Parteien und Parteiensystem nach 2021: Die Gründung von Parteien schreitet voran

Der von Oskar Niedermayer und Uwe Jun herausgegebene Band hat inzwischen Tradition. Auch der neueste Band analysiert fair und instruktiv die Entwicklung der Bundestagsparteien nach der Bundestagswahl 2021. Insbesondere punktet der Band mit klarer Sprache, analogem Aufbau und guter Nachvollziehbarkeit durch die einschlägige Literatur, so Prof. Dr. Eckhard Jesse, der bis 2014 an der TU Chemnitz lehrte.

Im Untertitel des Sammelwerkes mit zehn Texten steht das Adjektiv „neu“ im Superlativ. Doch davon kann keine Rede sein, ohne dass die Herausgeber etwas dafür können. Die gegenwärtige Entwicklung auf dem deutschen „Parteienmarkt“ – ein Ausdruck großen Unmuts – überschlägt sich gerade zu. Im November 2022 gründete sich das politisch zwischen der Union und der AfD angesiedelte Bündnis Deutschland (BD).

Parteien und Parteiensystem nach 2021: Die Gründung von Parteien schreitet voran

Uwe Jun/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2021. Neueste Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland, Springer Verlag, Wiesbaden, 2023, 269 Seiten, ISBN 978-3-658-40860-2, 59,99 Euro

Autor

Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 an der TU Chemnitz Politikwissenschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Parteien, Wahlen, Extremismus und Demokratie. Seine aktuellen Publikationen „Interventionen. Zur (Zeit-)Geschichte und Politikwissenschaft: Extremismus, Parteien, Wahlen“ (Nomos Verlag) und „Politik in stürmischer Zeit. Deutschland in den 2020er-Jahren“ (mit Frank Decker und Roland Sturm; Bundeszentrale für politische Bildung), sind 2023 erschienen.

Im Untertitel des Sammelwerkes mit zehn Texten steht das Adjektiv „neu“ im Superlativ. Doch davon kann keine Rede sein, ohne dass die Herausgeber etwas dafür können. Die gegenwärtige Entwicklung auf dem deutschen „Parteienmarkt“ – ein Ausdruck großen Unmuts – überschlägt sich gerade zu. Im November 2022 gründete sich das politisch zwischen der Union und der AfD angesiedelte Bündnis Deutschland (BD). Nach der Bremer Bürgerschaftswahl im Mai 2023 erklärten die mit 9,4 Prozent erfolgreichen Bürger in Wut (BiW), sie würden im BD aufgehen. Im Januar 2024 entstand, wie schon länger angekündigt, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als Abspaltung von der Partei Die Linke. Und im gleichen Monat wurde die Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (Dava), die bei deutschen Muslimen auf Stimmen hofft, ins Leben gerufen. Sie steht der AKP nahe, der Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Doch damit nicht genug: Im Februar 2024 bildete sich unter Hans-Georg Maaßen, dem früheren Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, die Werteunion als Partei. Das alles war für die Herausgeber nicht vorhersehbar.

Die zuerst von Oskar Niedermayer allein (angefangen mit der Bundestagswahl 1998) und seit der Bundestagswahl 2017 ebenso von Uwe Jun herausgegebene Reihe „Die Parteien nach der Bundestagswahl“ hat eine gute Tradition. Der neueste Band analysiert fair und instruktiv die Entwicklung der Bundestagsparteien nach der Bundestagswahl 2021, wobei auch die CSU mit einem Kapitel bedacht wird. Laut Ursula Münch kartete die CSU nach der Bundestagswahl mit Blick auf den Kanzlerkandidaten nicht nach. Sie konnte die neue Bundesregierung stärker kritisieren als die CDU, da deren Koalitionen – anders als in Bayern – immer ein Regierungspartner aus dem Bund angehört. Torsten Oppelland sieht die Niederlage der CDU wesentlich als „Folge einer ungelösten Führungskrise“ (S. 101) an. Mittlerweile gelte die Führungsrolle von Friedrich Merz als „innerparteilich unbestritten“ (S. 125). Anna-Sophie Heinze schildert in ihrer unaufgeregten Analyse zur AfD deren Ausgangslage vor der Bundestagswahl 2021, den Wahlkampf dieser Partei sowie ihr im Vergleich zu 2017 eher schwaches Abschneiden. Allerdings ließ sich der Höhenflug der AfD nicht mehr angemessen einbeziehen. Heinzes Kernthese lautet, dass die Partei breitere Wählerschichten nur bei einer Mäßigung erschließt. Nun hat diese aber einerseits massiv zugelegt und sich andererseits radikalisiert. Heinze hat auch den Beitrag über Die Linke verfasst. Hier fällt ihre Prognosekraft („im Sinkflug“, S. 236) besser aus, ohne dass sie jedoch den Abgang der Richtung um Sahra Wagenknecht bedenken konnte.

