Von Jamaika zur Ampel?

Tom Höpfner und Aryan Shooshtari, die den Master „Politikmanagement, Public Policy und Öffentliche Verwaltung“ an der NRW School of Governance (Universität Duisburg-Essen) studieren, analysieren die Koalitionssignale der FDP vor der Bundestagswahl 2021. Die FDP machte keine Geheimnis aus ihrer Rolle als selbst ernannte Königsmacherin einer neuen Koalition. Welche Koalitionsaussagen traf Christian Lindner und inwiefern wandelten sich diese Aussagen im Vorfeld der Wahl?

Die Bundestagswahl 2021 war in vielerlei Hinsicht von Besonderheiten geprägt und noch in der eigentlichen Wahlnacht kristallisierte sich schnell heraus, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik zum ersten Mal eine neuartige Regierungskonstellation geben wird: Entweder in Form einer Jamaika- oder einer Ampelkoalition. Angesichts dessen lag der Fokus der Medienberichterstattung insbesondere auf den sogenannten „Citrus-Parteien“. Insbesondere die Rolle der FDP wurde beleuchtet, erinnerte man sich doch noch deutlich an die geplatzten Sondierungsgespräche 2017.

Von Jamaika zur Ampel?

Die Veränderung von Koalitionssignalen der FDP im Bundestagswahlkampf 2021

Autoren

Tom Höpfner ist Student des Masterstudiengangs „Politikmanagement, Public Policy und Öffentliche Verwaltung“ an der NRW School of Governance. Er arbeitet als Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staatstheorien“ von Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte.

 

Aryan Shooshtari ist Student des Masterstudiengangs „Politikmanagement, Public Policy und Öffentliche Verwaltung“ an der NRW School of Governance. Er ist als Studiengangsassistenz des berufsbegleitenden Master of Public Policy an der NRW School of Governance tätig.

 

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Forschungspapier Von Jamaika zur Ampel? Die FDP zwischen Abgrenzung und Annäherung. Eine inhaltsanalytische Untersuchung von Koalitionssignalen im Bundestagswahlkampf 2021, das hier online als Vollversion verfügbar ist. Die Anhänge zum Forschungspapier sind hier abrufbar.

1         Einleitung

Die Bundestagswahl 2021 war in vielerlei Hinsicht von Besonderheiten geprägt und noch in der eigentlichen Wahlnacht kristallisierte sich schnell heraus, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik zum ersten Mal eine neuartige Regierungskonstellation geben wird: Entweder in Form einer Jamaika- oder einer Ampelkoalition. Angesichts dessen lag der Fokus der Medienberichterstattung insbesondere auf den sogenannten „Citrus-Parteien“1. Insbesondere die Rolle der FDP wurde beleuchtet, erinnerte man sich doch noch deutlich an die geplatzten Sondierungsgespräche 2017 und den berühmten Ausspruch des damaligen und aktuellen Parteivorsitzenden Christian Lindner: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“. Gleichzeitig machte die FDP keinen Hehl aus ihrer selbst zugewiesenen Rolle des Königsmachers.

Angesichts dieser Konstellation erscheint es naheliegend, einen genaueren Blick auf die Aussagen von Christian Lindner im Verlauf des Bundestagswahlkampfes zu werfen. Reizvoll erscheint hierbei die strategische Positionierung, die mittels solcher Aussagen erreicht werden soll: Nämlich als Gratwanderung zwischen Positionstreue auf der einen und Kompromiss- bzw. Koalitionswilligkeit auf der anderen Seite. Die vorliegende Arbeit möchte sich dieser Gratwanderung annehmen und stützt sich hierbei auf das Forschungsfeld der klassischen Koalitionstheorien und der Koalitionssignale.

In einem ersten Schritt sollen zunächst einige theoretische Grundüberlegungen zu den besagten Forschungsfeldern angestellt werden. Anschließend erfolgt eine kurze Vorstellung der verwendeten Untersuchungsmethode sowie der hierfür herangezogenen Untersuchungsgegenstände. Abschließend gilt es, die Ergebnisse mit den theoretischen Vorüberlegungen zusammenzuführen.

