NATO – Architektur und Fortentwicklung des Nordatlantikvertrages

Im April 2024 besteht die NATO seit 75 Jahren. Angesichts aktueller Entwicklungen ist die oft totgesagte NATO wieder in ihrer Relevanz gestiegen. Nicht nur in den letzten Jahren, auch historisch hat sich das sicherheitspolitische Umfeld immer wieder verändert und die NATO mit. PD Dr. Markus Reiners von der Leibniz Universität Hannover wirft einen Blick auf die NATO und ihren Wandel über die Zeit hinweg. Wie konnte das Bündnis die eigene Relevanz bewahren?

Im April 2024 wird die NATO 75 Jahre alt. Es scheint daher angemessen, das Bündnis in seiner Genese zu beleuchten und deren Fortentwicklung zu betrachten. Seit der Gründung haben sich mehrfach Entwicklungen ergeben, die Einfluss auf die Ausrichtung des Bündnisses hatten, beispielsweise die Auflösung des Warschauer Paktes. Auch aktuell gibt es Fortentwicklungen, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

NATO – Architektur und Fortentwicklung des Nordatlantikvertrages

Autor

PD Dr. phil. habil. Markus Reiners ist Privatdozent für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Er lehrt und forscht u.a. im Bereich Politischer Institutionen.

Architektur, Gründung und Mitglieder des Nordatlantikvertrages

Im April 2024 wird die NATO 75 Jahre alt. Es scheint daher angemessen, das Bündnis in seiner Genese zu beleuchten und deren Fortentwicklung zu betrachten. Seit der Gründung haben sich mehrfach Entwicklungen ergeben, die Einfluss auf die Ausrichtung des Bündnisses hatten, beispielsweise die Auflösung des Warschauer Paktes. Auch aktuell gibt es Fortentwicklungen, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den damit verbundenen Beitrittswünschen von Finnland und Schweden. Finnland ist seit dem Jahr 2023 jüngstes Mitglied.

Die Gründung der NATO1 datiert auf den 4. April 1949 in Washington im Zuge der sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufbauenden Konfrontationspolitik zwischen der USA und der Sowjetunion. Der Nordatlantikvertrag trat sodann am 24. August 1949 in Kraft. Zunächst war die Organisation in einem überschaubaren Zeithorizont auf 20 Jahre angelegt. Aufgrund des Kalten Krieges wurde die Organisation im Jahre 1969 jedoch auf unbestimmte Zeit verlängert. Das NATO-Hauptquartier war zunächst in London angesiedelt. 1952 erfolgte ein Umzug nach Paris. Infolge des Rückzugs von Frankreich 1966 wurde die Zentrale im Jahr 1967 nach Brüssel verlegt. Dort sind das Hauptorgan der NATO, der Nordatlantikrat, und seine im Weisungsstrang ihr nachgeordneten Einrichtungen ansässig. Hierzu gehören der International Staff (IS) und der International Military Staff (IMS) (vgl. Greiner/Maier/Rebhan 2003; Heiss/Papacosma 2008; Giegerich 2012; Krüger 2013).

Die NATO ist offiziell und per se vom Ursprung her ein „Verteidigungsbündnis“ von nordamerikanischen und europäischen Mitgliedstaaten, wenngleich sich die Ziele im Laufe der Zeit erweitert haben. Sie hat das elementare Ziel, das eigene Territorium durch gegenseitigen Beistand zu schützen. Ferner ist es das Ziel, globale politische Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Entscheidende Grundlegung ist der Nordatlantikvertrag nach Artikel 51 der UN-Charta. In seiner Präambel bekennen sich die Mitglieder zu Frieden, Demokratie, Freiheit und der Herrschaft des Rechts. Nach dem Bundesverteidigungsministerium versteht sich die NATO als Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten, bei der die Mitglieder ihre volle Souveränität und Unabhängigkeit beibehalten, da es sich um eine internationale Organisation ohne Hoheitsrechte handelt (vgl. Greiner/Mai­er/Rebhan 2003; Heiss/Papacosma 2008; Schröter 2009; Giegerich 2012; Krüger 2013).