Uwe Jun erklärt den Überraschungserfolg der SPD mit „einer professionell geführten Kampagne und einer erfolgreich auf den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz ausgerichteten Kommunikationsstrategie“ (S. 96). Dadurch seien, heißt es etwas vage, „die organisationsstrukturellen Defizite oder das Fehlen eines sozialdemokratischen Narrativs“ (S. 96) verdeckt worden. Der Autor analysiert auch die Positionen des liberalen Koalitionspartners mit Blick auf das Desaster zwischen 2009 und 2013. Vom „Sinkflug“ (S. 151) sprechen Sebastian Bukow und Niko Switek in ihrem Text über die Grünen ebenso – allerdings hat dieser ihnen mit dem besten Wahlergebnis bei Bundestagswahlen nicht den Eintritt in die Regierung nach 16 Jahren vermasselt. Der Begriff „Sinkflug“ bezieht sich in diesem Fall auf die zeitweilig hohen Umfragewerte mit mehr als 20 Prozent. Weder kommen die gewichteten Gründe für das zeitweilige Hoch noch die für den Fall klar genug zur Sprache.

Die ähnliche Anlage der Texte (jeweils mit einem Fazit) erlaubt Vergleichbarkeit. Außerdem findet sich ein informativer Beitrag Hendrik Trägers über Klein- und Kleinstparteien. Vier von ihnen erreichten 2021 die für die staatliche (Teil-)Finanzierung wichtige Hürde von 1,0 Prozent: Freie Wähler (2,4 Prozent), Tierschutzpartei (1,5 Prozent), Die Basis (1,4 Prozent) und Die PARTEI (1,0 Prozent). Es gehört nach den Eingangsbemerkungen zu den Neugründungen von Parteien keine Prophetengabe für die folgende Annahme: Diese Zahl dürfte bei der nächsten Bundestagswahl steigen.

Vorangestellt sind dem von zwei führenden deutschen Parteienforschern herausgegebenen Band zwei übergreifende Texte. Für Niedermayer hat der Ausgang der letzten Bundestagswahl den „pluralistischen“ Strukturtyp des bisherigen Parteiensystems bestätigt. Dieser hebt sich von einem Parteiensystem mit einer prädominanten Partei (so 1953 und 1957) wie von einem Parteiensystem mit Zweiparteiendominanz ab, bei dem jeweils die beiden stärksten Parteien über mehr als 25 Prozent der Stimmen verfügen und zusammen mindestens eine Zweidrittelmehrheit im Parlament (so 1961 bis 2005) erreichen. Von einem hoch fragmentierten Parteiensystem unterscheidet sich das durch eine effektive Parteienanzahl von unter fünf gekennzeichnete „pluralistische“. Für den Autor ist die gängige These widerlegt, externe Krisen (wie etwa der Ukraine-Krieg) nützten automatisch den Regierungsparteien.

Laut der Analyse der Wahlprogramme samt des Koalitionsvertrages durch Jun, Marius Minas und Simon Jakobs nimmt Die Linke bei der sozio-ökonomischen wie bei der sozio-kulturellen Konfliktlinie eine deutlich exponiertere Position ein als zuvor; eine rot-grün-rote Koalition im Fall einer arithmetischen Mehrheit wäre mithin unwahrscheinlich geworden. Unwahrscheinlich ja, aber wohl keineswegs ausgeschlossen, meint der Rezensent mit Blick auf die machtpolitischen Optionen der Parteien. Hingegen rutschte die Union bei beiden Konfliktlinien deutlicher in die Mitte. Ihr schwaches Abschneiden wird mit dem fehlenden Markenkern sowie dem wenig überzeugenden Spitzenkandidaten erklärt.

Die an einen größeren Leserkreis gerichtete Reihe „Die Parteien nach der Bundestagswahl“ erscheint zwar zeitnaher nach der jeweiligen Bundestagswahl als das methodisch anspruchsvolle oder verstiegene, je nach Perspektive, Wahlvademekum der ausschließlich für die Forschung bestimmten „blauen Bände“ (seit 1976), aber eine noch zügigere Publikation im Abstand zur Wahl dürfte die Resonanz steigern. Was nicht hoch genug gelobt werden kann: die klare Sprache, der analoge Aufbau und die gute Nachvollziehbarkeit durch die einschlägige Literatur. Es liegt fürwahr keine Buchbindersynthese vor.

Zitationshinweis:

Jesse, Eckhard (2024): Parteien und Parteiensystem nach 2021: Die Gründung von Parteien schreitet voran, Uwe Jun/Oskar Niedermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2021. Neueste Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland, Springer Verlag, Wiesbaden, 2023, 269 Seiten, ISBN 978-3-658-40860-2, 59,99 Euro, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/parteien-und-parteiensystem-nach-2021-die-gruendung-von-parteien-schreitet-voran/

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