2        Theoretische Grundüberlegungen und Forschungsstand

2.1       Klassische Koalitionstheorien

Wie eingangs dargelegt, stellt das Forschungsfeld der Koalitionsforschung einen Klassiker der (vergleichenden) Regierungslehre dar und wird daher als eines der am „am intensivsten beackerten Themenfelder“ betrachtet (Decker 2013: 75). Grundlegend lässt sich die koalitionstheoretische Literatur auf drei Generationen aufteilen (Krumm 2004: 43): Frühe Überlegungen gingen dabei überwiegend von office-orientierten Akteuren aus, sodass Parteien primär nach Regierungsbeteiligung bei gleichzeitig maximaler Ausbeute an Regierungsposten streben (Linhart 2009: 181). Eine solche Sichtweise berücksichtigt jedoch keine ideologischen Standpunkte und ignoriert mithin die faktisch bestehende Tendenz zur Koalitionsbildung zwischen politisch nahestehenden Parteien, sodass rein office-orientierten Sichtweisen eine gewisse „Politikblindheit“ attestiert werden kann (Linhart u. Pappi 2009: 24).

Konsequenterweise verlagerte die zweite Generation der Koalitionsmodelle den Blick auf die inhaltlich-ideologische Positionierung politischer Akteure, allen voran der Parteien (Debus 2021: 3 f.). Diese policy-seeking-Modelle bescheinigen Parteien eine intrinsische Motivation. Dadurch werden primär solche Koalitionen gebildet, in denen sich die Parteien auch inhaltlich näherstehen, sodass von einer Blockbildung zwischen Parteien gesprochen werden kann (Linhart u. Pappi 2009: 24).

2.2       „Neue“ Koalitionstheorien

Trotz dieser Blickwinkelverlagerung ergibt sich bei beiden Theoriegenerationen ein offensichtliches Delta, das Linhart und Pappi (2009: 24) treffend beschreiben: „So leicht widerlegbar die Sichtweise rein ämterorientierter Parteien ist, so unzureichend ist die Annahme, Parteien seien überhaupt nicht ämtermotiviert.“ Dies wurde zum Anlass genommen, einen dritten Strang von Koalitionstheorien zu entwickeln, welcher Koalitionsbildungsprozesse gleichzeitig policy- wie auch office-orientiert diskutiert. Linhart und Switek (2019: 492) betonen geradezu die Notwendigkeit, bei der Analyse beide Komponenten als für Parteien gleichzeitig relevante Motivationstypen zu berücksichtigen. Die Autoren gehen davon aus, dass der Grad der beiden Motivationstypen maßgeblich von parteispezifischen Gewichtungsfaktoren abhängt und demnach Variationen in der möglichen Nutzenkalkulation einer Partei darauf zurückzuführen sind.

Allerdings greift selbst diese Sichtweise in einem entscheidenden Punkt zu kurz: Offenbar wird davon ausgegangen, dass sich der Prozess der Koalitionsanbahnung und Koalitionsbildung lediglich unmittelbar nach der Wahl abspielt. Etwaige strategische Positionierungen der Parteien vor dem eigentlichen Wahltermin werden hingegen ausgeblendet. Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, etwaige Koalitionssignale in die Überlegungen mit einzubeziehen.

2.3       Die Bedeutung von Koalitionssignalen

Die Einbeziehung solcher Koalitionssignale ermöglicht ein genaueres Verständnis bei der Anbahnung von Koalitionen, da auch prä-elektorale Elemente in den Blick genommen werden können (Buzogány u. Kropp 2013: 265). Als Koalitionssignale lassen sich hierbei alle Äußerungen von Parteivertretenden verstehen, die sowohl explizit als auch implizit im Vorfeld von Wahlen erfolgen, um potenzielle Koalitionsoptionen entweder zu ermöglichen oder zu verhindern.Folglich stellen sie ein strategisches Element dar, welches bewusst dazu gebraucht wird, die Beteiligung einer Partei an einer Regierungskoalition zu erreichen. Anders ausgedrückt: Koalitionssignale erfolgen nicht „einfach so“, sondern haben einen bestimmten Zweck. Unter Berücksichtigung dieses Zwecks erscheint der Gebrauch solcher Signale als probates Mittel, um anderen Parteien eine etwaige Koalitionsbereitschaft zu signalisieren oder eine solche zu negieren – womit wiederum die office- und policy-orientierten Ziele tangiert werden.