Der NATO gehören mit Stand September 2024 insgesamt 31 Mitglieder an. Folgende Gründungsmitglieder aus dem Jahr 1949 sind zu nennen: die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Portugal. Im Jahr 1952 traten Griechenland und die Türkei der NATO bei, 1955 sodann die Bundesrepublik Deutschland, 1982 Spanien, 1999 Polen, Tschechien und Ungarn, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro, 2020 Nordmazedonien und 2023 Finnland. Frankreich zog sich bereits 1966 aus dem integrierten Militärbündnis zurück, blieb aber politisches Mitglied. Im Jahr 2009 ist Frankreich vollständig in die Kommandostruktur der NATO zurückgekehrt. Island besitzt als einziger Staat keine Streitkräfte (vgl. Reiners 2023: 395; Greiner/Maier/Rebhan 2003; Heiss/Papacosma 2008; Giegerich 2012; Krüger 2013).

Wesentliche Organe der NATO

Die NATO weist eine komplexe militärische und zivile Organisationsstruktur auf. Die nachfolgenden Ausführungen stellen zunächst die zivile Struktur dar. Der Nordatlantikrat (NAC) mit Sitz in Brüssel ist das höchste Gremium der Allianz. Er bestimmt die Politik des Bündnisses. Die Staats- und Regierungschefinnen/-chefs (sogenannter „NATO-Gipfel“) oder die Außen- bzw. Verteidigungsministerinnen/-minister der Mitgliedstaaten treten zweimal jährlich zusammen. Die Parlamentarische Versammlung der NATO dient der Vorbereitung nationaler Parlamentsentscheidungen. Sie tritt jährlich in einer Frühjahrs- und Herbsttagung zusammen. Zurzeit gehören der Versammlung 274 Parlamentarier der 31 NATO-Mitgliedstaaten und weitere Parlamentarier aus assoziierten Staaten an. Das Generalsekretariat bildet die Verwaltung der Allianz. Dieses wird von einem Generalsekretär geleitet. Der NATO-Generalsekretär wird von den Mitgliedstaaten für die Dauer von vier Jahren ernannt. Er ist Sprecher der Allianz in deren Außenbeziehungen und steuert den Prozess der Konsultation und Entscheidung im Bündnis. Er führt den Vorsitz im Nordatlantikrat, im Ausschuss für Verteidigungsplanung, in der Nuklearen Planungsgruppe und in anderen hochrangigen Ausschüssen. Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf die militärische Organisationsstruktur (Reiners 2023: 395f.).

Der NATO-Militärausschuss fungiert als höchstes militärisches Entscheidungs- und Beratungsorgan innerhalb des Bündnisses. Er ist dem Nordatlantikrat unterstellt. Der Ausschuss besteht aus den militärischen Stabschefinnen und -chefs aller Mitgliedstaaten oder ihren Vertreterinnen bzw. Vertretern, die militärisch integriert sind. Für Deutschland nimmt diese Funktion der Generalinspekteur der Bundeswehr wahr. Der Ausschuss berät und empfiehlt Maßnahmen, die für die NATO erforderlich sein könnten. Ferner ist dem NATO-Militärausschuss der Internationale Militärstab zugeordnet, der als ausführendes Organ des Militärausschusses gilt. Das NATO-Militärhauptquartier in Europa befindet sich in Belgien. Nach der NATO-Kommandostruktur liegt der operative Oberbefehl bei den beiden wichtigsten militärischen Hauptquartieren. Diese sind das als Supreme Headquarters Allied Powers Europe/SHAPE bezeichnete Allied Command Operations (ACO) in Mons (Belgien) und das Allied Command Transformation (ACT) in Norfolk (USA) (Reiners 2023: 396).

