche Vorgabe.

3. Erfolgsbedingungen des klassischen Liberalismus

Es scheint, dass sich alle drei Elemente ganz gut aus den historischen Umständen verstehen lassen, in denen sie entstanden. Alles in allem stammt der Liberalismus aus einer Epoche, in der die Welt ganz plausibel als Menge getrennter Einheiten verstanden werden konnte: Moral und Recht, privat und öffentlich, Markt und Moral – immer geht es dem Liberalismus um Differenzierungen, ja Grenzziehungen. Aber die Frage ist, ob eine Theorie, die mit diesen Voraussetzungen arbeitet, heute noch zeitgemäß sein kann. Selbstverständlich kann der Liberalismus erfolgreich sein, ohne zeitgemäß zu sein. Das lässt sich nicht ausschließen. Aber dann wäre er nur – wie die neuen Theokraten – ein Relikt vergangener Zeiten.

Was aber unterscheidet unsere Lage von der historischen Situation in der Geburtsstunde des Liberalismus? Wo liegt unsere größte Herausforderung? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht schwer. In ihrer allgemeinsten Form lässt sich mit den Worten von Angela Merkel formulieren, dass es darum geht, eine nachhaltige Wirtschafsform zu entwickeln. Nachhaltig ist eine Wirtschaftsform dann, wenn sie perpetuierbar ist, wenn sie fortgesetzt werden kann, wenn sie ihre eigenen Voraussetzungen nicht zerstört.

Der wohl augenfälligste Bereich, in dem unsere momentane Wirtschaftsweise diesem Ideal widerspricht, ist der Umgang mit endlichen Ressourcen. Die fossilen Brennstoffe bilden hier nur ein Problemfeld unter vielen. Neben der Endlichkeit von Erdöl, Gas, Kohle und allen damit verbundenen Fragen – man denke nur an die Herausforderung, eine industrielle Landwirtschaft irgendwann einmal ohne Dieseltreibstoff betreiben zu müssen – sind es Ressourcen wie Phosphor oder Kupfer, deren Endlichkeit das Wirtschaftssystem in Frage stellt.

In der Regel werden diese Herausforderungen von politischen Akteuren im Modus der Sonntagsrede behandelt: Nachdem man sonntags die Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen beschworen hat, gratuliert man sich am Montag zum hohen Wirtschaftswachstum, ohne die kognitive Dissonanz auch nur zu bemerken. Eigentlich sollte die Lage uns jedoch dazu anspornen, in sehr langen Kausalketten und komplexen Zusammenhängen zu denken. Wir brauchen eine besondere Sensibilität für die Wechselwirkungen zwischen Strukturen, Handlungen und Folgen, um den Begriff der Fernverantwortung mit Anschauung zu füllen. Wir ersetzen so idealerweise in kleinen Schritten ein klassisches Denken in abgetrennten Bereichen, eindeutigen Handlungsfolgeketten und definierbaren Grenzen durch ein Denken in komplexen Systemen.

Stimmt man dieser These zu, so wird deutlich, worin das strukturelle Problem einer liberalen Theorie des gelingenden politischen Gemeinwesens besteht. Die liberale Grundintuition, die Freiheit des Einzelnen sei damit zu rechtfertigen, dass er für die Folgen seines Handelns auch die Verantwortung übernähme, scheint in dieser Allgemeinheit zweifelhaft. Denn wie sollen unter der Bedingung langer und sehr komplexer Handlungsfolgen die Verantwortlichkeiten zugeschrieben werden? Zwischen der Produktion von klimaschädlichen Gasen und den Folgen für die Betroffenen liegt ein globales Klimasystem, so komplex und schier unberechenbar, dass keine Einzelperson haftbar gemacht werden kann. Oder wollen wir uns vorstellen, dass Klimaopfer des Jahres 2060 die Erben deutscher Porsche-Fahrer aus dem Jahre 2015 zivilrechtlich auf Schadensersatz verklagen?

Das Problem endlicher Ressourcen ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Die Kernstruktur von Nachhaltigkeit stellen die Allmende-Probleme dar, die ganz offenbar durch bloße Markt-Mechanismen nicht angemessen beantwortet werden können. Wir finden diese Struktur gemeinschaftlich genutzter (und daher strukturell gefährdeter) Güter beispielsweise in der Frage der Überfischung oder des Schutzes der Meere. Auch die kürzlich heftig diskutierte Frage einer Impfpflicht lässt sich als ein Gemeingutproblem verstehen: Gesundheit ist kein individuelles Projekt und leider kann es uns nicht egal sein, ob die Kinder des Nachbarn geimpft sind. Die Liste möglicher Beispiele ist beliebig verlängerbar: Währungen sind Gemeingüter, Kultur ist ein Gemeingut, Wasser ist ein Gemeingut. Nichts davon sollten wir dem alleine Markt überlassen.

4. Schlussbemerkung: Die strukturelle Defensive des Liberalismus

Die strukturelle Defensive des liberalen Denkens erklärt sich aus den immer deutlicher werdenden Grenzen des Marktmechanismus. Nicht nur produziert der Markt unter den gegenwärtigen Umständen eine soziale Ungleichheit, die das Versprechen der Meritokratie wie Hohn erscheinen lässt. Vielmehr schient er als Mechanismus den Allmende-Problemen nicht gewachsen zu sein. Dass wir energiepolitisch den Weg in eine Planwirtschaft nehmen, ist oft beklagt worden, aber womöglich gibt es dafür gute Gründe. Denn ganz offenbar hat der Markt alleine allergrößte Schwierigkeiten, externe Kosten wie Umweltzerstörung tatsächlich preislich abzubilden. Der Markt alleine kann es offenbar nicht richten: Weder bringt der ungeregelte Wohnungsmarkt bezahlbaren Wohnraum für Familien hervor, noch wollen wir unser Trinkwasser, die Qualität unserer Nahrung, den Buchmarkt oder unsere Massenmedien den Gesetzen des Marktes unterwerfen. Auch die ordoliberale Vorstellung von bloßen Rahmensetzungen reicht dazu offenbar nicht aus.

Besonders beunruhigend ist die Krise des Liberalismus wohl bezüglich der dritten Kernthese, nämlich der Hoffnung auf eine plausible und strikte Trennung zwischen öffentlich/politischer und privater Sphäre. Hier hat der Liberalismus bis heute das durchaus plausible Szenario eines republikanischen Tugendterrors in der rhetorischen Waffenkiste: Der Veggie-Day als apokalyptischer Reiter der Öko-Diktatur. Alle republikanischen, am Gemeinwohl und den Gemeingütern orientierten Ansätze des politischen Denkens stehen hier in der Pflicht zu erläutern, wie sie die Errungenschaften des Liberalismus unter den neuen Bedingungen zu bewahren gedenken.

Hätte der Liberalismus zu dieser Debatte mehr beizutragen als ein bloßes „Frei Fahrt für freie Bürger!“, so wäre er vielleicht zu retten. Dazu müsste er jedoch diskursiv ins Zeitalter der Wechselwirkungen eintreten. In den USA wird neben dem Independance Day längst der Interdependance Day gefeiert. Diesen Schritt mitzugehen würde jedoch auch dem parteipolitischen Liberalismus sehr viel mehr als einen neuen Anstrich in Magenta abverlangen.

Zitationshinweis

Heidenreich, Felix: Ist der Liberalismus noch zu retten?, Essays & Kolumnen, Erschienen auf regierungsforschung.de, Online verfügbar unter: https://regierungsforschung.de/ist-der-liberalismus-noch-zu-retten/

 

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