Allerdings ist der Gebrauch von Koalitionssignalen mit zwei Risiken behaftet: Einerseits besteht die Gefahr, dass der inflationäre Gebrauch positiver Signale gegenüber zu vielen politischen Konkurrentinnen und Konkurrenten die Konturen verschwimmen und damit letztlich auch die Stammwählerschaft an der ideologischen Standhaftigkeit der eigenen Partei zweifeln lässt. Andererseits geht eine zu strikte Festlegung auf bestimmte Koalitionspartner mit dem Risiko einher, dass bei einem ungünstigen Wahlergebnis die eigene Regierungsbeteiligung bereits von vornherein ausgeschlossen ist oder nur unter einem massiven Gesichtsverlust erkauft werden kann.

Abseits dieser strategischen Bedeutung von Koalitionssignalen erscheint die Hinzuziehung von diesen aufgrund zweier weiterer Punkte vorteilhaft: (1) Sie sind demokratietheoretisch wünschenswert, verringern sie doch die Wahrscheinlichkeit für das Elektorat, „die sprichwörtliche ‚Katze im Sack‘“ zu kaufen (Decker 2013: 77; ähnlich auch Best 2017: 6). Indem nämlich positive oder negative Signale im Wahlkampf gesendet werden, kann zu einem gewissen Grad für mehr Klarheit gesorgt werden, was die Stimmabgabe der Wählerinnen und Wähler beeinflussen kann. Neben diesem normativen Grund besteht (2) ein empirischer Grund für die Integration von Koalitionssignalen in die üblichen Koalitionstheorien: Es handelt sich hierbei um eine in der Realität bereits weitgehend praktizierte Methode (Golder 2005: 645; Decker 2013: 77).

3         Forschungsdesign

3.1       Fallauswahl und Untersuchungszeitraum

Zwecks Beantwortung des eingangs genannten Forschungsinteresses wurde eine qualitative Untersuchung medial vermittelter Koalitionssignale vonseiten der FDP im Bundestagswahlkampf 2021 durchgeführt. Die Fallauswahl umfasst hierbei Interviews des Bundesvorsitzenden und Spitzenkandidaten Christian Lindner, welchen wir als validen Übersetzer „der FDP-Position(en)“ operationalisieren. Dies gründet in der Erkenntnis, dass während eines Wahlkampfes typischerweise innerparteiliche Differenzen beiseitegestellt werden und sich die Gesamtpartei hinter ihrem Spitzenkandidaten oder ihrer Spitzenkandidatin versammelt. Das Untersuchungsmaterial lag größtenteils in schriftlicher Form vor, etwaige Audiomitschnitte wurden transkribiert. Hauptquelle für das Material war die öffentliche Homepage von Christian Lindner, über welche bereits zahlreiche Interviews in transkribierter Form abgerufen werden konnten.

Hinsichtlich des Untersuchungszeitraums wurden Interviews ab dem 20. April 2021 herangezogen. Dieser Tag wurde gewählt, weil ab diesem Zeitpunkt die beiden Kanzlerkandidaten sowie die Kanzlerkandidatin aller drei großen Parteien feststanden. Als Ende des Untersuchungszeitraumes wurde der 28. September 2021 festgelegt. Dieser Tag markiert den Beginn der sogenannten Vorsondierungen zwischen Grünen und FDP, die mit einem inzwischen legendären Instagram-Post bekanntgegeben wurden. Der Zeitpunkt liegt zudem zwei Tage nach der Bundestagswahl und ergibt sich folglich aus dem Untersuchungsgegenstand und dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Interesse, etwaige Koalitionssignale der FDP unter Berücksichtigung einer gewissen Unsicherheit im Verlauf des Bundestagswahlkampfes auszumachen und zu analysieren.

3.2       Kategorienbildung

Das im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausgearbeitete Kategoriensystem entstand zu wesentlichen Teilen mithilfe der oben ausgeführten theoretischen Grundannahmen. Dementsprechend ergaben sich folgende deduktive Oberkategorien:

  • Ämter: Diese Kategorie umfasst alle Aussagen, welche sich auf eine etwaige Ämter-motivation beziehen.
  • Inhalte: Unter diese Kategorie werden all jene Aussagen subsumiert, die das Erreichen bestimmter Policies zum Gegenstand haben.
  • Jamaikakoalition: Dem Kategorienamen entsprechend werden hierunter all diejenigen Aussagen gefasst, die sich auf die Bildung einer Koalition zwischen den Parteien CDU, GRÜNE und FDP beziehen. Da solche Aussagen negativer oder positiver Gestalt sein können, erfolgt eine entsprechende Unterteilung der Kategorie Jamaikakoalition in die zwei Unterkategorien „negative“ und „positive Koalitionssignale“.
  • Ampelkoalition: Hinsichtlich dieser Kategorie gelten grundsätzlich die gleichen Regeln wie in der Kategorie Jamaikakoalition. Es besteht jedoch ein naheliegender Unterschied insofern, als hierunter lediglich Aussagen bezüglich einer möglichen Koalition zwischen SPD, GRÜNE und FDP erfasst werden.