Zweck und konkrete Ziele

Der Nordatlantikvertrag sieht ein Defensivbündnis ohne automatische Beistandspflicht der Mitglieder vor. Der Vertrag verpflichtet die Mitglieder zur friedlichen Konfliktregulierung. Für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf ein Mitglied verpflichtet der Vertrag die übrigen Mitgliedstaaten jedoch zur kollektiven Selbstverteidigung (Reiners 2023: 398f.; vgl. Hauser 2008; Schröter 2009).

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs brachen die systemischen Gegensätze zwischen den Siegermächten auf, was letztlich zu einer Bipolarität respektive zum Kalten Krieg und seiner Abschreckungspolitik geführt hat, auf der einen Seite die Sowjetunion, auf der anderen die USA, Großbritannien und Frankreich. Bereits 1948 schlossen sich Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten zu einem Bündnis für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit sowie zur kollektiven Selbstverteidigung zusammen. Ziel war es, gegen eine erneute deutsche Aggression und kurz darauf – unter anderem seit der Berlin-Blockade – gegen eine mögliche kommunistische Bedrohung gewappnet zu sein. Im weiteren Fortgang entwickelte sich ein wechselseitiges Abkommen unter Beteiligung der USA: der Nordatlantikvertrag. Nachstehend werden kursorisch einige markante Meilensteine der NATO aufgeführt, ohne hierbei einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen (Reiners 2023: 396f.; vgl. Reiter 2007; Hauser 2008; Taschenbrecker 2020).

Die ersten Jahre der NATO standen unter dem Eindruck der damaligen Ereignisse (z. B. Berlin-Blockade, Korea-Krieg). 1955 wurde die Bundesrepublik im Zuge der Westintegration Mitglied des Militärbündnisses. 1957 beschloss der Nordatlantikrat die Strategie der „Massiven Vergeltung“ (Massive Retaliation).2 Danach wurden 1958 die ersten US-Mittelstreckenraketen in Großbritannien aufgestellt. 1959 bzw. 1960 stimmte zunächst die Türkei und sodann Italien der Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen auf ihren Territorien zu. Die Sowjetunion reagierte hierauf mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba, wodurch die Weltpolitik in eine ernsthafte Krise schlitterte, denn niemals zuvor war ein atomarer Krieg wahrscheinlicher (Reiners 2023: 397; vgl. Reiter 2007; Hauser 2008; Taschenbrecker 2020).

Diese Einsichten haben zunächst zu einer Strategie der Verringerung nuklearer Risiken geführt. Ab 1967 galt nicht mehr die Strategie der massiven Vergeltung, sondern die einer „abgestuften Reaktion“ (Flexible Response).3 Die NATO setzte nunmehr auf eine Zwei-Pfeiler-Doktrin: einerseits auf militärische Sicherheit durch konventionelle Streitkräfte und neu entwickelte taktische Nuklearwaffen und andererseits auch auf Entspannungspolitik. Dieses darin angelegte Dilemma zeigte sich später auch im NATO-Doppelbeschluss des Jahres 1979. Die nukleare Nachrüstung in Europa (insbesondere ab 1983) und das gleichzeitige Verhandlungsangebot an die Sowjetunion brachten zunächst nicht die erhoffte Entspannung. Eine solche trat erst sukzessive in den späten 1980er Jahren im Zuge der Verhandlungen unter Michail Gorbatschow und Ronald Reagan ein. Am 12. September 1990 wurde sodann zwischen den beiden deutschen Staaten und den Alliierten der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ unterzeichnet. Der Eiserne Vorhang löste sich auf. Mit der friedlichen Revolution in der DDR, der Zusammenführung beider deutscher Staaten, der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Zerfall der Sowjetunion entfiel urplötzlich die Hauptbedrohung für die NATO, und ihre Bündnispartner gerieten unter Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck (Reiners 2023: 397f.; vgl. Thamm 2002; Reiter 2007; Hauser 2008; Taschenbrecker 2020).

