Über die kommunikative Wucht von Regierungserklärungen

Wer sich systematisch über das politische Instrument der Regierungserklärung informieren will, findet im Handbuch Politische Rhetorik von Armin Burkhardt – erschienen beim Walter de Gruyter Verlag – viele Antworten, so Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. In über 50 Beiträgen von der Geschichte bis zu internationalen Aspekten der politischen Kommunikation wird ein wichtiger Wissensstand dokumentiert. Es wird schnell erkennbar: Sprachgewinn ist Machtgewinn in der politischen Auseinandersetzung.

,,Das Wort hat der Herr Bundeskanzler” – mit diesem Satz erteilt der Bundestagspräsident im Plenum des Deutschen Bundestages dem Bundeskanzler das Wort, der daraufhin seine Regierungserklärung abgibt. An dieser standardisierten Formulierung hat sich seit der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer nichts verändert. Der Redner kann sich nach dieser Einführung der vollen Aufmerksamkeit der Abgeordneten sicher sein. Regierungserklärungen gehören zum Alltag einer parlamentarischen Demokratie.

 

Über die kommunikative Wucht von Regierungserklärungen

Armin Burkhardt (Hrsg.): Handbuch Politische Rhetorik, Berlin/Boston 2019, Walter de Gruyter Verlag; 1214 Seiten

Autor

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung.

 

,,Das Wort hat der Herr Bundeskanzler” – mit diesem Satz erteilt der Bundestagspräsident im Plenum des Deutschen Bundestages dem Bundeskanzler das Wort, der daraufhin seine Regierungserklärung abgibt. An dieser standardisierten Formulierung hat sich seit der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer nichts verändert. Der Redner kann sich nach dieser Einführung der vollen Aufmerksamkeit der Abgeordneten sicher sein. Regierungserklärungen gehören zum Alltag einer parlamentarischen Demokratie. Sie sind Ausdruck des wechselseitigen Vertrauens zwischen dem Parlament und der Regierung. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sucht man vergeblich nach einem Artikel, der die Abgabe von Regierungserklärungen ausdrücklich regelt. Nach Interpretation des Artikels 43 Absatz 1 des Grundgesetzes kann die Regierung „jederzeit” vor dem Deutschen Bundestag eine Erklärung abgeben. Mitglieder der Bundesregierung müssen auf Antrag dem Bundestag bzw. seinen Ausschüssen Rede und Antwort stehen. In der parlamentarischen Praxis ist es üblich geworden, dass der Bundeskanzler nach vorheriger Abstimmung mit dem Koalitionspartner eine Regierungserklärung im Ältestenrat ankündigt. Zwischen acht (in der dritten Wahlperiode) und 55 (in der 19. Wahlperiode) Regierungserklärungen wurden bisher von den Bundeskanzlern bzw. den Bundesministern abgegeben. Meist sind diese Anlass für daran anschließende mehrstündige Debatten, an denen sich die Spitzen aller Fraktionen beteiligen. Die Zunahme der Anzahl von Regierungserklärungen in der Bundesrepublik hängt auch mit der Entwicklung der Mediendemokratie zusammen. Durch jede öffentliche Themen-Präsentation erfahren der Kanzler bzw. seine Minister besondere Aufmerksamkeit, die sich durch medienadressierte Personalisierung trefflich visualisieren lässt. Die Regierungserklärung ritualisiert das alte Refugium der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik, den Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Die Rede zeigt sich resistent gegenüber den modernen Verlockungen und Formaten des Infotainments.

Innerhalb der Legislaturperiode greift die Bundesregierung zum Instrument der Regierungserklärung, wenn sich wichtige Voraussetzungen innerhalb der Koalitionsvereinbarungen geändert haben oder eine rasche programmatisch einordnende Reaktion auf wichtige nationale oder internationale Ereignisse erforderlich erscheinen. Diese Regierungserklärungen sind dem Charakter nach feststellende politische Lageanalysen. Sie sind zumeist auf eine Ressortthematik begrenzt. Von diesen eher routinemäßig anfallenden Regierungserklärungen heben sich drei Varianten ab:

  • die Regierungserklärungen aus Anlass der jährlichen Haushaltsberatungen,
  • die Berichte zur Lage der Nation im geteilten Deutschland (bis zur deutschen Einheit) und
  • die Antrittserklärungen zu Beginn der Legislaturperiode.