3.3       Datenauswertung

Das erhobene Datenmaterial wurde mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Das hier angewandte Verfahren folgt dem Grundschema einer inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse, wie sie sich etwa bei Margrit Schreier (2014) findet. Diese gilt als die zentrale Variante qualitativ-inhaltsanalytischer Verfahren und wird auch von Robert Kaiser (2014) verwendet, der indes ein weniger komplexes Konzept vorschlägt, das hier sinnvoll erscheint: Dabei wird auf eine Analyse von Aspekten wie Entstehungssituation des Interviews und Wirkungsweise des Textes verzichtet; der Fokus liegt vielmehr allein auf der „Strukturierung“, also der eigentlichen Analyse des textuellen Materials (ebd.: 90 f.).

Der sich wiederholende Codierprozess wurde mithilfe der QDA-Software „MAXQDA“ durchgeführt. Für das Umsetzen einer qualitativen Inhaltsanalyse mittels QDA-Software wurde der Leitfaden nach Udo Kuckartz (2018, insbesondere 163-184) herangezogen. Das oben beschriebene Kategoriensystem ist Ergebnis des repetitiven Durchlaufs, bei dem überdies eine gewisse Intercoderreliabilität sichergestellt werden konnte, waren es doch zwei Autoren, die das Kommunikationsmaterial unabhängig voneinander kodierten.

4         Ergebnisse der Untersuchung

4.1       Deskriptive Darstellung der Ergebnisse

Im Rahmen der Untersuchung konnten in nahezu allen analysierten Materialeinheiten Ausprägungen in den jeweiligen Kategorien festgestellt werden, wobei auf die Hauptkategorien insgesamt 230 Codierungen entfielen. Davon wurden 142 Textstellen als Koalitionssignal identifiziert, 66 Textstellen mit dem Code „Inhalte“ sowie 22 Passagen mit der Kategorie „Ämter“ codiert.

Die Nennung von Politikinhalten erfolgt hierbei wesentlich häufiger als die Nennung von Ämtern (28,7 Prozent gegenüber 9,57 Prozent). Dies korrespondiert mit der bereits geäußerten Vermutung, dass bei den Überzeugungsversuchen von Parteien gegenüber den Wählerinnen und Wählern primär das Erreichen von inhaltlichen Zielen kommuniziert wird, wohingegen das – in jeder Partei existierende – Streben nach Ämtern in den Hintergrund der Kommunikation gerät. Es sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen, dass die Thematisierung der Ämterfrage über alle Interviews hinweg fast ausschließlich von Seiten der jeweiligen Interviewenden erfolgt. Mit anderen Worten: Von Seiten Christian Lindners wird dieses Thema so gut wie gar nicht aktiv aufgegriffen.

Bei alleiniger Berücksichtigung der jeweiligen Ausprägungen hinsichtlich der jamaika- und ampelbezogenen Koalitionssignale lässt sich feststellen, dass über alle untersuchten Einheiten hinweg im Hinblick auf eine mögliche Ampelkoalition die negativen Koalitionssignale gegenüber den positiven Koalitionssignalen häufiger vorkommen (30 Prozent gegenüber 6,52 Prozent), wohingegen sich bei einer möglichen Jamaikakoalition die umgekehrte Situation, also ein Überwiegen von positiven Koalitionssignalen gegenüber ihren negativen Pendants, erkennen lässt (16,52 Prozent gegenüber 8,7 Prozent). Unter Berücksichtigung des Wendepunktes vom 3. September 2021, an welchem die SPD in den Umfragen erstmals vor der CDU/CSU lag, lässt sich eine ähnliche Tendenz erkennen: Vor diesem Datum überwiegen im Hinblick auf eine Ampelkoalition die negativen Koalitionssignale, welche mit 43,6 Prozent deutlich gegenüber den positiven Koalitionssignalen, deren Anteil 9 Prozent beträgt, liegen. Bezüglich einer Jamaikakoalition haben die positiven Koalitionssignale einen Anteil von 32,1 Prozent, wohingegen die negativen Koalitionssignale bei 15,4 Prozent liegen. Nach besagtem Wendepunkt zeigt sich die gleiche Tendenz: Gegenüber einer Ampelkoalition werden überwiegend negative Koalitionssignale ausgesendet (54,7 Prozent gegenüber 12,5 Prozent positiv), gegenüber einer Jamaikakoalition werden überwiegend positive Koalitionssignale ausgesendet (20,3 Prozent gegenüber 12,5 Prozent negativ). Rekurriert man die theoretischen Ausführungen, so widerspricht dieses Ergebnis den dort vorgenommenen Annahmen, da trotz einer zunehmenden Präferenz der Wählerschaft für eine von der SPD geführte Regierung offenbar keine Abkehr der FDP bei den Koalitionssignalen zu erkennen ist.