Die im Nordatlantikvertrag formulierten Ziele haben sich im Laufe der Zeit zwar nicht geändert, allerdings musste das Aufgabenpaket des Nordatlantikpaktes zwangsläufig vor dem Hintergrund der veränderten sicherheitspolitischen Gegebenheiten modifiziert werden, welche heutzutage auch anders ausgelegt und interpretiert werden. Während des Kalten Krieges bestand die wesentliche Hauptaufgabe des Bündnisses vornehmlich darin, die Freiheit und Sicherheit der Mitglieder durch eine Abschreckungspolitik und Aufrüstung sowie durch eine ständige Abwehrbereitschaft zu garantieren. Abschreckung und Verteidigung sind als Hauptaufgaben zwar nach wie vor existent, sie liegen jedoch nicht mehr vordergründig im Zentrum der Betrachtung. Fortan stehen mehr der Dialog und die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Gegnern im Mittelpunkt (Reiners 2023: 399).

Die NATO sollte von nun an und weiterhin beispielsweise eine Funktion im Rahmen der euro-atlantischen Sicherheits- und Verteidigungsordnung wahrnehmen und als transatlantisches Bindeglied, als Instrument des Krisenmanagements und der Konfliktverhütung, als Instrument der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie als intaktes Militärbündnis für friedenserhaltende Maßnahmen (z. B. der Vereinten Nationen) fungieren. 1991 wurde die neue Strategie der NATO beschlossen, die die Konzeption der abgestuften Reaktion ablöste, eine Strategie der Triade aus Dialog, Kooperation und Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit. Zu der neuen Sichtweise zählte zudem die 1992 beschlossene Bereitschaft zu „Out-of-Area-Einsätzen“ außerhalb des NATO-Territoriums. Bereits 1990 führte die NATO Reformen durch, dies mit dem Ziel einer schnellen Eingriffsfähigkeit in Krisengebieten, einer größeren Flexibilität und einer Abkehr vom bipolaren Bedrohungsdenken. 1997 wurde der Grundstein über gegenseitige Beziehungen, über Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation gelegt, der eine Beendigung der Gegnerschaft von NATO und Russland vorsah und als Vorstufe der NATO-Osterweiterung fungierte. 2010 beschloss das Bündnis ein weiteres Strategiepapier, das eine Zusammenarbeit mit Russland vorsah (Reiners 2023: 398f.; vgl. Reiter 2007; Hauser 2008; Pöllath 2017; Taschenbrecker 2020).

Entwicklungen nach 9/11 und jüngste Fortentwicklung im Zuge des Ukrainekrieges

Nach den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 vereinbarten die NATO-Staaten eine Reihe von Maßnahmen, um die USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu unterstützen. Zu dessen Bekämpfung haben die NATO und Russland im Jahr 2002 eine Ära der Kooperation eingeleitet. Die Staats- und Regierungschefs der damals noch 19 NATO-Staaten und der russische Präsident unterzeichneten am 28. Mai 2002 einen Vertrag über einen neuen NATO-Russland-Rat (NRR) als Koordinationsforum, der eine Kooperation auf zahlreichen Gebieten wie Terrorbekämpfung, Rüstungskontrolle, Katastrophenschutz etc. vorsah. Der NATO-Russland-Rat diente anfänglich der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den NATO-Staaten und Russland in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Allerdings hatte Russland kein Mitspracherecht bei NA­TO-internen Verteidigungsfragen oder beim Bündnisfall. Der Krieg in der Ukraine hat die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und den USA – und damit auch zur NATO– letztlich zerschlagen. Exakter muss man jedoch viel weiter zurückblicken, zumindest bis ins Jahr 2014, bis zur Revolution auf dem Maidan und der sich anschließenden Annexion der Krim (Reiners 2023: 398).