Die Haushaltsberatungen gehen in der Regel mit großen Redeschlachten im Bundestag einher. Die Opposition greift dabei zum Mittel der Gesamtabrechnung mit der Politik der Bundesregierung. Das Budgetrecht, das sich hinter den Haushaltsberatungen verbirgt, gehört mit zu den wichtigsten Kontrollrechten des Bundestages, denn der Haushalt wird durch ein Parlamentsgesetz beschlossen. Die Debatten finden öffentlich relativ große Beachtung.

Die „Berichte zur Lage der Nation im geteilten Deutschland” konnte man als Sonderfall der Regierungserklärungen einstufen. Bundeskanzler Kiesinger gab am 3. März 1969 vor dem Deutschen Bundestag den ersten „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland” ab. Zugrunde lag ein Beschluss des Deutschen Bundestages vom 28. Juni 1967 über einen interfraktionellen Antrag der Abgeordneten von CDU/CSU, SPD und FDP, worin die Bundesregierung aufgefordert wurde, jährlich – innerhalb des ersten Vierteljahres – einen Bericht zur Lage der Nation abzugeben, was bis 1989 erfolgte.

Nach seiner Wahl durch den Deutschen Bundestag erklärt der Kanzler im dritten Typus von Regierungserklärungen seine Regierungspolitik, die er bis zum Ende der Legislaturperiode durchsetzen möchte. Diese Art von Berichtspflicht und Programmplanung hat sich im Verlauf der Entwicklung der parlamentarischen Systeme als wichtiger Vertrauensmechanismus zwischen Parlament und Regierung historisch etabliert.

Die Bundeskanzler hielten ihre Antrittsreden im Deutschen Bundestag unabhängig davon, ob eine Bundestagswahl vorausging oder innerhalb einer laufenden Legislaturperiode der Kanzlerwechsel stattfand. Der konkrete Anlass für die Regierungserklärung war stets die Wahl des Kanzlers durch die Mitglieder des Bundestages.

Die ersten programmatischen Antrittsreden der Bundeskanzler, die sie im Anschluss an die Wahl durch den Deutschen Bundestag im Plenum des Bundestages halten, tragen den Titel „Große Regierungserklärungen”. Das Adjektiv „groß” bezieht sich also nicht normativ-wertend auf Leistungsetiketten, die man diesen Erklärungen anheften könnte. Gemessen an der rhetorischen Strahlkraft und politischen Wirkung manch einer Bundestagsrede – etwa zur Bonn-Berlin-Debatte am 20. Juni 1991 – waren die Großen Regierungserklärungen häufig eher unauffällig und weniger pointiert. Das galt vor allem in dem Maße, in dem die Kanzler mehrere Legislaturperioden amtierten.

Regierungserklärungen, die gleichzeitig zentrale Kipppunkte in formativen Phasen der Bundesrepublik Deutschland beschreiben, sind sehr selten. Dazu zählt allerdings die Zeitenwende von Bundeskanzler Scholz im Februar 2022. Sie markierte einen Wendepunkt in der diffusen öffentlichen Debatte: Sie beschrieb das Ende der deutschen Zurückhaltungskultur als Zivilmacht-Pazifismusweltmeister.

Wer sich systematisch zu diesen wichtigen Instrumenten des Politischen informieren möchte, findet im Handbuch Politische Rhetorik viele Antworten. Die über 50 Beiträge von der Geschichte bis zu internationalen Aspekten der politischen Kommunikation dokumentieren einen wichtigen Wissensstand, der ansonsten disparat daherkommt. Das Register erleichtert zudem die Suche. Wahlkampfreden, Plastikwörter, Narrative – viele poetologischen und semiotischen Kategorien werden verständlich bedient. Die jeweiligen Anwendungsbeispiele machen die Lektüre zum Lehrseminar. Man erkennt sehr schnell: Sprachgewinn ist Machtgewinn in der politischen Auseinandersetzung. Vieles von dem kann man lernen, aber das strategische Momentum hat eine Eigenlogik, die nicht immer planbar ist.

Zitationshinweis

Korte, Karl-Rudolf (2023): Über die kommunikative Wucht von Regierungserklärungen, Armin Burkhardt (Hrsg.): Handbuch Politische Rhetorik, Rezension, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online verfügbar: https://regierungsforschung.de/ueber-die-kommunikative-wucht-von-regierungserklaerungen/

This work by Karl-Rudolf Korte is licensed under a CC BY-NC-SA license.

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