Abbildung 1: Anteil der positiven und negativen Koalitionssignale bezüglich einer möglichen Jamaika- und Ampelkoalition bis zum 03.09.2021

Abbildung 2: Anteil der positiven und negativen Koalitionssignale bezüglich einer möglichen Jamaika- und Ampelkoalition ab dem 03.09.2021.

4.2       Interpretation der Ergebnisse

4.2.1    Koalitionssignale

Auf den ersten Blick lassen die Ergebnisse – wie im vorangegangenen Kapitel festgestellt – auf keine merkliche Veränderung in der geäußerten Koalitionspräferenz der FDP schließen. Zwar zeigt sich bei einer Zweiteilung des Untersuchungszeitraums in die Zeit vor dem 3. September einerseits und nach dem 3. September andererseits, dass prozentual betrachtet ein deutlicher Anstieg negativer Ampelkoalitionssignale zu verzeichnen ist. Jedoch wäre eine über die Zeit hinweg zunehmende Abkehr von der Ampelkoalition hier ein Fehlschluss, bedenkt man die Tatsache, dass im zweiten Untersuchungszeitraum insgesamt signifikant häufiger die „Ampelkoalition“ kodiert wurde als noch im ersten (67 zu 50 Prozent). Dieser Umstand dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Ampel auf Basis der Umfrageergebnisse immer realistischer und mithin legitimer Gegenstand vermehrter Nachfragen in Interviews wurde. Setzt man also voraus, dass Lindner mit unveränderter Sympathie auf diese Koalition blickt, können diese Zahlen keinen quantitativen Shift anzeigen. Vielmehr lohnt die genauere Betrachtung einer qualitativen Veränderung der Koalitionssignale, also der Art und Weise der jeweils ausgesendeten Signale.

So zeigt sich mit fortschreitendem Untersuchungszeitraum eine Tendenz dahingehend, dass Armin Laschets (CDU) Rolle als Integrator verschiedener Politikinhalte zunehmend in eine negative Richtung gelenkt wird: Zunächst ist es ein „Risiko“, anschließend werden „die Zweifel verstärkt“ und unmittelbar vor der Wahl wird ihm eine „fehlende Durchsetzungskraft“ vorgeworfen. Damit setzt sich das bereits früh von Christian Lindner ausgegebene Ziel, dass die FDP „so stark werden [muss], dass eine schwarz-grüne und eine grün-rot-rote Mehrheitsbildung gleichermaßen ausgeschlossen sind“ (RND 2021), über den gesamten Wahlkampf hinweg fort.

Bezogen auf eine zur Diskussion stehende Ampelkoalition wird das obenstehende Narrativ ebenfalls verwendet und damit ein vermeintlicher „Linksruck“ in der Politik als zu verhinderndes Szenario deklariert. Auch hier lässt sich bei genauerer Betrachtung der einzelnen Aussagen ein inkrementeller Wandel erkennen, wenngleich dieser aufgrund der Tatsache, dass es sich hier um zwei potenzielle Koalitionspartner mit geringerer Koalitionspräferenz seitens der FDP handelt, weniger „euphorisch“ erfolgt. Dementsprechend sind die positiven Koalitionssignale zunächst seltener vorzufinden und auch die Intensität der negativen Signale erscheint zu Beginn stärker ausgeprägt. Im fortschreitenden Verlauf des Untersuchungszeitraums lässt sich jedoch eine Veränderung in Richtung einer deutlicheren Tonlage hinsichtlich der Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit SPD und Grünen feststellen, sodass sich eine größere Gesprächsbereitschaft mit SPD und Grünen als vor dem Wendepunkt vom 3. September 2021 zeigt.

Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass sich die Richtung der jeweiligen Koalitionssignale bezüglich einer Jamaika- bzw. Ampelkoalition zwar nicht quantitativ verändert, jedoch Veränderungen hinsichtlich des qualitativen Faktors festzustellen sind.

Handelt es sich bei den bis hierhin behandelten Aussagen um solche, welche in Kombination mit inhaltlichen Forderungen bzw. Grenzen gesehen werden müssen, so zeigt sich auch hinsichtlich des Regierungsbildungsauftrages eine Veränderung der Koalitionssignale seitens der FDP. Auch hier ist ein Wandel der Aussagen Christian Lindners erkennbar, welche sich den veränderten Umständen anpassen. Insofern sind die veränderten Aussagen Lindners die logische Konsequenz für eine Partei, die sich möglichst viele Koalitionsoptionen offenhalten will. Dies gilt umso mehr, als gerade durch solche nicht präferierenden Aussagen der Handlungsdruck auf Seiten der anderen Parteien steigt und diesen mehr Zugeständnisse abgerungen werden könnten – sei es im Hinblick auf die Durchsetzung von Politikinhalten oder das Ergattern der begehrten Ministerposten.

4.2.2    Inhalte

Bei der Untersuchung der Materialeinheiten waren zwei inhaltliche Forderungen besonders auffällig, weil sie nahezu über alle Interviews hinweg postuliert wurden: Zum einen der Verzicht auf Steuererhöhungen, zum anderen die Einhaltung der Schuldenbremse. Die Formulierungen lassen bereits erahnen, dass es sich bei diesen Themen um nicht verhandelbare Inhalte und damit um elementare Koalitionsbedingungen handelt. Diese von Lindner beschworenen „roten Linien“ bzw. „Leitplanken“ sind nicht verwunderlich, berücksichtigt man deren Stellenwert innerhalb der FDP-Wahlkampagne. Gleichzeitig dienen sie als Abgrenzungselement gegenüber den anderen Parteien: Aus einer koalitionssignalisierenden Betrachtungsweise lassen sie sich als deutliche Signale an CDU/CSU, SPD und Grüne dahingehend verstehen, dass die mögliche Beteiligung an einer Koalition nicht um jeden Preis angestrebt werde – wodurch wiederum ein gewisser Druck auf diese Parteien ausgeübt wird.

Es handelt sich hier um ein Austarieren der Ziele, das Lindner vollführt: Einerseits werden Korridore für eine mögliche Zusammenarbeit aufgezeigt; andererseits wird darauf geachtet, das eigene Profil in Relation zu anderen Parteipositionen weiterhin möglichst trennscharf zu halten. Diese Herausforderung zeigt sich auch im Hinblick auf die Frage, wie die hier behandelten inhaltlichen Forderungen mit den – zweifelsohne bestehenden – Ambitionen nach Ministerposten in Einklang gebracht werden können.

4.2.3    Ämter

Ließ sich die inhaltliche Dimension recht problemlos mit Koalitionssignalen verknüpfen, so war es weitaus schwieriger, die Ämtermotivation der FDP inhaltsanalytisch zu ermitteln – zumal über eine Auswertung öffentlich zugänglicher, teilweise gar redaktionell bearbeiteter Interviews mit dem Spitzenkandidaten der Partei. Folglich war die Erwartung der Autoren, dass potenziell dem office-seeking zuordbare Aussagen in dem hier verwendeten Kommunikationsmaterial seltener, subtiler und vorsichtiger formuliert sein würden als inhaltliche Motivationen.