Der NATO-Gipfel 2014 in Newport in Wales stand schon unter dem Eindruck des Konflikts in der Ukraine und vereinbarte daher einen „NATO Readiness Action Plan“ (NATO 2022). Die NATO stellte Anfang April 2014 die militärische Zusammenarbeit mit Russland ein, behielt aber die politischen Kanäle im NATO-Russland-Rat zunächst bei (NATO 2014a). Aus dem Konflikt in der Ukraine schloss die NATO, dass sie die NATO Response Force um eine als Very High Readiness Joint Task Force (Speerspitze) bezeichnete Eingreiftruppe ergänzen muss, die mit 3.000 bis 5.000 Soldaten innerhalb von zwei bis fünf Tagen per Luft verlegt werden kann. Zudem wurde die Präsenz des Bündnisses in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten ausgedehnt. Dazu sollen rotierende Einheiten eingesetzt werden (NATO 2014b). Des Weiteren war es beabsichtigt, die maritimen Einsatzverbände des Nordatlantikpaktes zu verstärken.

Die jüngeren Entwicklungen im Zuge verschiedener US-Präsidentschaften, globaler krisenhafter Entwicklungen, die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 und der Krieg in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 rücken die Rolle der NATO in eine ganz zentrale Position. Schon seit einigen Jahren war eine Abkehr Russlands vom Westen zu beobachten. Warum dies der Fall ist, soll hier nicht dezidiert aufgearbeitet werden. Sicherlich sind die Ursachen vielschichtiger Natur. Wladimir Putin hat zwar schon kurz nach seinem Amtsantritt Interesse an einem Beitritt Russlands zum NATO-Bündnis geäußert, welcher allerdings wohl am Aufnahmeverfahren und der Weigerung Russlands, ein solches durchlaufen zu müssen, gescheitert ist. Putin bezeichnete ferner bereits 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Erweiterungsabsichten der NATO als eine Gefährdung der russischen Sicherheitslage (Reiners 2023: 399). Diese Sicherheitskonferenz bildet den seismografischen Meilenstein der Abkühlung amerikanisch-russischer Beziehungen, nachdem in den Jahren zuvor bereits eine massive Osterweiterung der NATO stattgefunden hat, mit 1999 Polen, Tschechien und Ungarn sowie im Jahr 2004 mit Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien (vgl. Sarotte 2021).

Des Weiteren sind natürlich auch die Entwicklungen innerhalb der Ukraine bedeutsam. Bereits unter Tymoschenko strebte die Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft an. Nach der Präsidentschaftswahl in der Ukraine 2010 nahm der neue prorussische Präsident Janukowytsch von einem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine Abstand und betonte den Status als blockfreies Land. Janukowytsch begründete dies damit, dass die Mehrheit der Ukrainer einen Beitritt zur NATO ablehnen. Nach der Maidanrevolution war das Präsidentenamt eher prowestlich besetzt. Am 22. November 2018 verabschiedete das ukrainische Parlament sodann mit 311 Stimmen den Gesetzentwurf, der die Änderung der Verfassung der Ukraine dahingehend vorsieht, dass der ukrainische Kurs in Richtung europäischer und euro-atlantischer Integration unumkehrbar sei. Seit dem Euromaidan 2014 und der späteren Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum Staatspräsidenten im Jahr 2019 hat sich die Ukraine der NATO daher wieder angenähert. Im Jahr 2020 wurde eine noch engere Bindung mit der Aufnahme der Ukraine in das Enhanced Opportunities Program erklärt, womit dem Land Beteiligungen an Nato-Manövern und Kooperationsprojekten sowie Zugriff auf einzelne geheime Bündnisinformationen möglich sind. Mit Stand 2020 waren Australien, Finnland, Georgien, Jordanien und Schweden Teilnehmer des Enhanced Opportunities Program (DER SPIEGEL 2020).

Auf dem Gipfel in Brüssel im Juni 2021 bekräftigte die NATO ihre bereits auf dem Bukarest-Gipfel 2008 getroffene Entscheidung, die Ukraine mit der Aussicht auf den Membership Action Plan (MAP) an die NATO heranzuführen sowie das Recht der Ukraine, ihre Zukunft und Außenpolitik unabhängig und ohne Einmischung von außen zu bestimmen. Inwieweit allerdings die Vorgänge bereits rund um den Maidan im Jahr 2014 ohne Einmischung von außen abgelaufen sind, ist nicht vollständig geklärt. Immer wieder wird von verschiedenen vornehmlich prorussischen Seiten betont, dass hier eine Einmischung insbesondere der USA zu verzeichnen war und die Annexion der Krim gewissermaßen als Reaktion auf die Maidanrevolution anzusehen ist. Nach dem jahrelang andauernden Bürgerkrieg in der Ostukraine erfolgte schließlich am 24. Februar 2022 der russische Überfall auf die Ukraine. Nach der umstrittenen Annexion von vier ukrainischen Gebieten durch die Russische Föderation am 30. September 2022 hat die Ukraine noch am gleichen Tag die NATO-Aufnahme in einem Schnellverfahren beantragt (vgl. Reiners 2023: 399f.).

In Finnland und Schweden wurde schon während des Kaukasuskrieges über einen möglichen NA­TO-Beitritt debattiert (FAZ 2022). Spätestens jedoch seit Beginn des Krieges in der Ukraine setzte man sich ernsthaft unter anderem mit Finnland und Schweden über einen Beitritt auseinander. Am 12. Mai 2022 sprachen sich sodann das mit einer langen Grenze direkt an Russland angrenzende Finnland respektive der finnische Präsident Niinistö und die damalige Ministerpräsidentin Marin für einen unverzüglichen NATO-Beitritt aus. Am 15. Mai 2022 sprach sich auch die Regierungspartei in Schweden für einen solchen aus (Tagesschau 2022). Ungeachtet massiver türkischer Vorbehalte reichten Schweden und Finnland ihre Beitrittsanträge kurz darauf am 18. Mai 2022 ein (Reiners 2023: 400; DER SPIEGEL 2022a).

Präsident Erdoğan hatte in der Vergangenheit Vorbehalte gegen einen Beitritt Finnlands und Schwedens geäußert, hauptsächlich wegen Meinungsverschiedenheiten in der Kurdistan-Frage. Er­doğan warf beiden Ländern vor, indirekt die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu unterstützen (BBC 2022). Nachdem die Türkei zuvor noch Bedenken geäußert hatte, unterzeichneten die Außenminister der Türkei, von Schweden und Finnland am 28. Juni 2022, am Tag vor dem NATO-Gipfel in Madrid, im ersten Schritt jedoch eine Absichtserklärung, die das Ende des türkischen Widerstands gegen den Beitritt der beiden Staaten beinhaltet. Beide Länder wurden am Tag daraufhin offiziell eingeladen neue Bündnispartner zu werden (DER SPIEGEL 2022b).

Am 5. Juli 2022 unterzeichneten die NATO-Botschafterinnen und Botschafter die Beitrittsprotokolle für Finnland und Schweden, womit der Ratifizierungsprozess begonnen hat. 28 von 30 Mitgliedstaaten ratifizierten die Beitrittsprotokolle für Finnland und Schweden bis Ende September 2022, zuletzt fehlten Ungarn und die Türkei. Am 24. März 2023 stimmte Präsident Erdoğan nach monatelangen Verzögerungen dem Beitritt Finnlands zu. Am 27. März 2023 ratifizierte Ungarn den Beitritt Finnlands, drei Tage darauf stimmte auch das türkische Parlament zu. Finnland wurde sodann am 4. April 2023 NATO-Vollmitglied (DER SPIEGEL 2023).