Bei einer quantitativen Betrachtung scheint sich diese Annahme zu bestätigen: So wurden insgesamt 22 Textstellen mit dem Code „Ämter“ versehen, während dreimal so häufig der Code „Inhalte“ vergeben wurde, der ja gemäß des Codierschemas allein konkrete inhaltliche Aussagen umfasst und keine allgemein formulierten, politisch-ideologischen Leitlinien. Dies lässt den Schluss zu, dass Christian Lindner insgesamt Abstand von der Idee nimmt, seinen Wunsch nach der Besetzung von Regierungsämtern durch FDP-Politikerinnen und -Politiker zu formulieren. Verstärkt wird dieser Eindruck durch zweierlei: Erstens spricht Lindner den Aspekt nie von sich selbst an, sondern reagiert lediglich darauf, wenn er in der Interviewfrage angerissen wurde. Und zweitens finden sich mit wenigen Ausnahmen solche Aussagen unter den kodierten Passagen, die eine Ämtermotivation gerade verneinen oder jedenfalls als nichtig deklarieren wollen.

Während der Untersuchung fiel insbesondere auf, dass Christian Lindner versucht, die vermeintlich nichtige office-seeking-Funktion mit Verweis auf die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen des Jahres 2017 zu untermauern. Hier zeigt sich ein weiteres Narrativ im Umgang mit der office-seeking-Funktion seiner Partei: Dient ihm das Platzenlassen der Jamaika-Sondierungen 2017 als Beweis für eine angeblich nur sekundäre Ämtermotivation der FDP, verneint er die Wichtigkeit des Erlangens von Posten für eine kommende Koalitionsbildung. Dies begründet er mit den Wünschen und Vorstellungen des Elektorats, das in erster Linie an der Durchsetzung inhaltlicher Ziele interessiert sei.

Für die Kategorie „Ämter“ lässt sich mithin Folgendes festhalten: Insgesamt kommt eine Ämtermotivation merklich seltener zur Sprache als Aspekte des policy-seekings. Wird die Ämtermotivation doch angesprochen, dann nur, wenn die interviewende Person darauf rekurriert. Über alle mit „Ämter“ codierten Passagen hinweg lassen sich drei Narrative ausmachen: (1) Es geht um Inhalte, nicht um Karrieren. Das wichtigste Motiv, geht es doch einher mit dem zweiten Narrativ, (2) dem Verweis auf das Scheitern der Jamaika-Sondierungen 2017. Dieses soll nicht als Fehler verstanden werden, sondern gleichsam als Beweis und als Untermauerung seiner Behauptung fungieren, Inhalte stünden immer vor Posten. Und schließlich (3) verweist Lindner wiederholt auf den sogenannten „Wählerwillen“ und meint den Wunsch der Wählerinnen und Wähler, dass inhaltliche Ziele umgesetzt werden.

5         Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Verlauf des Bundestagswahlkampfes 2021 vonseiten der FDP eine Veränderung der Koalitionssignale in Richtung potenzieller Koalitionspartner zu erkennen ist. Es handelt sich jedoch nicht um eine „180-Grad-Wende“, sondern vielmehr um eine inkrementelle Anpassung. Dementsprechend ist eine alleinige Betrachtung des quantitativen Auftretens von Koalitionssignalen insofern irreführend, als dass diese eine kaum veränderte Situation zeigen. Notwendig ist daher eine genauere Untersuchung der qualitativen Dimension der Koalitionssignale. Hierbei lässt sich zunächst konstatieren, dass über den gesamten Untersuchungszeitraum weder eine eindeutige Absage an eine Koalition noch eine ausdrückliche Zusage signalisiert werden. Eine Festlegung wird demnach konsequent vermieden; einzig die Intensität der Signale variiert.

Für eine weitergehende Untersuchung dieser Befunde bietet sich nach Ansicht der Autoren eine tiefergehende Analyse der jeweiligen Koalitionssignale an. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang eine Unterteilung der Signale in verschiedene Intensitätsstufen, beispielsweise in sehr starke und leicht starke positive bzw. negative sowie neutrale Koalitionssignale.

Literaturverzeichnis

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Schreier, Margrit. 2014. Varianten qualitativer Inhaltsanalyse. Ein Wegweiser im Dickicht der Begrifflichkeiten. Forum Qualitative Sozialforschung 15: Art. 18.

Zitationshinweis:

Höpfner, Tom und Aryan Shooshtari (2022): Von Jamaika zur Ampel? Die Veränderung von Koalitionssignalen der FDP im Bundestagswahlkampf 2021, Kurzanalyse, Erschienen auf: regierungsforschung.de. Online Verfügbar: https://regierungsforschung.de/von-jamaika-zur-ampel/

This work by Tom Höpfner and Aryan Shooshtari is licensed under a CC BY-NC-SA license.

  1. Gemeint sind FDP und Grüne. []

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