Im Zuge des NATO-Gipfels 2023 ist es in der Frage hinsichtlich der potenziellen Mitgliedschaft von Schweden zu einer Annäherung gekommen, nachdem Erdoğan signalisierte, seine Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens zu erteilen, sofern die EU der Türkei den Weg in die EU ebne. EU-Ratspräsident Michel sicherte in diesem Zuge zu, nach Möglichkeiten zu suchen, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu revitalisieren (Reiners 2023: 379f.; LpB Baden-Württemberg 2024; vgl. Varwick 2005). Inwieweit dies die weiteren Entwicklungen beeinflussen wird, kann nicht abschließend beurteilt werden und ist derzeit völlig offen. Die Gespräche zu einem Beitritt Schwedens scheinen jedoch auf einem guten Weg, denn der Außenausschuss des türkischen Parlaments hat der Erweiterung zwischenzeitlich zugestimmt. Ein Ende der türkischen Blockade bedeutet dies allerdings noch nicht. Nach dem Votum muss nun das gesamte Parlament darüber abstimmen. Ein Zeitpunkt für die Abstimmung ist momentan noch offen (Tagesschau 2023).

Zusammenfassend kann diagnostiziert werden, dass der Zweck der NATO insgesamt unverändert bleibt, Freiheit und Sicherheit aller ihrer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln zu gewährleisten. Ziel ist es, auf der Grundlage der gemeinsamen Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung zu schaffen. Auch wenn die Gefahr einer unmittelbaren militärischen Bedrohung des Bündnisterritoriums nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – auch mit kritischem Blick auf die aktuelle Lage in Richtung Russland – etwas unwahrscheinlicher geworden ist, sind vielfältige Risiken und Herausforderungen anderer Art entstanden. Allein die europäischen Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren oder im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 haben gezeigt, dass auch Konflikte außerhalb des Bündnisgebietes die Sicherheit der Bündnispartner und des euro-atlantischen Raums unmittelbar beeinflussen können. Dies unterstreicht das gewandelte Selbstverständnis der „neuen“ NATO, gemeinsam mit anderen Partnern, wie beispielsweise den Vereinten Nationen, in Friedensmissionen Konflikte zu verhüten und Krisen zu bewältigen und da­durch über die Bündnisgrenzen hinaus zu Sicherheit und Stabilität beizutragen (Reiners 2023: 400). Ob dieser theoretische Anspruch immer ohne Brüche und vollständig in die Praxis übersetzt wurde, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. Insgesamt wird es mit Spannung zu beobachten sein, wie sich das Bündnis im Zuge neuer geopolitischer Herausforderungen und Problemlagen nach ihrem 75-jährigen Bestand weiterentwickeln und letztlich auch jeweils positionieren wird. Die Haltung der das Bündnis dominierenden USA spielt dabei sicherlich eine wesentliche Rolle.

Literatur

BBC (2022): Ukraine war: Putin warns Finland joining Nato would be ‘mistake’. Online verfügbar unter: https://www.bbc.com/news/world-europe-61450694, Stand: 19.01.2024.

DER SPIEGEL (2020): Nato geht noch engere Partnerschaft mit der Ukraine ein. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/ausland/nato-geht-noch-engere-partnerschaft-mit-ukraine-ein-a-9e8f9f5f-ccae-482a-b0d0-0dbe617d4ebd, Stand: 17.01.2024.

DER SPIEGEL (2022a): Schweden und Finnland beantragen offiziell Nato-Beitritt. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/ausland/schweden-und-finnland-beantragen-offiziell-nato-beitritt-a-7748b590-60a3-4bc0-be15-9b584d26cc04, Stand: 17.01.2024.

DER SPIEGEL (2022b): Türkei stimmt Beitritt Schwedens und Finnlands zu. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/ausland/nato-norderweiterung-tuerkei-stimmt-beitritt-finnlands-und-schwedens-offenbar-zu-a-53eb9a92-4a07-48db-a6e2-41e89259e27e, Stand: 19.01.2024.

DER SPIEGEL (2023): Finnland ist jetzt Nato-Mitglied. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/ausland/finnland-ist-jetzt-nato-mitglied-beitrittszeremonie-in-bruessel-a-de6780f6-6c3b-4dfc-be6e-70ddb02d78d0, Stand: 19.01.2024.

Frankfurter Allgemeine (2022): Der Norden ist in Aufruhr. Online verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/finnland-schweden-und-norwegen-liefern-waffen-an-die-ukraine-17844063.html, Beitrag von Matthias Wyssuwa, Stand: 19.01.2024.

Giegerich, Bastian (2012): Die NATO, Wiesbaden.

Greiner, Christian/Maier, Klaus A./Rebhan, Heinz (2003): Die NATO als Militärallianz. Strategie, Organisation und nukleare Kontrolle im Bündnis. 1949 bis 1959 (i.A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, hrsg. von Bruno Thoß), München.

Hauser, Gunther (2008): Die NATO – Transformation, Aufgaben, Ziele, Frankfurt a.M.

Heiss, Mary Ann/Papacosma, S. Victor (Hrsg., 2008): NATO and the Warsaw Pact – Intrabloc Conflicts, Kent.

Krüger, Dieter (2013): Am Abgrund? Das Zeitalter der Bündnisse: Nordatlantische Allianz und Warschauer Pakt 1947 bis 1991, Fulda.

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NATO (2022): Readiness Action Plan. Online verfügbar unter:  https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_119353.htm, Stand: 15.01.2024.

Pöllath, Moritz (2017): Eine Rolle für die NATO out-of-area? Das Bündnis in der Phase der Dekolonisierung 1949-1961, Frankfurt a.M. (Peter Lang Edition, Schriftenreihe: Militärhistorische Untersuchungen, Band 15).

Reiners, Markus/Hitschold, Joachim (2023): Der Staat. Grundlagen politischer Bildung, 16. Aufl., Stuttgart.

Reiter, Heiko (2007): Die neue Sicherheitsarchitektur der NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Interessengemeinschaft. In: KJ, 124–143.

Sarotte, Mary Elise (2023): Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung, München (engl.: Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate, New Haven).

Schröter, Lothar (2009): Die NATO im Kalten Krieg 1949–1991, Zwei Bände, Berlin.

Tagesschau (2022): Regierungspartei für NATO-Beitritt. Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/schweden-nato-beitrittsgesuch-101.html, Stand: 19.01.2024.

Tagesschau (2023): NATO-Beitritt Schwedens rückt näher. Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/tuerkei-schweden-nato-parlament-100.html; Stand: 19.01.2024.

Taschenbrecker, Lennart (2020): Die völkerrechtliche Bewertung der NATO-Einsätze seit dem Ende der Sowjetunion aus dem Blickwinkel des NATO-Vertrages, Berlin.

Thamm, Sascha (2002): Institutionelle Reaktionen der NATO auf die Krisen des Bündnisses. Von der Gründung bis zum NATO-Doppelbeschluss, Osnabrück.

Varwick, Johannes (Hrsg., 2005): Die Beziehungen zwischen NATO und EU. Partnerschaft, Konkurrenz, Rivalität? Leverkusen.

Zitationshinweis:

Reiners, Markus (2024): NATO – Architektur und Fortentwicklung des Nordatlantikvertrages, Essay, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/nato-architektur-und-fortentwicklung-des-nordatlantikvertrages/

This work by Markus Reiners is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. North Atlantic Treaty Organization, OTAN – Organisation du traité de l’Atlantique nord, hierzulande auch als Atlantisches Bündnis oder Nordatlantikpakt bezeichnet. []
  2. Massive Retaliation bezeichnet eine Nuklearstrategie der NATO während des Kalten Krieges. Sie folgte dem Konzept auf einen feindlichen Angriff auf europäische NATO-Mitglieder, sei es durch konventionelle Streitkräfte oder mit Nuklearwaffen, mit einem vernichtenden nuklearen Gegenschlag zu reagieren. []
  3. Die Strategie Flexible Response eröffnete während des Kalten Krieges eine Vielzahl von Handlungsoptionen, um auf unterschiedliche Angriffe zu reagieren. Anstatt eines pauschalen nuklearen Gegenangriffs sah die Strategie einen Stufenplan von Reaktionsmöglichkeiten vor. []

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